Beim Familiennachzug zu jungen Flüchtlingen kommt es auf die Minderjährigkeit beim Stellen des Asylantrags an. Schiffe zur Seenotrettung dürfen nur bei "eindeutiger Gefahr" festgehalten werden. Preisabsprachen für Müllfahrzeuge von Daimler und Co. waren rechtswidrig.
Thema des Tages
EuGH zu Familiennachzug: Junge Flüchtlinge können ihre Familien auch dann in die EU nachholen, wenn sie im Laufe des Verfahrens volljährig werden. Das entschied der Europäische Gerichtshof. Abzustellen ist auf die Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Asylantragstellung. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Gewährung des Rechts auf Familienzusammenführung mit der Kernfamilie nicht von der Bearbeitungsgeschwindigkeit der Behörden abhängt. Der EuGH erklärte damit die bisherige Praxis des Auswärtigen Amtes, auf den Zeitpunkt der Visumsbescheidung abzustellen, für europarechtswidrig. Die Vorlage stammte vom Bundesverwaltungsgericht. Der EuGH bestätigte nun ein eigenes Urteil aus dem Jahr 2018 zu einem Fall aus den Niederlanden. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), Welt (Marcel Leubecher) und LTO (Tanja Podolski).
Wolfgang Janisch (SZ) begrüßt das Urteil und wundert sich, zu welch hohem Preis die deutsche Praxis Flüchtlingszahlen niedrig halte. Gerade unbegleitete minderjährige Flüchtlinge seien für eine gelungene Integration in besonders hohem Maße auf familiären Schutz angewiesen. Reinhard Müller (FAZ) mahnt hingegen, dass "der Schutz, der ohnehin als einer auf Zeit gedacht ist, und das Recht, mit seiner Familie zusammenzuleben, keinen Anspruch auf unbegrenzten Zuzug begründen" dürften.
Rechtspolitik
Digitale Firmengründung: LTO (Katharina Uharek) hat mit Jens Bormann, Präsident der Bundesnotarkammer, über die erste online gegründete GmbH sowie die weiteren Möglichkeiten gesprochen, die das Gesetz zur Umsetzung der Digitalisierungsrichtlinie (DiRUG) seit dem 1. August bietet. Neben der Gründung einer GmbH können auch alle Anmeldungen zum Handels-, Genossenschafts- und Partnerschaftsregister über die neu geschaffene digitale Plattform erledigt werden.
Arbeitsbedingungen: focus.de gibt einen Überblick zu den am 1. August in Kraft getretenen Informations- und Dokumentationspflichten für Arbeitgebende, die im Nachweisgesetz (NachwG) geregelt und aufgrund einer EU-Richtlinie erweitert worden sind. Wer nicht kurz vor dem Abschluss eines Arbeitsvertrages stehe, habe das Recht, die zusätzlichen Informationen – etwa zu den vereinbarten Ruhepausen – zum Arbeitsvertrag in Schriftform einzufordern.
Justiz
EuGH zu Sea-Watch: Schiffe humanitärer Organisationen, die zur Suche und Rettung von Personen eingesetzt werden, dürfen vom Hafenstaat nur dann festgehalten und einer Kontrolle unterzogen werden, wenn eine eindeutige Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt vorliegt. Als Anlass einer Kontrolle genüge nicht, dass das Schiff lediglich als Frachtschiff zertifiziert ist. Das entschied der Europäische Gerichtshof in einem Verfahren, dass vom Regionalen Verwaltungsgericht Sizilien (Italien) vorgelegt wurde. Dort hatte die Hilfsorganisation "Sea-Watch" darauf geklagt, die Festhaltemaßnahmen gegen ihre Schiffe für nichtig zu erklären. Es berichten FAZ (Marlene Grunert u.a.), taz (Christian Rath), sz.de und LTO.
EuGH zu Lkw-Kartell: Ein Bußgeldbeschluss der EU-Kommission vom Sommer 2016 wegen illegaler Preisabsprachen gegen Daimler Truck und andere Lastwagenhersteller betrifft auch Spezialfahrzeuge wie Müllwagen, Baustellen- sowie Feuerwehrfahrzeuge. Das entschied der Europäische Gerichtshof. Dabei ging es um rechtswidrige Preisabsprachen von den 1990er-Jahren bis ins Jahr 2011. Vorgelegt hatte das Landgericht Hannover, bei dem der Landkreis Northeim von Daimler Schadensersatz verlangte, weil man beim Kauf von Müllfahrzeugen überhöhte Preise gezahlt habe. Dutzende ähnliche Klagen von Kommunen sind anhängig und dürften nun fortgesetzt werden, schreibt die FAZ (Marcus Jung).
EuGH zu Kindergeld für EU-Bürger:innen: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine Mutter aus Bulgarien als Unionsbürgerin mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland nicht deshalb von der Kindergeldzahlung ausgeschlossen werden kann, weil sie kein Einkommen hat. Die deutsche Regelung, die die Kindergeldzahlung drei Monate lang verweigert, wenn kein eigenes Einkommen vorliegt, erklärte der EuGH damit auf Vorlage des Finanzgerichts Bremen für unionsrechtswidrig. Solche Sperren seien nur für Sozialleistungen möglich, das Kindergeld sei aber keine Sozialleistung, so der EuGH. FAZ (Katja Gelinsky) und LTO berichten.
Katja Gelinsky (FAZ) zeigt sich in ihrem Kommentar zum Urteil nicht überrascht und erinnert zugleich, wie heikel die Politik der Ausweitung der Freizügigkeit und damit verbundener Vorteile für Arbeitnehmende aus osteuropäischen Staaten sei.
EuGH zu Nachtzuschlägen: Auf beck-aktuell bespricht Rechtsanwalt Jobst-Hubertus Bauer ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von Anfang Juli zur Frage, ob es zulässig ist, dass in der deutschen Lebensmittelbranche per Tarifvertrag für unregelmäßige Nachtarbeit höhere Zuschläge vorgesehen sind als für regelmäßige Nachtschichten. Der EuGH erklärte auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die EU-Arbeitszeitrichtlinie für unanwendbar, da diese die Frage der Vergütung von Nachtarbeit nicht regelt. Der Autor geht davon aus, dass das BAG nun auch keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Grundgesetz) feststellen werde.
LG Heidelberg zu Paketbomben: Im Jahr 2021 hat es zwei Paketbombenanschläge auf die Lidl-Konzernzentrale in Neckarsulm und die Firma ADM Wild bei Heidelberg gegeben. Klaus S., den die Ermittler:innen für den Täter hielten, wurde vom Landgericht Heidelberg im November 2021 jedoch freigesprochen, weil die Anklage vor Gericht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. swr.de (Holger Schmidt) zeichnet die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Polizei nach und spricht mit dem ehemaligen Bundesrichter Thomas Fischer über den Fall. Selbst einige Indizien, die für die Unschuld von Klaus S. gesprochen hätten, seien laut Fischer "dann doch irgendwie so hingedreht" worden, dass sie gegen ihn gewertet wurden.
LG Köln zu Reisebus: Das Landgericht Köln hat einem Busunternehmer Schadensersatz zugesprochen, weil die Polizei einen seiner Reisebusse aus dem Verkehr gezogen hatte, obwohl sich später durch eine Untersuchung des TÜV herausstellte, dass der Bus verkehrssicher war. Wie LTO berichtet, hatte ein Fahrgast die Polizei benachrichtigt, die den Bus nach einer Verkehrskontrolle für nicht verkehrssicher befand.
AG Augsburg zu falschen Pfandbuchungen: Das Amtsgericht Augsburg hat eine 21-jährige Kassiererin wegen Untreue verurteilt, weil sie zwischen Mai und August 2021 fast 38.000 Euro als Pfandgebühren eingetippt und das Geld dann bar aus der Kasse entnommen hat. Die junge Mutter ist laut LTO nach den Regeln des Jugendstrafrechts neben der Rückzahlung u.a. zu einer Gesprächstherapie verurteilt worden.
GenStA Hamburg – Pimmelgate: Wegen fehlenden öffentlichen Interesses hat die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft laut netzpolitik.org (Ingo Dachwitz) die Ermittlungen in der sogenannten Pimmelgate-Affäre um den Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) eingestellt. Auslöser der Affäre war ein Tweet, in dem ein Twitter-Nutzer den Politiker mit den Worten "Du bist so 1 Pimmel" bedachte, woraufhin die Polizei Ermittlungen wegen Beleidigung aufnahm und die Wohnung des Tweet-Verfassers durchsuchte.
StA Karlsruhe – linksunten.indymedia: Fast fünf Jahre nach dem Verbot der linksradikalen Internetplattform linksunten.indymedia hat die Karlsruher Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung eingestellt, schreiben taz.de (Peter Nowak) und netzpolitik.org (Matthias Monroy).
Recht in der Welt
Ukraine – Sondertribunal: Im Interview mit spiegel.de (Ann-Dorit Boy) erklärt Andrij Smirnow, stellvertretender Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, die Bestrebungen der Ukraine zur Errichtung eines Russland-Sondertribunals. Zweck sei es, das Verbrechen der Aggression im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine zu ahnden, für das der Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht zuständig ist, weil Russland das Römische Statut nicht unterzeichnet hat. Die Ukraine strebt an, das Sondertribunal auf einen Vertrag mit der EU zu stützen. Die Ukraine würde den Staatsanwalt und die EU-Staaten die Richter:innen stellen.
USA – Pornhub/Visa: Vor einem kalifornischen Gericht klagt eine junge Frau gegen die Porno-Plattform Pornhub sowie gegen den Kreditkartenanbieter Visa, weil ihr damaliger Freund ein Video von ihr unerlaubt auf die Plattform geladen hatte, auf dem sie erst 13 Jahre alt war. Das Gericht lehnte nun den Antrag von Visa ab, als Mitbeklagte fallen gelassen zu werden. Visa hätte bewusst sein müssen, dass auf den Seiten von Pornhub ein wesentlicher Anteil von Kinderpornografie zu finden sei, argumentierte das Gericht. Wie das Hbl (Astrid Dörner) berichtet, fürchtet der Konzern einen Umsturz der gesamten Finanz- und Bezahldienstleistungsbranche, wenn Kreditkartenunternehmen für die Handlungen ihrer Kund:innen verantwortlich gemacht werden könnten.
Chile – Verfassung: Im FAZ-Einspruch befasst sich Rechtsanwalt Hartmut Rank ausführlich mit den 388 Artikeln des Entwurfs einer im September zur Volksabstimmung stehenden Verfassung für Chile. Der indigenen Bevölkerung sind darin mehr Rechte eingeräumt, der "Natur" wird eine eigene Rechtssubjektivität zugesprochen und zudem wird eine eigene Umweltgerichtsbarkeit geschaffen. Kritisiert wird der Entwurf vor allem für die starke Fokussierung auf Partikularinteressen, die dem linken Teil des chilenischen politischen Spektrums zuzuordnen seien.
Sonstiges
Umsetzung EU-Urheberrecht: Am 1. August 2021 ist das Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG) mit den neuen Regelungen zur Haftung von Social-Media-Plattformen in Kraft getreten. Rechtsprofessor Christian-Henner Hentsch erläutert auf LTO die wichtigsten Regelungen und zieht eine erste Bilanz. Insgesamt stelle das UrhDaG eine ausgewogene Lösung dar. Trotz der Einführung der umstrittenen Uploadfilter sei bislang kein Fall von Overblocking bekannt geworden. Allerdings schafften die Regelungen nahezu unüberwindbare Markteintrittsbarrieren.
Mietrecht und Energiekosten: Welche Rechte Mieter:innen in Zeiten einer Energiekrise gegenüber ihren Vermieter:innen zustehen, erläutert die SZ (Nils Wischmeyer) im Frage und Antwort-Format. Kommt es etwa zu Nachzahlungen bei den Nebenkosten, sind diese in der Regel sofort fällig, sodass Vermieter:innen ein Kündigungsrecht zustehen könne, wenn Mieter:innen mehr als eine Monatsmiete über einen Monat hinweg schuldig blieben, erklärt die Rechtsanwältin Beate Heilmann. Um das zu vermeiden, könne man frühzeitig auf die Vermieter:in zu gehen und über eine gemeinsame Lösung sprechen.
Das Letzte zum Schluss
Beerdigung auf Golfplatz: Ex-US-Präsident Donald Trump hat seine kürzlich verstorbene Ex-Frau Ivana Trump auf einem seiner Golfplätze beerdigt. Zu der durchaus kuriosen Wahl dieser letzten Ruhestätte ist jetzt auch noch bekannt geworden, dass die Steuergesetze des betroffenen Bundesstaats New Jersey Friedhofsgrundstücke von zahlreichen Steuern ausnehmen. Die FAZ (Roland Lindner) schreibt, dass Trump schon vor Jahren einmal versucht hatte, ein Grundstück als Friedhofsunternehmen eintragen zu lassen.
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LTO/jpw
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Die juristische Presseschau vom 2. August 2022: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49207 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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