Die juristische Presseschau vom 18. bis 19. Mai 2023: BVerfG zu Berlin-Wahlen / Pro­zess­auf­takt gegen Ums­turz­pläne / Anklage wegen Link nicht zuge­lassen

19.05.2023

Das BVerfG sieht sich grundsätzlich nicht für Wahlfragen der Bundesländer zuständig. OLG Koblenz verhandelt Anklage wegen Umsturzplänen der Vereinten Patrioten. Anklage gegen Redakteur von Radio Dreyeckland wurde nicht zugelassen.

Thema des Tages

BVerfG zu Wahlen in Berlin: Das Bundesverfassungsgericht veröffentlichte nun seine Begründung zu dem vom 25. Januar stammenden Beschluss, der einen Eilantrag von mehr als 40 Berlier Bürger:innen gegen die Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ablehnte. Dem Zweiten Senat des BVerfG zufolge war der Eilantrag unbegründet, weil die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache mangels Zuständigkeit des BVerfG für Länderwahlen unzulässig ist. Die grundgesetzliche Konzeption des Föderalismus sieht vor, dass den Ländern "eigenständige Verfassungsbereiche" zustehen, die auch das Wahlrecht umfassen, sodass grundsätzlich auch nur die Landesverfassungsgerichtsbarkeit den Bürger:innen Wahlrechtsschutz bei Landeswahlen gewähren kann. "Solange die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und insbesondere die Regelung und Tätigkeit ihrer mit Aufgaben des Wahlrechtsschutzes betrauten Verfassungsgerichtsbarkeit den Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG genügt" greift daher keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung von Wahlentscheidungen in den Ländern. In lediglich einzelnen Verfassungs- und Rechtswidrigkeiten ist noch kein systematischer Verstoß zu sehen, der eine Verletzung des Homogenitätsgebots begründen könnte. Es berichten LTO (Annelie Kaufmann), taz.de (Christian Rath) und spiegel.de (Swantje Unterberg/Dietmar Hipp).

Rechtspolitik

Zeugnisverweigerung für Sozialarbeiter:innen: Das Land Sachsen hat eine Bundesratsinitiative beschlossen, die die Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechts gem. § 53 StPO auf Sozialarbeiter:innen fordert. Außerdem gibt es ein zivilgesellschaftliches Bündnis mit dieser Forderung, zu dem sich neun Berufsverbände aus der sozialen Arbeit zusammengeschlossen haben. Anlass des Berichts der taz (Moritz Müllender) ist die Vorladung von drei Sozialarbeitern, die in einem Fußball-Fanprojekt arbeiten, durch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe.

Bundestags-Wahlrecht: Einige CDU-Politiker:innen äußerten sich faz.net (Helene Bubrowski) gegenüber kritisch zu den Vorschlägen des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD), das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre zu senken. Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, sagte, dass es nicht nachvollziehbar sei, warum junge Menschen die "Geschicke unseres Landes" mitbestimmen sollen, wenn sie "in anderen Bereichen nicht für reif genug erachten werden."

Bundespolizeigesetz: netzpolitik.org (Constanze Kurz/Markus Reuter) fasst den Entwurf eines neuen Bundespolizeigesetzes zusammen, den das Bundesinnenministerium vergangene Woche vorstellte. Der Gesetzentwurf sieht eine Ausweitung der Überwachung der Telekommunikation, die Erlaubnis des Einsatzes von Drohnen und die Einführung einer Kennzeichnungspflicht von Polizist:innen vor. Das Projekt ist im Bundesrat zustimmungspflichtig.

Justiz

OLG Koblenz – Umsturzpläne/Vereinte Patrioten: Am Mittwoch begann vor dem Oberlandesgericht Koblenz der Prozess gegen fünf Angeklagte, die den Kern der dem Reichsbürger-Milieu entstammenden extremistischen Gruppe "Vereinte Patrioten" bilden. Die 75-jährige Frau und die vier Männer im Alter von 44 bis 56 Jahren sollen geplant haben, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu entführen, durch Angriffe auf die Strominfrastruktur bürgerkriegsähnliche Zustände in Deutschland zu schaffen und die Regierung abzusetzen, um letztlich die Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1871 verkünden zu lassen. In den kommenden Monaten wird das OLG Koblenz die genauen Pläne und die Beiträge der Angeklagten herausarbeiten. Es berichten FAZ (Timo Steppat), SZ (Annette Ramelsberger), taz (Christoph Schmidt-Lunau), LTO, zeit.de und tagesschau.de (Frank Bräutigam). In einem separaten Beitrag portraitiert zeit.de (Manuel Bogner) die fünf Angeklagten.

LG Karlsruhe zu Radio Dreyeckland: Das Landgericht Karlsruhe hat die Anklage wegen Unterstützung einer verbotenen Vereinigung gegen einen Redakteur des Freiburger Alternativsenders Radio Dreyeckland nicht zugelassen. Ihre Anklage hatte die Staatsanwaltschaft damit begründet, dass der Redakteur in einem Artikel über die verbotene linksextremistische Plattform linksunten.indymedia die Archivseite der Plattform verlinkt hatte. Das LG Karlsruhe stellte klar, dass die Verlinkung einer umstrittenen Website im Rahmen der Berichterstattung nur ein neutraler Hinweis und keine Fürsprache ist. Kritische Berichterstattung über das Verbot der Plattform sei keine Unterstützung des verbotenen Vereins. Die Strafnormen müssen im Lichte der Presse- und Rundfunkfreiheit ausgelegt werden. Zudem habe die Staatsanwaltschaft nicht belegt, dass die verbotene Vereinigung überhaupt fortgeführt wird – die Archivseite sei keine Vereinigung. Es berichten taz (Christian Rath), LTO, netzpolitik.org (Markus Reuter) und spiegel.de.

EuGH zu Widerrufsrecht: Unterlässt es ein Unternehmen, die Verbraucher:innen über ihr Widerrufsrecht zu belehren, so hat das Unternehmen auch bei bereits erbrachter Leistung keinen Anspruch auf Wertersatz, sollte die Verbraucher:in das Widerrufsrecht ausüben. Der Europäische Gerichtshof begründete seine am Mittwoch ergangene Entscheidung damit, dass nur so ein umfassender Schutz von Verbraucher:innen auf hohem Niveau gewährleistet werden kann, der auch gegenüber dem Verbot der ungerechtfertigten Bereicherung Vorrang genießt. Das Landgericht Essen hatte dem EuGH die Frage zur Auslegung von Art. 14 Abs. 5 der Verbraucherschutzrichtlinie vorgelegt. LTO berichtet.

EuG zu RWE/E.ON-Deal: Das Europäische Gericht wies wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit elf Klagen gegen die fusionskontrollrechtliche Freigabe der EU-Kommission von Geschäften zwischen RWE und E.ON im Rahmen der Zerschlagung des RWE-Tochterunternehmens Innogy ab. Die Kommission hat nach Ansicht des EuG ausreichend geprüft, dass die insgesamt 40 Milliarden Euro schweren Geschäfte rechtmäßig sind. RWE erwarb zunächst Kraftwerke von E.ON, später erfolgte unter anderem die Eingliederung der Sparten Vertrieb und Netz von Innogy in den E.ON-Konzern. Schließlich beteiligte sich RWE am E.ON-Konzern. faz.net (Marcus Jung) und LTO (Stefan Schmidbauer) geben die Begründung des EuG wieder, wonach es bei den drei genannten Zusammenschlüssen an einer funktionellen Verbindung fehlt, sodass der Tausch von Vermögenswerten zu keiner unzulässigen Einschränkung des Wettbewerbs führt.

BGH zu Olearius-Tagebüchern: Wolfgang Krach (SZ) begrüßt das Urteil des Bundesgerichtshofs von Dienstag, wonach das wörtliche Zitieren aus den beschlagnahmten Tagebüchern des Bankiers Christian Olearius durch die Süddeutsche Zeitung nicht strafbar war. "Selten haben deutsche Richter eine komplizierte juristische Gemengelage so schnörkellos zugunsten der Pressefreiheit entschieden", so Krach. 

BVerwG zu Corona/Betriebsschließungen: Anlässlich der am Dienstag ergangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von coronabedingten Betriebsschließungen während der zweiten Pandemiewelle kritisiert Benjamin Stibi (Welt), dass das BVerwG sich "wieder weggeduckt" habe und "unkritisch die Karlsruher Erzählung fortführt, wonach Regierung und Parlament im November 2020 partout zu wenig über die Pandemie gewusst und daher einen quasi uferlosen Spielraum gehabt hätten". Stibi befürchtet, dass sich das BVerwG bei der kommenden Prüfung coronabedingter Einschränkungen der Versammlungsfreiheit ebenfalls einer "juristischen Aufarbeitung der Corona-Krise" versperren wird.

BGH – Energiecharta/§ 1032 ZPO: Am Mittwoch verhandelte der Bundesgerichtshof über drei Klagen zur Frage, inwieweit deutsche Gerichte gem. § 1032 ZPO über die Zuständigkeit von Schiedsgerichten für Investorenklagen aufgrund der Energiecharta entscheiden können. Der BGH tendiert dazu, den Klagen von Deutschland und den Niederlanden, die solche Schiedsverfahren von Kohle- und Windkraft-Firmen verhindern wollen, stattzugeben. Der BGH stützt sich auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der Schiedsverfahren für unzulässig hält, wenn Unternehmen aus EU-Staaten gegen andere EU-Staaten klagen. Das Urteil wird am 27. Juli verkündet. Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch) und die taz (Christian Rath).

VGH Bayern zu Information über Strafbefehle: Am Montag gab der Bayrische Verwaltungsgerichtshof dem Auskunftsanspruch eines Journalisten statt, der die Veröffentlichung eines Strafbefehls begehrte. Demnach seien auch Strafbefehle von der Rechtspflicht zur anonymisierten Publikation von Gerichtsentscheidungen, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse haben könnte, erfasst, weil dadurch die Transparenz des Rechtsstaats gewährleistet wird, wie LTO schreibt.

LG Hamburg zu Untreue/Grünen-Politiker: Das Landgericht Hamburg verurteilte den ehemaligen Bezirkspolitiker Michael Osterburg (Grüne) wegen gewerbsmäßiger Untreue, Betrug und Urkundenfälschung zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Osterburg hatte diverse private Ausgaben, unter anderem Milchaufschäumer, Kinderkopfhörer, Restaurantbesuche und Muttertagsblumen, in Höhe von insgesamt 33.000 Euro auf Kosten der Grünenfraktion im Bezirk Hamburg-Mitte abgerechnet. Osterburg ist ehemaliger Lebensgefährte der Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne). taz-nord (Gernot Knödler) und spiegel.de (Julia Jüttner) berichten.

LG Leipzig zu Online-Drogenshop Candylove: Im Prozess um den Online-Drogenshop "Candylove" verkündete das Landgericht Leipzig nun ein Urteil. Maximilian Schmidt, bekannt als "Kinderzimmerdealer" aus der Netflix-Doku "Shiny Flakes", muss wegen des erneuten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge für viereinhalb Jahre in Haft. Für Friedemann G. kommt es durch die Bildung einer Gesamtstrafe zu einer Haftdauer von fünf Jahren und elf Monaten. Hingegen sprach das LG Leipzig den angeklagten Rechtsanwalt R. frei, weil es bezüglich abgehörter Telefongespräche zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandaten G. Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote annahm. Es berichten LTO (Linda Pfleger), spiegel.de und bild.de.

LAG Düsseldorf zu ausgestrecktem Mittelfinger: Rechtsprofessor Arnd Diringer stellt im Expertenforum Arbeitsrecht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom April 2022 vor, wonach zwar grundsätzlich das Zeigen des Mittelfingers einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen kann. Dies gelte aber nur dann, wenn die abwertende Geste gegen die Arbeitgeber:innen gerichtet ist.

Beruf als Richter:in: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer erläutert auf LTO, warum die Laufbahn als Richter:in trotz der vergleichsweise schlechten Bezahlung und "unabsehbarer Aufstiegschancen" erstrebenswert ist: "Die Vorzüge der Richterposition sind spektakulär: Unabhängigkeit! Zeit! Selbstverantwortung!" Obwohl sowohl das Richter:in-Werden als auch das Richter:in-Sein nicht einfach sind, gibt es, so Fischer, "nur sehr wenige Berufe, die ähnlich bedeutsam, wirkmächtig und verantwortungsvoll sind."

Recht in der Welt

Türkei – Haftbefehl Yücel: Ein türkisches Gericht hat einen Haftbefehl gegen den deutschen Journalisten Deniz Yücel (Welt) im Rahmen eines Strafverfahrens wegen der Beleidigung des Präsidenten und der Verunglimpfung des türkischen Staates und der Justiz erlassen, weil Yücel den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als "Putschisten" bezeichnet hatte. Im Oktober soll der Strafprozess fortgeführt werden. Yücel wurde bereits 2020 in Abwesenheit wegen Terrorpropaganda zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt, nachdem er 2017 ein Jahr in Untersuchungshaft saß. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügte 2022 das Vorgehen der Türkei wegen Verletzung der Rechte auf Freiheit, auf Sicherheit und auf freie Meinungsäußerung. Es berichten SZ, FAZ (Claudius Seidl), Welt (Daniel-Dylan Böhmer), zeit.de und bild.de.

USA – Tiktok-Verbot: Montana verbietet als erster US-Bundestaat ab dem 1. Januar 2024 die Nutzung der Video-App Tiktok, um die "persönlichen und privaten Daten der Menschen in Montana vor der Kommunistischen Partei Chinas zu schützen", so Montanas Gouverneur Greg Gianforte (Republikanische Partei). Nach dem nun verabschiedeten Gesetz wird das Anbieten der App in den App-Stores mit einer Geldbuße in Höhe von 10.000 Euro pro Tag geahndet. Es berichten taz, HBl, zeit.de und spiegel.de.

USA – Deutsche Bank/Epstein: Die Deutsche Bank stimmt einem Vergleich zu und verpflichtet sich zu einer Zahlung in Höhe von 75 Millionen Dollar, um die Sammelklage mehrerer Frauen vor dem Bundesbezirksgericht New York beizulegen. Die Frauen hatten der Deutschen Bank, die Jeffrey Epstein von 2013 bis 2018 als Kunde betreute, vorgeworfen, durch den Sexhandelsring von Epstein finanzielle Vorteile erlangt zu haben und den Missbrauch junger Frauen durch den Anschein von Legitimität begünstigt zu haben. Es berichten FAZ (Archibald Preuschat), SZ (Meike Schreiber), Handelsblatt (Yasmin Osman) und spiegel.de.

Sonstiges

Fake-Onlinerezensionen: Die Rechtsanwälte Constantin Rehaag und Carsten Goldstein setzen sich auf LTO mit manipulierten Produkt- und Dienstleistungsrezensionen im Internet und daraus möglicherweise resultierenden Haftungsfragen auseinander. Falsche Bewertungen können sowohl zu zivilrechtlicher Schadensersatzhaftung als auch zu strafrechtlichen Betrugsverfahren führen.

Honig: Rechtsanwältin Barbara Klaus gibt auf LTO einen Überblick über das erstaunlich weitgehend regulierte Honigrecht. Honig ist eine durch eine EU-Richtlinie und die deutsche Honigverordnung geschützte Bezeichnung, die nur solche Produkte tragen dürfen, denen keine Zusatzstoffe wie Aromen, Zucker und Wasser beigemischt werden. Sanktionen für Verstöße gegen dieses "Honig-Reinheitsgebot" und weitere gesetzliche Vorgaben können sich sowohl gegen Hersteller:innen als auch gegen Importeur:innen richten.

Anwält:innen für den Mittelstand: Laut FAZ (Marcus Jung) setzte der Kreis der 50 umsatzstärksten Mittelstandsberater-Kanzleien 2022 die Summe von 2,8 Milliarden Euro um, eine Steigerung um 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 

Das Letzte zum Schluss

66-jährige Vandalin: Im bayrischen Nördlingen ermittelte die Polizei eine 66-Jährige, die für diverse Vandalismus-Straftaten mit einem Schaden von 15.000 Euro verantwortlich sein soll. Aus Ärger über die Nachbarschaft – so die Begründung der geständigen Seniorin – hatte sie Eier an Hauswände geworfen, Fassaden und Autos mit Farbe beschmiert sowie Türschlösser verklebt, wie spiegel.de und bild.de melden.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/lh/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. bis 19. Mai 2023: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51809 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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