Die Mehrheit der chilenischen Wähler:innen hat gegen die neue Verfassung gestimmt. Die DUH klagt gegen das Klimaschutz-Sofortprogramm für den Verkehrssektor. Das OLG Frankfurt/M. hält einen Ford Mondeo für zumutbar.
Thema des Tages
Chile – neue Verfassung: In Chile haben 62 Prozent der Wähler:innen gegen den Entwurf einer neu ausgearbeiteten Verfassung gestimmt. Aufgrund der Wahlpflicht nahmen mehr als 13 der insgesamt 15 Millionen Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teil. Der Verfassungsentwurf war eine Folge der Sozialproteste von 2019. Ein Jahr später sprachen sich die Chilen:innen mit 78-prozentiger Mehrheit für die Schaffung einer neuen Verfassung aus, die die bisherige extrem wirtschaftsfreundliche Verfassung aus der Ära von Diktator Pinochet ersetzen sollte. Die gewählte verfassungsgebende Versammlung wurde dann von der Linken dominiert. Sie erstellte einen Entwurf, der in 388 Artikeln viele fortschrittliche Forderungen aufgriff, etwa Frauenquoten und größere Autonomie für die indigene Bevölkerung, damit aber die noch weitgehend konservative Bevölkerung erschreckte. Chiles linker Präsident Gabriel Boric kündigte an, er wolle einen zweiten Entwurf ausarbeiten lassen. Es berichten SZ (Christoph Gurk), taz (Sophia Boddenberg), FAZ (Tjerk Brühwiller), LTO und spiegel.de.
Christoph Gurk (SZ) weist darauf hin, dass in den 388 Artikeln vieles sehr schwammig und umstritten war. So sah der Entwurf ein Recht auf gesunde Ernährung und ein Recht auf Müßiggang vor. Gleichzeitig schrieb Artikel 61 vor, dass der Staat Abtreibungen ermöglichen muss, die zuvor ausnahmslos verboten waren. Es sei daher nicht verwunderlich, dass viele Konservative sich mit diesem Entwurf "nicht identifizieren" konnten. Tim Niendorf (faz.net) betont, dass das Ergebnis des Referendum keine Folge einer übermächtigen rechten Medienkampagne war, wie die Linke behauptet. Immerhin habe vor kurzem noch der Linke Boric die Präsidentenwahl gewonnen. Nun müssten alle aufeinander zugehen, damit das Projekt einer neuen Verfassung noch gelinge.
Rechtspolitik
Corona - Schutzmaßnahmen Herbst/Winter: In einem Gastbeitrag auf spiegel.de äußern der Ex-Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Peter Dabrock und der Gerontologe Andreas Kruse Zweifel an den geplanten Verschärfungen im Infektionsschutzgesetz für Krankenhäuser und Pflegeheime. Der Entwurf will den Zugang zu diesen Institutionen nur mit Tests erlauben und schreibt innerhalb der Gebäude eine allgemeine Maskenpflicht für Bedienstete, Bewohner:innen, Patient:innen und Besuchende vor. Ausnahmen von der Maskenpflicht seien nur für die privaten Wohnräume in Pflegeheimen vorgesehen. Die Maskenpflicht in diesen Einrichtungen solle zwar das Ziel verfolgen, Todesfälle, schwere Verläufe und die Überlastung der Infrastruktur und Kliniken zu vermeiden, dennoch führe sie zu "ethisch und rechtlich inakzeptablen Grundrechtseinschränkungen".
Laut spiegel.de soll der Bundestag an diesem Donnerstag die Coronabestimmungen im Infektionsschutzgesetz für den Herbst beschließen. Es zeichnen sich noch kurzfristige Änderungen ab, wonach die zunächst bundesweit vorgesehene Maskenpflicht in Flugzeugen gestrichen werden soll. Weiterhin soll festgelegt werden, dass außer in Fernzügen, Kliniken und Pflegeheimen eine FFP2-Maskenpflicht auch für Arztpraxen gilt.
Über- und Zufallsgewinne: Auf LTO befasst sich Ex-Bundesrichter Thomas Fischer mit der Frage, ob das von der Ampel-Koalition geplante Abschöpfen von Zufallsgewinnen, die Unternehmen aufgrund des Ukraine-Kriegs realisieren, ein adäquates und gerechtes Staatshandeln ist. Seiner Meinung nach können Marktgewinne von Unternehmen, die auf Umständen beruhen, die bei anderen zu "Bedrückung" führen, nicht schon deshalb als "ungerecht" und "unmoralisch" betitelt werden. Damit werde sonst die Grundregel des Marktsystems in Frage gestellt, dessen "Philosophie und Mechanismus" jedoch gerade auf "Ungleichgewichten und Ungleichzeitigkeiten" basiere.
Die SZ (Michael Bauchmüller/Björn Finke) fasst in einem Frage-Antwort-Stil die wichtigsten Fakten zum Thema "Zufallsgewinne" zusammen.
Justiz
OVG Berlin-BB – Klimaschutz/Verkehr: Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Klage gegen das Klimaschutz-Sofortprogramm für den Verkehrssektor eingereicht, das Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) am 12. Juli vorgestellt hat. Das Programm verstoße gegen das Klimaschutzgesetz des Bundes, weil es nicht sicherstelle, dass die Obergrenzen an CO2-Emissionen "für die folgenden Jahre" eingehalten werden können. In den Jahren bis 2030 müssten im Verkehrssektor 271 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, während Wissings Programm nur Einsparungen von 13 Millionen Tonnen CO2 vorsieht. Die DUH fordert daher ein neues Sofortpaket, das den gesetzlichen Vorgaben des Klimaschutzgesetzes entspricht. Falls das OVG aufgrund der restriktiven deutschen Gesetzeslage Zweifel an der Klagebefugnis der DUH habe, regt diese ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Mit einer baldigen Entscheidung des OVG ist nicht zu rechnen, weil der zuständige 11. Senat durch eine Konkurrentenklage um den Vorsitz blockiert ist. Die taz (Christian Rath) und LTO berichten.
OLG Frankfurt/M. zu Zweitwagen: Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat entschieden, dass ein Unfallgeschädigter gegen den Schädiger keinen Anspruch auf Nutzungsausfallentschädigung hat, wenn ihm während der Reparaturzeit des beschädigten Fahrzeugs die Nutzung eines ihm gehörenden Zweitwagens möglich und zumutbar ist. Die Nutzung sei auch dann zumutbar, wenn es sich bei dem beschädigten Fahrzeug um einen Sportwagen (Porsche 911) handelt, während der Zweitwagen lediglich ein Mittelklassefahrzeug (Ford Mondeo) ist, so das Gericht. Das fehlende "Fahrvergnügen", das der Kläger hinsichtlich der Nutzung beanstandete, sei nur eine immaterielle Beeinträchtigung, die nicht ersatzpflichtig sei. Dies berichtet LTO.
LG Frankfurt/M. – NSU 2.0-Drohschreiben: Im Verfahren um die rechtsextreme "NSU 2.0"-Drohserie hat der psychiatrische Gutachter dem Angeklagten Alexander M. eine Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, passiv-aggressiven und narzisstischen Zügen bescheinigt. Gleichzeitig seien die Voraussetzungen für eine Schuldunfähigkeit nicht gegeben, sodass eine krankhafte seelische Störung nach dem Strafgesetzbuch zu verneinen sei. Die Plädoyers sind für Anfang Oktober angesetzt. Es berichtet die FAZ (Anna-Sophia Lang).
LAG Berlin-BB zu 24-Stunden-Pflegekraft: Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass eine bulgarische Pflegekraft, die 24 Stunden am Tag eine alte Frau betreut hat und nachts in Bereitschaft blieb, einen Anspruch auf Zahlung von Mindestlohn für die gesamten 24 Stunden hat, selbst wenn vertraglich lediglich ein Betreuungsentgelt für 30 Stunden pro Woche vereinbart wurde. Dies schreibt LTO.
LG Hanau - Vater des Attentäters von Hanau: Wie faz.net berichtet, hat vor dem Landgericht Hanau der Berufungsprozess gegen den Vater des Hanauer Attentäters begonnen. Er war 2021 wegen Beleidigung in drei Fällen zu einer Geldstrafe in Höhe von 5.400 Euro verurteilt worden, wogegen er und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hatten. In einem psychiatrischen Gutachten wurde dem 75-Jährigen bereits im Verfahren vor dem Amtsgericht eine wahnhafte Störung und rechtsextremes Gedankengut bescheinigt.
LG Bad Kreuznach – Tötung wegen Maskenpflicht: Im Prozess gegen Mario N., der im Streit um die Maskenpflicht den Kassierer einer Tankstelle in Idar-Oberstein erschossen hat, fordert die Staatsanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Er habe heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen gehandelt, da ein krasses Missverhältnis zwischen Anlass und Tat bestehe, so die Staatsanwaltschaft. Zudem habe er das Opfer nach der Tat als "Tankstellenboy" verhöhnt. Die taz (Christoph Schmidt-Lunau) berichtet.
AG Frankfurt/M. zu Erklärungsirrtum in der DB-App: Das Amtsgericht Frankfurt/M. hat entschieden, dass der Kauf eines zusätzlichen Fahrradtickets über die App der Deutschen Bahn aufgrund eines Erklärungsirrtums angefochten werden kann, wenn das Ticket versehentlich gebucht wurde. Der äußere Erklärungstatbestand habe dann nicht dem Willen der Erklärenden entsprochen. Geklagt hatte eine Rechtsreferendarin, die eine Erstattung in Höhe von 4,60 Euro von der Deutschen Bahn forderte. Das Amtsgericht nahm infolge der erfolgreichen Anfechtung eine ungerechtfertigte Bereicherung auf Seiten der Deutschen Bahn an. Dies berichtet LTO-Karriere (Katharina Uharek).
Recht in der Welt
Großbritannien – Streik der Anwaltschaft: Wie angekündigt haben die Prozessanwälte (Barrister) in England und Wales ihren Streik wegen zu niedriger Honorare begonnen. Dem britischen Justizministerium zufolge könne der laufende Streik die Strafjustiz weitgehend lahm legen und habe bereits für Verzögerungen bei 6 000 gerichtlichen Anhörungen geführt. Dies meldet LTO.
USA – Nirvana-Baby: Ein Bezirksgerichts in Los Angeles hat entschieden, dass mögliche Ansprüche von Spencer Elden gegen die ehemaligen Mitglieder der Band Nirvana, die Nachlassverwalter von Kurt Cobain und einen Fotografen verjährt sind. Elden war im Jahr 1992 als Baby nackt mit einer Dollarnote auf dem Cover der CD "Nevermind" von Nirvana abgebildet worden.Der heute 31-Jährige habe mehr als zehn Jahre lang gewusst, so das Gericht, dass es sich um einen Gesetzesverstoß (Kinderpornografie) handeln könnte und dennoch keine juristische Schritte eingeleitet. LTO berichtet.
USA – Julian Reichelt: Wie spiegel.de berichtet, hat eine ehemalige Mitarbeiterin der Bild-Zeitung an einem Gericht in Kalifornien Klage gegen die Bild-Zeitung und den Axel-Springer-Verlag, unter anderem wegen sexueller Belästigung, eingereicht. Gegenstand der Klage sind Vorwürfe gegen den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt.
USA – Donald Trump/Dokumente: Wie spiegel.de und focus.de melden, gab die US-Richterin Aileen Cannon der Forderung des Ex-US-Präsidenten Donald Trump statt und ordnete an, dass die im August von der Bundespolizei FBI in Mar-a-Lago beschlagnahmten Unterlagen von einem unabhängigen Experten (Special Master) geprüft werden müssen. Durch die Entscheidung bleibt eine Untersuchung der Dokumente durch die Staatsanwaltschaft vorerst unmöglich.
Schweden – Estonia-Doku: Ein schwedisches Gericht hat die Filmemacher einer Dokumentation zum Untergang der Fähre "Estonia" im Jahr 1994 wegen Störung der Totenruhe zu einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 1750 bzw. 2100 Euro (40 Tagessätze) verurteilt. Die Journalisten wollen gegen das Urteil in Berufung gehen. In einem ersten Prozess waren sie freigesprochen worden. spiegel.de berichtet.
Russland – Nowaja Gaseta: Ein russisches Gericht in Moskau hat einem Antrag der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor stattgegeben und der unabhängigen russischen Zeitung "Nowaja Gaseta" die Drucklizenz mit der Begründung entzogen, sie habe Dokumente zu einem Eignerwechsel 2006 nicht vorgelegt. Chefredakteur Dmitrij Muratow bezeichnet die Entscheidung als "rein politisch", es gebe für sie keine rechtliche Grundlage. Die Zeitung musste bereits im März ihre Arbeit in Russland einstellen, so spiegel.de.
Russland – Journalist Iwan Safronow: Ein russisches Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow wegen Hochverrats zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Er soll im Jahr 2017 Staatsgeheimnisse über russische Waffenverkäufe im Nahen Osten und Afrika an ausländische Geheimdienste weitergegeben haben. Der Sprecher des Auswärtigen Dienstes der EU bezeichnet die Entscheidung als "systematischen Angriff gegen den unabhängigen Journalismus". Es berichten SZ, FAZ (Friedrich Schmidt) und spiegel.de.
Kenia – Präsidentenwahl: Das Oberste Gericht in Kenia hat bestätigt, dass das Ergebnis der Präsidentenwahl nicht zu beanstanden ist und damit die Beschwerde des Präsidentschaftskandidaten Raila Odinga zurückgewiesen. Beweise für Manipulationen des elektronischen Wahlsystems und bei der Stimmenauszählung seien nicht gegeben worden, so das Gericht. SZ (Bernd Dörries), FAZ (Claudia Bröll) und spiegel.de berichten.
Singapur – Credit Suisse: Bidsina Iwanischwili, der reichste georgische Milliardär und frühere Ministerpräsident des Landes, hat die Bank Credit Suisse in Singapur auf Schadensersatz in Höhe von 800 Millionen Dollar verklagt, weil er im Jahr 2011 vom damaligen Kundenberater Patrice Lescaudron betrogen worden sei. Dies schreibt die FAZ (Christoph Hein).
Frankreich – Prozess zum Nizza-Attentat: Nun berichtet auch die taz (Rudolf Balmer) über den Prozessbeginn gegen acht Unterstützer des Attentats von Nizza vor sechs Jahren, bei dem 86 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt wurden.
Sonstiges
Barbara Salesch: spiegel.de (Anja Rützel) berichtet über die Rückkehr der TV-Richterin Barbara Salesch auf den Fernsehbildschirm und die erste Folge des Revival-Formats auf RTL. Die Rückkehr sei "überraschend tröstlich". So liefere die Auftaktfolge eine ganz eigene Kunstform von "Knurrigkeits-Kriminalistik", die stimmungsmäßig sogar "noch besser" als früher sei.
Das Letzte zum Schluss
Klettertour mit Konsequenzen: Laut spiegel.de (Lisa Duhm) wurde in London ein 21-Jähriger festgenommen, nachdem er den 310 Meter hohen Wolkenkratzer "The Shard" hinaufklettern wollte. Er habe die "Zeit seines Lebens" gehabt und ihnen gewunken, so das Paar im 40. Stock, das ihn entdeckt hatte.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/ok
(Hinweis für Journalist:innen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 6. September 2022: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49537 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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