Die juristische Presseschau vom 28. November 2019: BVerfG zu Recht auf Ver­ges­sen­werden / BGH zu Legal Tech / Haft für Cum-Ex-Anwalt

28.11.2019

Das Bundesverfassungsgericht beschreitet in zwei Urteilen zum Recht auf Vergessenwerden neue Wege in der verfassungsgerichtlichen Dogmatik. Außerdem in der Presseschau: Der BGH billigt wenigermiete.de und Cum-Ex-Anwalt in Haft.

Thema des Tages

BVerfG zum Recht auf Vergessenwerden I: Das Bundesverfassungsgericht hat einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, mit der sich ein 1982 wegen Mordes verurteilter Mann gegen die Auffindbarkeit seines Namens im Online-Archiv des Spiegels wandte. Dies berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Constantin van Lijnden), taz (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), tagesschau.de (Christoph Kehl), lto.de (Markus Sehl) und netzpolitik.org (Markus Reuter). Der Mann hatte an Bord der Hochseejacht "Apollonia" deren Eigner und dessen Freundin umgebracht und dafür bis 1997 in Haft gesessen. Der Fall hatte großes Aufsehen erregt und zu ausführlicher Berichterstattung geführt. Das BVerfG befand nun, dass ein angemessener Ausgleich zwischen den gewichtigen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers und den Interessen des Verlags nötig sei. Hierfür müssten abgestufte Lösungen gefunden werden, die sich zwischen den Extremen der vollständigen Löschung und der uneingeschränkten Hinnahme durch den Betroffenen bewegten. Beispielsweise könne die Auffindbarkeit des betreffenden Artikels in Suchmaschinen erschwert werden, ohne dass der Artikel vollständig gelöscht werden müsse. Die genauen Anforderungen an die Betreiber eines Onlinearchivs müssten aber die Fachgerichte entscheiden, weshalb die Sache an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen wurde.

Caroline Schwarz (taz) begrüßt die Entscheidung. Der Täter habe seine Haftstrafe abgesessen, die Auffindbarkeit seines Namens stehe seiner Resozialisierung im Weg. Eine Ausnahme müsse es indes bei politisch relevanten Straftaten geben: Für NSU-Terroristin Beate Zschäpe dürfe es nie ein "Recht auf Vergessenwerden" geben. Wolfgang Janisch (SZ) sieht in der Entscheidung einen "wegweisenden Kompromiss für die digitale Welt." Denn zwar hätten die Persönlichkeitsrechte des Täters gewichtigen Belang, jedoch gebe es auch ein gesellschaftliches "Recht auf Erinnern", das zu berücksichtigen sei.

BVerfG zum Recht auf Vergessenwerden II: In einem zweiten Verfahren zum "Recht auf Vergessenwerden" lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde ab, wie etwa lto.de (Markus Sehl) berichtet. Die Beschwerdeführerin hatte von Google verlangt, die Verknüpfung ihres Namens mit einem Beitrag des Norddeutschen Rundfunks (NDR) aufzuheben. Sie war im Jahr 2012 für einen Bericht des Magazins "Panorama" interviewt worden, in dem ihr als Geschäftsführerin eines Unternehmens "fiese Tricks" zur Kündigung eines Mitarbeiters vorgeworfen wurden. Der Ablauf von sieben Jahren seit der Ausstrahlung reiche nicht aus, um ein "Recht auf Vergessenwerden" auszulösen, so das Gericht. 

Die Bedeutung der Entscheidung liegt insbesondere darin, dass das BVerfG erstmals eine Verfassungsbeschwerde allein an EU-Grundrechten prüft. Walther Michl nennt dies auf verfassungsblog.de eine bahnbrechende Weichenstellung, deren Bedeutung für die verfassungsgerichtliche Dogmatik vergleichbar sei mit dem Lüth- oder dem Apotheken-Urteil. Das BVerfG berufe sich auf die Integrationsverantwortung aus Art. 23 Abs. 1 GG und dehne damit die rechtlichen Grundlagen für seine Tätigkeit aus. Mit diesem "Trumpf" könne es sich nun mit Fällen beschäftigen, die nach bisheriger Rechtsprechung "tabu" waren. Auch die taz (Christian Rath) erläutert das Modell genauer: Das BVerfG wolle künftig am Maßstab der EU-Grundrechte auch dann entscheiden, wenn die Materie eigentlich voll EU-harmonisiert sei. Am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung erläutert die taz (Christian Rath) die teils deutlichen Unterschiede der Rechtsprechung von BVerfG und EuGH. Der EuGH sei hier deutlich strenger. 

Für Reinhard Müller (FAZ) sorgt das Urteil dafür, dass das Bundesverfassungsgericht selbst nicht vergessen werde. Es wolle nicht marginalisiert werden, sondern das "Heft in der Hand" behalten.

Rechtspolitik

Gemeinnützigkeit von "Männer-Vereinen": Auf verfassungsblog.de befasst sich Ulrike Spangenberg mit den Plänen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), solchen Vereinen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, welche die Mitgliedschaft vom Geschlecht abhängig machen. Spangenberg verteidigt den Plan gegen Kritik: Der Staat sei bei der finanziellen Förderung an verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden, wozu insbesondere der Schutz vor geschlechtsbezogener Diskriminierung und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehörten. Umgekehrt könnten ausnahmsweise aber reine Frauen-Vereine durchaus als gemeinnützig gelten, und zwar dann, wenn sie nach Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz zur Beseitigung geschlechtsbezogener Nachteile gegründet seien. Allerdings müsse im Interesse der Rechtssicherheit konkretisiert werden, was genau damit gemeint sei.

Justiz

BGH zu wenigermiete.de: Das Geschäftsmodell der Plattform "wenigermiete.de", welche von dem Legal-Tech-Unternehmen Lexfox betrieben wird, ist von dessen Inkassolizenz gedeckt. Dies hat der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil entschieden, wie u.a. SZ (Thomas Öchsner), Welt (Karsten Seibel)BadZ (Christian Rath), FAZ (Marcus Jung) und lto.de (Pia Lorenz) berichten. Die Plattform ermöglicht einen algorithmusgesteuerten Direktvergleich der eigenen Miete mit dem jeweiligen Mietspiegel. Kunden mit zu hohen Mieten können die hieraus resultierende Mietzinsrückforderung an Lexfox abtreten, damit diese den Anspruch gegenüber den Vermietern durchsetzt. Dabei müssen die Kunden nur im Erfolgsfall zahlen. Lexfox agiert dabei auf der Grundlage einer Inkassolizenz, welche lediglich eine Befugnis zur Einziehung von Forderungen umfasst. Kritiker sahen in dem Geschäftsmodell eine unzulässige Rechtsdienstleistung. Der BGH entschied sich nun für eine "eher großzügige Betrachtung" des Begriffs der Inkassodienstleistung. Zwar gehe es grundsätzlich darum, Verbraucher vor unqualifizierten Dienstleistungen zu schützen. Allerdings habe der Gesetzgeber auch das Ziel gehabt, den Markt für Rechtsdienstleistungen zu öffnen und die Entwicklung neuer Berufsbilder zu erlauben. tagesschau.de (Frank Bräutigam) stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zum BGH-Urteil zusammen.

BGH – Privatparkplätze: Der Bundesgerichtshof hat am Mittwoch über Fragen des Falschparkens auf Privatparkplätzen verhandelt. Grundsätzlich können private Anbieter ihre Ansprüche nur gegenüber dem Fahrer geltend machen, nicht gegenüber dem Halter. In unteren Instanzen hatten Gerichte darüber hinaus einen Anscheinsbeweis dafür abgelehnt, dass der Halter auch der Fahrer sei, und den Halter auch nicht zur Offenbarung des Fahrers verpflichtet. Der BGH erwäge nun eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten, so lto.deDiese würde dazu führen, dass der beklagte Halter den Fahrer benennen müsse, wenn der klagende Betreiber nicht oder nur mit viel Aufwand nachweisen könne, wer gefahren sei und dem Halter die Auskunft möglich und zumutbar sei.

EuG zu Frontex-Auskünften: Die europäische Grenzschutzagentur Frontex muss Journalisten keine Auskunft über die von ihr im Rahmen der Operation "Triton" im Mittelmeer eingesetzten Schiffe geben. Dies hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) entschieden, wie lto.detaz (Christian Jakob) und netzpolitik.org (Anna Biselli) berichten. Frontex habe in plausibler Weise dargelegt, dass die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden könne. Schleuser und Kriminelle könnten die Angaben zu den patrouillierenden Schiffen missbrauchen, die Boote orten und damit die Grenzüberwachung umgehen.

AG Frankfurt/M. – U-Haft für Cum-Ex-Anwalt: Das Amtsgericht Frankfurt/M. hat im Cum-Ex-Verfahren Haftbefehl gegen den prominenten Steuerjuristen Ulf Johannemann erlassen. Dies berichtet u.a. SZ (Klaus Ott/Jan Willmroth). Das Gericht habe Fluchtgefahr geltend gemacht. Der Anwalt hatte als Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer etwa die Frankfurter Maple Bank beraten und ihr bescheinigt, dass die Aktiendeals steuerrechtlich in Ordnung seien. Die Inhaftierung eines Anwalts sei indes "bemerkenswert", zudem habe der Anwalt weder selbst Aktien gehandelt noch die Deals der Maple Bank organisiert. Die Behörden wollten "offenbar Härte demonstrieren."

AG Greifswald zu verbrühtem Kind: Das Amtsgericht Greifswald hat eine 28-Jährige wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Sie hatte ihre dreijährige Tochter deutlich zu heiß gebadet, wodurch diese tödliche Verbrennungen erlitt. Ein Gutachter attestierte der Angeklagten leicht verminderte Intelligenz. Es berichtet SZ (Peter Burghardt).

Recht in der Welt

Türkei – Peter Steudtner: Im Prozess gegen den in der Türkei wegen Terrorismus angeklagten deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner hat die Staatsanwaltschaft Freispruch beantragt. Dies melden spiegel.de und lto.de. Für den im selben Verfahren angeklagten Ehrenvorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, forderte die Staatsanwaltschaft allerdings eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Steudtner reagierte mit Unverständnis auf die unterschiedlichen Strafforderungen. Er sieht diese durch wirtschaftliche und politische Erwägungen der türkischen Regierung begründet.

Türkei – Vertrauensanwälte: Anlässlich der Verhaftung des türkischen Anwalts Yilmaz S., der für die deutsche Botschaft als "Vertrauensanwalt" tätig war, beleuchtet lto.de (Marion Sendker/Markus Sehl) deren Rolle. Sie überprüfen für deutsche Behörden Angaben von Asylbewerbern in Deutschland vor Ort in der Türkei. Nach der Verhaftung von Yilmaz S. wegen Spionage-Vorwürfen sollen rund 70 Asylakten in die Hände des türkischen Geheimdienstes MIT gelangt sein. Diese enthielten möglicherweise sensible Informationen über die Betroffenen, welche der türkische Staat gegen die Betroffenen nutzen könnte. Bei ihnen soll es sich vor allem um Menschen handeln, die aus politischen Gründen in Deutschland um Asyl gebeten haben.

Philippinen – Ampatuan-Massaker: Die taz (Sven Hansen) berichtet über das bevorstehende Urteil zum Ampatuan-Massaker auf der Insel Mindanao in den Philippinen. 2009 hatten Paramilitärs den Konvoi von Angehörigen eines Gouverneurs-Kandidaten angegriffen und 58 Menschen getötet. Unter den Toten waren 32 Journalisten. Unter Verdacht steht die lokalpolitisch einflussreiche Ampatuan-Familie. Diese wollte mutmaßlich durch das Massaker ihrer Privatarmee einen regionalen Herausforderer schwächen. Insgesamt 179 Personen sind angeklagt, von denen 80 noch flüchtig sind. 

Frankreich – Klage gegen "Guide Michelin": Der französische Spitzenkoch Marc Veyrat hat den Restaurantführer "Michelin" verklagt, weil dieser ihm einen der drei Sterne für sein Restaurant entzogen habe. Der Guide Michelin verwende keine überprüfbaren Kriterien und habe in seiner Bewertung fälschlich behauptet, der Koch habe in einem Soufflé Cheddar verwendet. Über die Verhandlung, in welcher Veyrat einen symbolischen Euro Schadensersatz verlangt, berichten SZ (Nadia Pantel) und FAZ (Michaela Wiegel). Der Michelin-Verlag hat seinerseits Klage eingereicht und verlangt von dem Koch 30.000 Euro Schadensersatz. Ein Urteil wird am 31. Dezember erwartet. 

Sonstiges

Rasen als Mord: Die FAZ (Edo Reemts) befasst sich mit den möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen von Raser-Urteilen, insbesondere auf das Verhältnis der Deutschen zum Automobil. Dabei kommt auch Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel zu Wort, der in Herstellung und Verkauf von Autos ein "erlaubtes Risiko" sieht. Sie seien zulässig, obwohl die mit ihnen einhergehenden Gefahren statistisch offenkundig seien.

Rentenbesteuerung: Der Richter am Bundesfinanzhof Egmont Kolosa hat einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die 40-jährige Übergangsregelung bei der Rentenbesteuerung als verfassungswidrig bezeichnet. Die Wortmeldung hat zu einer Anfrage der FDP im Bundestag geführt. Die SZ (Hendrik Munsberg) berichtet. 

Das Letzte zum Schluss

99 Probleme: Der US-Rapper Jay-Z verklagt einen australischen Kinderbuchhändler. Wie spiegel.de meldet, soll der Händler ungefragt Namen und Bild des Rappers für eine ABC-Fibel verwendet haben. Das "The Little Homie" genannte Buch solle Kindern anhand von Hip-Hop-Texten spielerisch das Alphabet beibringen. So stehe auf dem Buchrücken ein Zitat einer jugendfrei abgewandelten Version des Jay-Z-Hits "99 Problems": "If you're having alphabet problems I feel bad for you son, I got 99 problems but my ABCs ain't one."

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels. 

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mps

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage. 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. November 2019: . In: Legal Tribune Online, 28.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38937 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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