OLG Naumburg verurteilte den Rechtsextremisten, der die Synagoge von Halle angriff, zu "lebenslang". Engagierte Anwälte in Belarussland sitzen in Haft oder verlieren die Zulassung. Arbeitgeber kann von Mitarbeitern keine Impfung verlangen.
Thema des Tages
OLG Naumburg zu Anschlag auf Synagoge: Das Oberlandesgericht Naumburg hat Stephan Balliet, den Attentäter von Halle, wegen zweifachen Mordes und versuchtem Mord in 51 Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Balliet hatte im Oktober 2019 versucht, die Synagoge von Halle zu stürmen und die Anwesenden zu töten. Als er keinen Zugang erzwingen konnte, tötete er eine Passantin und einen Malerlehrling in einem Imbiß. Die Taten streamte er mit einer Helmkamera live ins Internet. Der Prozess, an dem 45 Opfer und Hinterbliebene als Nebenklagende teilnahmen, endete nach 26 Verhandlungstagen. Balliet hatte seine Taten im Gericht verteidigt und seine Auftritte dabei genossen. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens begründete das Urteil über drei Stunden. Sie sagte Balliet ins Gesicht "Sie sind ein Menschenfeind". Über die Urteilsverkündung und den Prozess berichten SZ (Antonie Rietzschel), FAZ (Mona Jaeger), taz (Pia Stendera/Konrad Litschko), spiegel.de (Beate Lakotta) und LTO.
Reinhard Müller (FAZ) leitet aus dem Urteil einen "Auftrag von Halle" ab: "Es bleibt Aufgabe aller staatlichen Gewalt, zu zeigen, dass dieses Land alles Mögliche tut, um ein friedliches Zusammenleben aller zu ermöglichen und insbesondere jene zu schützen, die noch vor wenigen Jahrzehnten durch staatliche Gewalt als Gemeinschaft nahezu vernichtet wurden". Anette Ramelsburger (SZ) lobt die Vorsitzende Richterin, "die den Angeklagten zunächst aus der Reserve lockte und dann mit mütterlicher Strenge in die Schranken wies", für ihren "juristischen Balanceakt", ihre "psychologische Leistung". Sie würdigte auch die Nebenkläger, die dem Attentäter im Gerichtssaal die Stirn boten.
Rechtspolitik
EU-Verträge: Rechtsprofessorin Johanna Hey spricht sich in ihrer Hbl-Kolumne für die Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips bei bestimmten EU-Entscheidungen aus. Zwar berge dies ein Erpressungspotenzial, wie die jüngste Diskussion um den EU-Haushalt gezeigt habe. Die Einstimmigkeit schütze aber letztlich die Bürger, zum Beispiel vor EU-Steuern.
EU-Rechtsstaatlichkeit: Der FDP-MdB Wieland Schinnenburg kritisiert in einem Gastbeitrag für FAZ-Einspruch den Kompromiss zum finanziellen EU-Rechtsstaats-Sanktionsmechanismus. Auf Druck von Polen und Ungarn seien die Anforderungen an die Kausalität zwischen Verstoß und Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der EU verschärft worden. "Nun muss der Verstoß eine hinreichend unmittelbare oder ernsthafte Gefahr der Beeinträchtigung der finanziellen Interessen darstellen." Damit der Mechanismus zur Anwendung kommen kann, sei in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats festgelegt, dass es entsprechende Anwendungs-Richtlinien geben müsse. Diese Richtlinien müssten wiederum ein EuGH-Urteil zum Mechanismus berücksichtigen, falls Mitgliedstaaten dagegen klagen. Er fordert die EU-Kommission auf, den Mechanmismus bereits ab Januar 2021 anzuwenden, auch ohne Richtlinien und EuGH-Urteil.
Digitale Dienste/Digitale Märkte: Klaus Müller, Chef des Verbraucherzentrale Bundesverband, kritisiert im Interview mit spiegel.de (Michael Sauga) die Vorschläge der EU-Kommission zur Regulierung von Internet-Plattformen. Aus Verbrauchersicht seien sie eine Enttäuschung. Plattformen wie Amazon müssten für das Fehlverhalten von dort agierenden Online-Händlern haften.
Messenger: Auch Messenger-Anbieter, die ihren Sitz im Ausland haben, sollen künftig nach dem "Marktortprinzip" vom Telekommunikationsgesetz (TKG) erfasst sein. Der Gesetzentwurf für eine entsprechende TKG-Änderung wurde vorige Woche im Bundeskabinett beschlossen. Er zielt nicht zuletzt auf den Messenger Telegram, dessen Betreibergesellschaft in Dubai residiert. Nach dem TKG wäre Telegram dann zur Bestandsdatenauskunft und zur Speicherung von Verkehrsdaten verpflichtet, so netzpolitik.org (Sebastian Christ).
DiRUG: Die Gründung einer GmbH soll künftig per Videokommunikation mit dem Notar oder der Notarin möglich sein. Dies sieht der Referentenentwurf eines Digitalisierungsrichtlinien-Umsetzungsgesetzes (DiRUG) vor, den das Bundesjustizministerium jetzt vorlegte und den das Handelsblatt-Rechtsboard (Ulrich Noack) vorstellt.
Corona und StPO: Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) kritisiert Pläne des Bundestags, die Geltung von § 10 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung (EGStPO) bis März 2022 zu verlängern. Es geht dabei um eine Hemmung von Fristen zur maximal zulässigen Unterbrechung der Hauptverhandlung. Die BRAK fordert laut beck-community (Markus Meißner) eine Klarstellung, dass eine "mehrfache Anwendung" der Hemmungsvorschrift in einem Strafverfahren ausscheide.
Brigitte Zypries: Ex-Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) steht jetzt an der Spitze der neu gebildeten Ethikkommission des Deutschen Tischtennis-Bundes, meldet das Hbl.
Justiz
BVerfG zu Kundus-Luftangriff: Nun beleuchten auch Rechtsprofessorin Paulina Starski und der wissenschaftliche Mitarbeiter Leander Beinlich auf dem Verfassungsblog den vorige Woche veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Bombardement von Kundus 2009. Es verbleibe "eine Diskrepanz zwischen den Darlegungen des BVerfG zur grundrechtlichen Radizierung des Amtshaftungsanspruchs auf der einen Seite und dem schlussendlichen 'Dahinstehenlassen' seiner Anwendbarkeit auf der anderen." Ansonsten sei der BVerfG-Beschluss eine "willkommene, ja gar mehr denn gebotene verfassungsrechtliche Korrektur zahlreicher kritikwürdiger Ansichten des BGH."
OLG München – Anschläge von Waldkraiburg: Die Bundesanwaltschaft hat Anklage gegen den Islamisten Muharrem D. erhoben, u.a. wegen versuchten Mordes in 25 Fällen. Der IS-Anhänger soll im Frühjahr in Waldkraiburg mehrere Anschläge auf Geschäfte von türkischstämmigen Inhabern verübt haben, weil die Türkei gegen den IS vorgeht. Es berichtet die FAZ (Marlene Grunert).
OVG Berlin-BB zu Tesla-Fabrik: Laut LTO (Antonetta Stephany) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am Freitag die Rodungsmaßnahmen in Randbereichen von zur Abholzung vorgesehenen Flächen untersagt. Grund ist der Schutz von Zauneidechsen. Das Gericht gab einem Eilantrag von Naturschützenden statt.
LG Köln zu Kindesmissbrauch Bergisch Gladbach: Das Landgericht Köln hat den Administrator einer Chatgruppe zu zwei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, weil in der Gruppe, der bis zu 76 Mitglieder angehörten, kinderpornographische Bilder und Erfahrungen über Missbrauchshandlungen ausgetauscht wurden. Das meldet spiegel.de.
LG München I zu Rocker-Angriff: Das Landgericht München I hat den Hells Angel Khaled B. zu einer Freitheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Er hatte das mutmaßliche Mitglied einer konkurrierenden Gruppierung in einer Disco mit dem Messer schwer verletzt. bild.de (Oliver Grothmann) schildert ausführlich die Rahmenbedingungen von Münchens "wohl spektakulärstem Rocker-Prozess", inklusive "Rocker-Demo vor Gericht, Schlägerei mit Prozess-Beteiligten, Drohungen, Polizeieinsätze, Fußfessel, Transporter-Attacke, Ordnungsgeld, Anzeigen."
LG Frankenthal zu Videoüberwachung von Nachbar: Das Landgericht Frankenthal hat die Installation einer Videokamera für unzulässig erklärt, die möglicherweise auch den nachbarlichen Garten erfasst. Dies verletze die Persönlichkeitsrechte des Nachbarn. Wenn zwischen den Nachbarn Streit besteht, genüge es für den Abwehranspruch gegen die Kamera bereits, dass "der Blickwinkel ohne großen Aufwand auf das Nachbargrundstück ausgerichtet werden" könnte, berichtet LTO.
VG Karlsruhe zu Sägemehlkeksen: Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat einem Versand für Naturwaren den Vertrieb von so genannten Sägemehlkeksen untersagt. Das verwendete Sägemehl sei ein Stoff für technische Anwendungen und werde nicht einmal in Tierfutter benutzt. Es berichtet faz.net.
Recht in der Welt
Belarussland – Rechtsstaat: Der Vizepräsident der Rechtsanwaltkammer Berlin, Bilinç Isparta, schildert in der Kammerpublikation "Kammerton" ausführlich und präzise den rechtsstaatswidrigen Umgang mit der belarussischen Opposition. Das Regime inhaftiere engagierte Anwälte oder entziehe ihnen die Zulassung. Demonstrierende würden immer wieder bestraft und bei Prozessen werde oft die anwaltliche Vertretung verweigert.
Türkei – Leyla Güven: Ein Strafgericht in Diyarbakir hat die kurdische HDP-Politikerin Leyla Güven wegen Mitgliedschaft in der terroristischen PKK und Verbreitung von Terrorpropaganda zu einer Freiheitsstrafe von 22 Jahren und drei Monaten verurteilt, berichtet spiegel.de. Die taz (Jürgen Gottschlich) schildert das Leben der Politikerin, die mehrfach für die kurdische HDP als Bürgermeisterin und als Abgeordnete gewählt worden war, aber auch schon viele Jahre im Gefängnis saß.
In einem separaten Kommentar bezeichnet Jürgen Gottschlich (taz) das Urteil als Teil der Strategie von Präsident Erdogan, das derzeit erfolgreiche Oppositionbündnis aus sozialdemokratischer CHP, konservativer IYI und kurdischer HDP zu sprengen, in dem die HDP provoziert und als terroristisch stigmatisiert wird.
Großbritannien – Schleuser: Der Zentrale Strafgerichtshof in London hat einen Rumänen und einen Nordiren als Mitglied einer internationalen Schleuserorganisation wegen Totschlags und Menschenschmuggels verurteilt. Sie seien für den Tod von 34 vietnamesischen Migrantinnen und Migranten verantwortlich, die 2019 in einem Lastwagen bei der Schleusung erstickten. Das Strafmaß wird im erst im Januar verkündet, berichtet zeit.de. In dem Fall wurden bisher acht Personen schuldig gesprochen.
Ungarn – Asylrecht: Auf dem Verfassungsblog schildern András Léderer und Márta Pardavi, beide aktiv für die NGO Hungarian Helsinki Comittee, (in englischer Sprache) wie das ungarische Asylrecht ab 2015 Schritt für Schritt verschärft und dann vom Europäischen Gerichtshof mehrfach beanstandet wurde. Klagen von Aktivisten, die zu EuGH-Vorlagen von ungarischen Gerichten führten, seien dabei effektiver gewesen als Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission, was aber an der Zögerlichkeit der Kommission liege.
Sonstiges
Corona-Impfpflicht für Arbeitnehmer: Der Anwalt Michael Fuhlrott stellt auf LTO Karriere fest, dass Arbeitgeber ihre Beschäftigten nicht aufgrund des Direktionsrechts zu einer Corona-Impfung anweisen können. Auch eine Verpflichtung per arbeitsvertraglicher Regelung wäre unzulässig. Nur bei Beschäftgten, die vor allem mit vulnerablen Gruppen arbeiten, etwa im Krankenhaus, könne die fehlende Impfung arbeitsrechtlich relevant werden. Dann könne der Arbeitgeber die Beschäftigten aber nicht zur Impfung verpflichten, sondern nur Nicht-Geimpfte wegen mangelnder Eignung kündigen.
Corona und Obdachlose: Die Gewerkschaftsjuristin Cara Röhner kritisiert auf dem Verfassungsblog, dass der Staat seiner Schutzpflicht für Obdachlose in der Pandemie nicht ausreichend nachkomme. Er könne zum Beispiel leerstehende Hotelzimmer anmieten oder Besetzungen von leerstehendem Wohnraum durch Obdachlose dulden.
Corona und Hochschulprüfungen: Forschungsreferent Jonas Botta beschreibt auf dem Verfassungsblog wie coronabedingte digitale Klausurbeaufsichtigungen in die Grundrechte auf Unverletztlichkeit der Wohnung und informationelle Selbstbestimmung eingreifen. Die lückenlose Überwachung und Aufzeichnung jeder Körperbewegung gehe über die Grenze angemessener Datenverarbeitung hinaus. Hochschulen sollten deshalb vornehmlich auf Open-Book-Klausuren und Hausarbeiten setzen.
Polizeistudie: LTO (Hasso Suliak) sprach mit Rechtsprofessorin Anja Schliemann über die von ihr geleitete Studie zur Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten, die Innenminister Horst Seehofer finanziert. Schliemann betont, dass es sich um keine Auftragsarbeit handele, sondern um ihre eigene Initiative. Etwa März 2022 sei mit ersten Ergebnissen zu rechnen.
Vertrieb im Rechtsmarkt: LTO (Anja Hall) befragte Daniel Lafrentz, den Vertriebschef des Legal-Tech-Unternehmens Bryter zum Vertrieb im Rechtsmarkt. Bisher rede er auf Kundenseite überwiegend mit Juristen, während er sonst mit dem Einkauf des Unternehmens verhandele. Aber das werde sich wohl ändern. "Die Rechtsabteilungen von Unternehmen werden sich früher oder später den normalen Beschaffungsprozessen des Unternehmens unterwerfen müssen".
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lto/chr
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Die juristische Presseschau vom 22. Dezember 2020: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43804 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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