Olaf Scholz beruft sich im AKW-Streit auf die grundgesetzliche Richtlinienkompetenz. Münchener Amtsrichter legt verschärfte Kinderpornographie-Strafnorm dem BVerfG vor. Wie Angeklagte sich den Ort ihres Strafvollzugs aussuchen können.
Thema des Tages
Richtlinienkompetenz/AKW-Streckbetrieb: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz offiziell an die Bundesminister:innen Steffi Lemke (Grüne), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) gewandt, die nun eine gesetzliche Grundlage dafür schaffen müssen, den Leistungsbetrieb aller drei noch laufenden Atomkraftwerke bis längstens zum 15. April 2023 zu ermöglichen. Auf dem Verfassungsblog erklärt Rechtsprofessor Alexander Thiele die in Art. 65 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerte Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Er könne von ihr in Fragen von "fundamentaler Bedeutung für das Gemeinwesen" Gebrauch machen. Eine solche Frage liege hier vor. Wenn der Kanzler von der Richtlinien-Kompetenz Gebrauch macht, müsse das Ressortprinzip zurückstehen. Sollte die für die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes federführende Umweltministerin Steffi Lemke eine Umsetzung verweigern, könnte Scholz sie entlassen und ersetzen. Thiele geht aber davon aus, dass die Richtlinie mit den betroffenen Minister:innen abgesprochen war, die so gegenüber ihren Parteien entlastet werden. Die Bindungswirkung der Richtlinie besteht allerdings nur regierungsintern, sodass die Abgeordneten des Bundestags im Gesetzgebungsverfahren weiterhin nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Kanzler Scholz könnte den Druck allenfalls dadurch erhöhen, dass er die Abstimmung über das notwendige Gesetz mit einer Vertrauensfrage nach Art. 68 GG verbindet.
Rechtspolitik
Sanktionen gegen Russland/Rechtsberatung: Auf dem Verfassungsblog setzt sich Rechtsanwalt Matthias Birkholz mit der Kritik von BRAK und DAV zum kürzlich in Kraft getretenen 8. EU-Sanktionspaket auseinander, das auch ein Verbot der Rechtsberatung für die russische Regierung sowie in Russland niedergelassene juristische Personen vorsieht. Dies könne zwar wirtschaftliche Interessen berühren, rechtfertige es aber nicht, "den Untergang des Rechtsstaats herbeizubeschwören". Die Rolle der Anwaltschaft als "Organ der Rechtspflege" helfe hier nicht weiter. Sie bringe lediglich zum Ausdruck, dass die Tätigkeit der Anwaltschaft in gerichtlichen Verfahren und gegenüber staatlichen Stellen geschützt sei. Diese Bereiche seien aber von vornherein vom Beratungsverbot ausgeschlossen.
Whistleblowing: Wenige Monate vor dessen Inkrafttreten gibt das Hbl (Alexander Pradka) einen Überblick über das geplante Hinweisgeberschutzgesetz. Zentral sei die Verpflichtung für Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden, eine Meldestelle einzurichten. Der Begriff des Mitarbeitenden gehe dabei weiter als der deutsche Arbeitnehmerbegriff und umfasse etwa auch Praktikanten und Geschäftsführerinnen. Neu sei auch die Beweislastumkehr, die Arbeitgebenden den Nachweis auferlegt, dass beispielsweise eine Abmahnung oder Kündigung gerade nicht Folge des Hinweises zu einem Missstand ist.
Künstliche Intelligenz: Die Europäische Kommission hat den Entwurf zur "Artificial Intelligence Liability Directive" auf den Weg gebracht. In der Richtlinie sollen Haftungsregeln im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz (KI) modernisiert werden und Verbraucherrechte gestärkt werden. Zentral ist dabei die Beweislastumkehr, dass Verbraucher:innen künftig bei Schäden durch fehlerhafte KI (etwa bei Drohnen oder Smart-Home-Systemen) nicht mehr nachweisen müssen, dass der Schaden auf einen Fehler des Herstellers zurückzuführen ist. Das Hbl berichtet.
Justiz
BVerfG – Kinderpornografie: Der Einzelrichter Robert Grain des Amtsgerichts München hat ein Verfahren nach § 184b Strafgesetzbuch (StGB) wegen Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Inhalte ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Die Strafnorm ist 2021 zum Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr hochgestuft worden, sodass Einstellungen nach §§ 153, 153a Strafprozessordnung (StPO) nicht mehr möglich sind. In dem Normenkontroll-Antrag, der LTO (Joschka Buchholz) vorliegt, macht der Richter geltend, dies und das Fehlen eines minder schweren Falles verstoße gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot. Wer, wie die im Ausgangsverfahren angeklagte Mutter, ohne pädosexuellen Hintergrund kinderpornographisches Material etwa aus Empörung an andere Eltern weiterleite, dürfe nicht nach § 184b StGB bestraft werden.
Wunsch-JVA: Laut Strafvollstreckungsordnung richtet sich der Ort des Strafvollzuges nach dem Wohnsitz im Zeitpunkt des Urteilsspruchs. Dies können Straftäter:innen nutzen und sich durch rechtzeitige Ummeldung gewissermaßen die JVA aussuchen, in der sie ihre Strafe absitzen wollen. Sie werden auch von Strafverteidiger:innen entsprechend beraten. Für Frauen biete die zB die JVA Vechta mit ihrem großen Angebot an Malkursen und dem Sportangebot gute Bedingungen. Männer hingegen kommen in der JVA Euskirchen häufig früh in den offenen Vollzug. sz.de (Ronen Steinke) berichtet.
VG Berlin zu Begnadigungen des Bundespräsidenten: Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun das Urteil veröffentlicht, mit dem es vorige Woche ein Auskunftsgesuch des Portals FragDenStaat zur Begnadigungspraxis des Bundespräsidenten abgelehnt hatte. Das Begnadigungsrecht stelle kein Verwaltungshandeln dar, sondern unterliege einer besonderen Gestaltungsmacht des Bundespräsidenten, der insofern auch keine auskunftspflichtige Stelle im Sinne des Presserechts sei. Das VG hat allerdings die Berufung gegen das Urteil zugelassen. LTO berichtet.
OLG Frankfurt/M. zu Luxusgeschenken: Bei einem entsprechenden Lebensstil sind auch hochpreisige Geschenke nach dem Ende einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft dem Partner nicht zu erstatten. Dies entschied das Oberlandesgericht Frankfurt/M. in einem Fall, in dem der Mann seiner Partnerin Luxusgeschenke machte und ihr über zehn Monate seine Kreditkarte überließ, mit der sie gut 100.000 Euro ausgab. Den für einen Widerruf erforderlichen "groben Undank" der beschenkten Frau konnte das Gericht laut LTO nicht erkennen. Mit einer Trennung müsse man immer rechnen. Auch der Wert der Geschenke führe angesichts des generell luxuriösen Lebensstils der beiden nicht zu einer anderen Wertung.
LG Leipzig – Gil Ofarim: Das Landgericht Leipzig hat den für den 24. Oktober geplanten Beginn der Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen den Musiker Gil Ofarim auf unbestimmte Zeit verschoben, um mehr Zeit für die Anträge der Verteidiger gegen bisherige Kammer-Entscheidungen zu haben. Damit solle auch der von den Verteidigern erhobene Vorwurf eines Promi-Malus für Ofarim widerlegt werden. Außerdem habe der Nebenkläger kurzfristig noch einen Adhäsions-Antrag gestellt. Das Gericht regte an, diese "Zeit des Innehaltens" auch für den Versuch eines Täter-Opfer-Ausgleichs zumindest für die Ofarim vorgeworfenen Ehrdelikte zu nutzen. Wegen der Auslastung mit Haftsachen sei mit einer Neu-Terminierung frühestens in einem halben Jahr zu rechnen. Es berichten u.a. FAZ (Stefan Locke) und LTO.
LG Frankfurt/M. – OB Peter Feldmann: Am heutigen Dienstag beginnt der Prozess gegen den Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD), der sich wegen des Verdachts der Vorteilsnahme verteidigen muss. Er soll seiner damaligen Lebensgefährtin und heutigen Ehefrau bei der Arbeiterwohlfahrt eine gut dotierte Stelle als Kita-Leiterin verschafft haben, für die ihr auch ein Dienstwagen gestellt wurde. Die FAZ (Rainer Schulze) berichtet vorab.
LG Kaiserslautern – Polizistenmorde von Kusel: Im Prozess um die tödlichen Schüsse auf zwei Polizist:innen bei Kusel in Rheinland-Pfalz haben sich die beiden Angeklagten gegenseitig belastet. Der 33-jährige Mitangeklagte Florian V. äußerte sich laut spiegel.de nun erstmals im Prozess und erklärte, selbst nicht geschossen zu haben und selbst "abartige Angst" vor dem Angeklagten S. gehabt zu haben. Dieser entgegnete in einer Einlassung, V. habe in seinen Vernehmungen "mindestens 195 Mal gelogen" und widersprüchliche Aussagen gemacht.
LG Berlin – Abou Chaker/Bushido: Im Prozess gegen Arafat Abou-Chaker geht es weiter um eine heimlich aufgenommene Tonaufnahme, die beweisen soll, dass der Clan-Chef seinen Geschäftspartner Bushido nicht bedroht und weder Flasche noch Stuhl nach ihm geworfen hat. Ob die Aufnahme authentisch ist oder (wie Bushido behauptet) manipuliert, konnte an diesem Prozesstag, für den Bushido aus seiner neuen Wahlheimat Dubai angereist ist, nicht geklärt werden. Ein Gutachten hierzu wird erst in zwei bis drei Monaten vorliegen. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.
LG Frankfurt/M. – Cum-Ex/Maple-Bank: Im Cum-Ex-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt/M. im Zusammenhang mit der Maple Bank hat die Verteidigung der angeklagten Banker plädiert und milde Strafen gefordert. Insbesondere Andreas H. habe umfangreich zur Aufklärung der Taten beigetragen. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.
AG Pirna zu "Ungeimpft"-Stern und Volksverhetzung: Das Amtsgericht Pirna hat einen Mann, der einen Judenstern mit der Aufschrift "Ungeimpft" in sozialen Netzwerken postete, vom Vorwurfe der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 3 Strafgesetzbuch (StGB) freigesprochen. Der geschmacklose Vergleich sei nicht geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. Wie LTO ausführt, räumte das Gericht ein, dass andere Gerichte über vergleichbare Vorwürfe auch schon anders geurteilt hatten. Die Staatsanwaltschaft hat Rechtsmittel eingelegt.
EUStA – Impfstoffkäufe: Die Europäische Staatsanwaltschaft führt Ermittlungen über den Erwerb von Covid-19-Impfstoffen in der Europäischen Union. Wozu genau ermittelt wird, ist laut LTO noch unklar. Die Einkäufe standen jedoch immer wieder wegen fehlender Transparenz in der Kritik; insbesondere ein milliardenschwerer Deal mit Biontech/Pfizer vom Frühjahr 2021, bei dem ein persönlicher Kontakt der Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit dem Pfizer-Chef entscheidend gewesen sei.
Sommermärchen-Prozesse: Der frühere Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Theo Zwanziger, hat gegen etliche an dem Steuerhinterziehungs-Verfahren gegen ihn beteiligte Staatsanwält:innen und Richter:innen der hessischen Justiz und Beamt:innen der hessischen Steuerfahndung Strafanzeige wegen Rechtsbeugung, der Verfolgung Unschuldiger und Untreue erstattet. Die an Anklage und Verfahrenseröffnung Beteiligten hätten eine bereits verjährte einfache Steuerhinterziehung wider besseres Wissen als schweren Fall behandelt. Die FAZ (Christoph Becker) berichtet.
Recht in der Welt
USA – Steve Bannon: Im Verfahren gegen den bekannten US-Rechtspopulisten und früheren Präsidentenberater Steve Bannon wegen Missachtung des Kongresses hat die Staatsanwaltschaft eine sechsmonatige Freiheitsstrafe sowie eine Geldstrafe von 200.000 Dollar (rund 206.000 Euro) gefordert. spiegel.de berichtet.
USA – Discovery-Pflichten: Im FAZ-Einspruch erläutern die Rechtsanwält:innen Anke Sessler und Max Stein eine Entscheidung des US-Supreme Courts, wonach in Schiedsverfahren nicht auf auf die Beweisbeschaffung im Rahmen der sogenannten "Discovery" nach US-Recht zurückgegriffen werden kann. Schiedsgerichte seien mangels staatlicher Hoheitsgewalt keine Tribunale im Sinne des US-Rechts. Vor nationalen Gerichten bestünden jedoch noch viele Anwendungsmöglichkeiten der Discovery, weshalb die Autor:innen global agierenden deutschen Unternehmen raten, ihr gesamtes Dokumentenmanagement auf die Vermeidung von Herausgabepflichten auszurichten. Die Unternehmen sollten sich dringend anwaltlichen Rat holen.
Sonstiges
Literarischer Kommentar zum Grundgesetz: Nun bespricht auch Rechtsprofessor Christoph Möllers in der FAZ den von Georg M. Oswald herausgegebenen literarischen Kommentar zum Grundgesetz. Das Buch leide daran, dass es seine Konzeption nicht konsequent umsetzt und auch prominente Jurist:innen einbezieht, die dann aber nur politische Bildung betreiben. Außerdem sei der Kommentar zu sehr auf die Grundrechte fixiert, bei der Staatsorganisation würden nicht mehr konkrete Artikel, sondern ganze Normblöcke bearbeitet. Für Möllers liegt der Reiz des ungewöhnlichen Konzepts in der Beliebigkeit der Beiträge, deren ungeplante Art mal zu Freude mal zu Enttäuschung führe, die aber dennoch oft anregend seien.
Christian Rath (taz) schreibt: Wer sich wirklich für das Grundgesetz interessiere, solle sich an die Beiträge der kommentierenden Jurist:innen halten. Die Beiträge der Schriftsteller:innen befassten sich meist nur mehr oder weniger assoziativ mit den Themen der jeweiligen Verfassungsbestimmungen. Sie seien auch nur teilweise interessant. Höhepunkt für den Autor ist der Beitrag der Publizistin Hilal Sezgin, die die menschenfixierte Verfassungsordnung kritisiert und "Grundrechte für Tiere" einfordert. Hier werde eine fulminante Gegenposition zum Grundgesetz bezogen, was man von Schriftsteller:innen öfter erwartet hätte.
Cum-Ex: Anfang des Jahres erschien das Buch "Unter den Augen des Staates", mit dem der WDR-Journalist Massimo Bognanni das kriminelle Phänomen "Cum-Ex" einem breiten Publikum zugänglich machen will. Marcus Jung (FAZ) findet in seiner Rezension, dass dies gelungen sei und das Buch insbesondere von seiner klaren Struktur und den Perspektivwechseln profitiere.
Telegram: Das Bundesamt für Justiz (BfJ) hat Bußgelder in Höhe von 5,1 Millionen Euro gegen den Messengerdienst Telegram wegen Verstößen gegen das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) verhängt. Wie LTO berichtet, beruhen diese im Wesentlichen darauf, dass Telegram keinen Meldeweg für Internet-Kriminalität bereithält und in Deutschland keine ladungsfähige Anschrift benennt.
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LTO/jpw
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Die juristische Presseschau vom 18. Oktober 2022: . In: Legal Tribune Online, 18.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49909 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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