Die juristische Presseschau vom 16. Oktober 2024: EGMR zu Abschie­bung nach Grie­chen­land / StGB soll entrüm­pelt werden / LG Berlin I ver­han­delt über § 353d StGB

16.10.2024

Der EGMR verurteilte Deutschland wegen der Abschiebung eines Syrers nach Griechenland. Das Justizministerium legt einen Vorschlag zur Streichung von StGB-Normen vor. Kann Arne Semsrott § 353d Nr. 3 StGB zu Fall bringen?

Thema des Tages

EGMR zu Abschiebung nach Griechenland: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verstieß Deutschland gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, indem es 2018 einen syrischen Flüchtling direkt nach seiner Ankunft in Deutschland per Flugzeug nach Griechenland abschob, wo er zunächst EU-Boden betreten hatte. Es habe damals die Gefahr bestanden, dass er in Griechenland kein angemessenes Asylverfahren bekommt und stattdessen aus Griechenland in andere Länder, sogar nach Syrien, weitergeschoben wird. Deutschland habe außerdem nicht garantieren können, dass der Mann in Griechenland nicht unter Bedingungen inhaftiert wird, die seine Menschenrechte verletzen. Tatsächlich war er in Griechenland über zwei Monate inhaftiert. Deutschland muss nun eine Entschädigung in Höhe von 8.000 Euro bezahlen, Griechenland 6.500 Euro. Es berichten tagesschau.de (Max Bauer/Philip Raillon), LTO und beck-aktuell. 

Max Bauer (tagesschau.de) kommentiert: Wenn Nachbarländer wie die Niederlande oder Polen ankündigen, sich nicht mehr an das geltende EU-Asylrecht halten zu wollen, dürften auch diese Länder als Abschiebedestinationen ausfallen. Deutschland sei aber "selbst schuld" an der Aufweichung des EU-Asylrechts, weil es durch die Einführung von Grenzkontrollen "Wortlaut und Geist" der Schengen-Regeln verletzt habe.

Rechtspolitik

StGB: Ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums, der zeit.de (Eva Ricarda Lautsch/Heinrich Wefing) vorliegt und nun in die Ressortabstimmung der Bundesregierung gesandt wurde, sieht die Entkriminalisierung bestimmter Straftatbestände im Strafgesetzbuch vor. So solle es bei der sogenannten Fahrerflucht künftig ausreichen, bei einfachen Blechschäden seine Daten in einem polizeilichen Online-Portal zu hinterlegen. Die Leistungserschleichung solle künftig als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld geahndet werden. Ersatzlos gestrichen werden sollen § 134 StGB (Verletzung amtlicher Bekanntmachungen) und § 266b StGB (Scheckkartenbetrug). Die Mord- und Totschlag-Paragraphen sollen ihrer sprachlichen NS-Verstrickung entkleidet werden. Insgesamt sollen 15 Tatbestände geändert oder abgeschafft werden.

Asyl/GEAS: Bestimmendes Thema des am morgigen Donnerstag tagenden Europäischen Rates wird die Migration bzw. Maßnahmen zur Unterbindung illegaler Migration sein. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in Vorbereitung des Treffens ein Schreiben an die Mitgliedstaaten versandt, in dem zehn Punkte aufgeführt sind, auf die sich die neue Kommission in ihrer Arbeit konzentrieren will. So sollten "innovative Lösungen" gefunden werden, etwa die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerber:innen an Abschiebezentren in noch zu findenden Staaten außerhalb Europas. Der Ausschluss von Asyl bei der Einreise über sichere Drittstaaten könnte verschärft werden, indem auf das bisherige Erfordernis einer "sinnvollen Verbindung" des Flüchtlings zu diesem Drittstaat verzichtet wird. Es berichten FAZ (Thomas Gutschker), SZ (Josef Kelnberger) und Hbl (Dietmar Neuerer u.a.).

Marc Beise (SZ) bezweifelt, dass Neuerungen wie die just in dieser Woche eröffneten italienischen Lager in Albanien ein Modell für die EU sein können. Vielmehr seien sie "der bildhafte Beweis europäischer Hilflosigkeit und Unmenschlichkeit."

Sicherheitspaket: netzpolitik.org (Markus Reuter/Chris Köver) verlinkt die Änderungsanträge zum sogenannten Sicherheitspaket. Der Beitrag führt im Weiteren aus, dass die vermeintliche Entschärfung der ursprünglichen Vorschläge lediglich kosmetischer Natur sei. So sei etwa die Eingriffsschwelle der biometrischen Internetfahndung neu definiert worden. Die Maßnahme sei nach der aktuellen Entwurfsversion aber immer noch möglich, sobald ein Verdacht der Begehung "besonders schwerer Straftaten" möglich. Zu diesen könne auch die Unterstützung bei Betrug in einem Asylantrag zählen. 

Gesichtserkennung: netzpolitik.org (Chris Köver/Markus Reuter) erläutert, wie kommerzielle Anbieter mit Hilfe von illegalen biometrischen Datenbanken jetzt schon eine biometrische Internetfahndung ermöglichen. Eine solche Datenbank müsste auch das BKA einrichten, was aber nach der EU-KI-Verordnung verboten sei.

Abschuss von Wölfen Bayern: Nach nachgeholter Verbandsanhörung hat die bayerische Staatsregierung eine inhaltlich unveränderte neue Verordnung zum Abschuss von Wölfen erlassen. Wegen dieses Formfehlers hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Juli eine erste Version aufgehoben, erinnert LTO. Der Bund Naturschutz (BUND) will erneut gegen die Verordnung klagen, weil diese gegen EU- und Bundesrecht verstoße. U.a. sei es zu weitgehend, dass es schon als Gefahr für Menschen gelte, wenn sich ein Wolf bis auf 200 Metern Gebäuden nähere. 

Justiz

LG Berlin I - § 353d StGB/Arne Semsrott: Am heutigen Mittwoch und am übermorgigen Freitag verhandelt das Landgericht Berlin I die Anklage gegen den FragDenStaat-Gründer Arne Semsrott, dem ein Verstoß gegen § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch vorgeworfen wird. Dass der Aktivist gegen das Verbot der Veröffentlichung von Dokumenten eines Strafverfahrens im Wortlaut verstieß, indem er im August 2023 Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts München gegen Mitglieder der "Letzten Generation" hochlud, steht außer Frage. Vorrangiges Ziel war und ist eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung im Lichte der Pressefreiheit durch das Bundesverfassungsgericht. Das BVerfG hatte die Norm bereits 1985 und 2014 geprüft, aber nicht für verfassungswidrig erklärt. LTO (Max Kolter) und beck-aktuell (Maximilian Amos) berichten.

VGH BaWü zu Grabskulptur: Eine nahezu lebensgroße, mehrfarbige Skulptur auf einem Grab beeinträchtigt den allgemeinen Friedhofszweck des Totengedenkens. Dies führte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in einem Nichtzulassungsbeschluss aus der vergangenen Woche aus. Die von der Friedhofsverwaltung erlassene Beseitigungsverfügung ist damit rechtmäßig, so beck-aktuell.

LG Berlin I – Angriff auf Franziska Giffey: Im Strafverfahren über den tätlichen Angriff auf die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) beantragte die Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I die unbefristete psychiatrische Unterbringung des Beschuldigten. Helmut H. habe die Politikerin im Zustand der Schuldunfähigkeit angegriffen, gibt spiegel.de (Wiebke Ramm) das Abschlussplädoyer der Staatsanwaltschaft wieder. Von ihm gehe auch weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit aus. Die Verteidigung hält H. dagegen für schuldfähig, weshalb eine Unterbringung nicht möglich sei. Die Urteilsverkündung ist für den nächsten Freitag geplant.

LG Hamburg zu Urheberrecht und KI: Über das nun veröffentlichte, Ende September verkündete "wegweisende" Urteil des Landgerichts Hamburg zur urheberrechtlichen Zulässigkeit der Erstellung von KI-Trainingsdatensätzen als Text- und Data-Mining gem. § 60d UrhG berichtet nun auch vertieft Rechtsanwältin Saskia Ostendorff auf LTO.

LG Karlsruhe zu Foto eines Angeklagten: Wie schon im Eilverfahren entschied das Landgericht Karlsruhe nun auch in der Hauptsache, dass die Veröffentlichung des Fotos eines Angeklagten aus dem Strafprozess gegen Mitglieder der Gruppe Reuß durch den Fernsehsender RTL rechtswidrig war. Der Unterlassungsanspruch des Klägers resultiere aus dessen Persönlichkeitsrecht und der mit der Veröffentlichung verbundenen Stigmatisierung, so beck-aktuell.

LG Erfurt zu Amputationen: Wegen schwerer Körperverletzung in sieben Fällen hat das Landgericht Erfurt einen 75-Jährigen zu knapp vier Jahren Haft verurteilt. Zuletzt 2015 hatte der Angeklagte mit dem Einverständnis der Geschädigten und gegen Bezahlung auf seiner Wohnzimmer-Couch Amputationen von Hoden, Zehen und eines Penisses durchgeführt. Mit der Strafzumessung habe das Gericht Nachahmer:innen abschrecken wollen, so beck-aktuell über die mündliche Urteilsbegründung.

RiDG Sachsen – Jens Maier: Das zum Landgericht Leipzig gehörende Dienstgericht für Richter hat mitgeteilt, dass über das Disziplinarverfahren gegen den Richter und früheren AfD-Bundestagsabgeordneten Jens Maier am 25. Oktober verhandelt wird. Die vom Freistaat erhobene Klage hat die Entfernung des aktuell in den Ruhestand versetzten Maiers aus dem Dienst zum Ziel und wurde mit der "schuldhaften Verletzung von Dienstpflichten" durch Äußerungen u.a. über den Massenmörder Anders Breivik begründet. LTO berichtet. 

ArbG Braunschweig zu Gehalt von VW-Managern: Das Arbeitsgericht Braunschweig wies die Klagen von ca. zwei Dutzend früherer VW-Manager auf Gehaltsabzahlungen ab. Der Konzern hatte im März 2023 zugesagt, die Vergütungen von Angestellten außerhalb des kurz zuvor geschlossenen Tarifvertrags nach dessen Maßgabe zu erhöhen, diese Zusage im Rahmen von Sparmaßnahmen jedoch zurückgezogen. Laut FAZ (Christian Müßgens) lag eine Urteilsbegründung noch nicht vor.

Recht in der Welt

Frankreich – Marine Le Pen: In ihrer ersten Vernehmung hat die wegen Veruntreuung von Geldern des Europäischen Parlaments in Paris angeklagte Marine Le Pen sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen und deutlich gemacht, dass sie sich in einem politisch motivierten Verfahren wähnt. Ihre Büroleiterin, die fast nie im Europaparlament anwesend war, habe dennoch für sie (Le Pen) in ihrer Eigenschaft als Europaabgeordnete gearbeitet. Die FAZ (Michaela Wiegel) berichtet.

Polen – Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit: Die Richterin Joanna Hetnarowicz-Sikora von der "Vereinigung polnischer Richter", Iustitia, war während der PiS-Regierungszeit zeitweise suspendiert und arbeitet jetzt an Gesetzentwürfen, die die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit bezwecken. Dabei sollen die während der PiS-Zeit erfolgten Richtereinstellungen von Berufsanfänger:innen nicht in Frage gestellt werden, sondern nur Beförderungen erneut geprüft werden. Doch selbst wenn die Regierung die Vorschläge übernimmt, könnten sie derzeit nicht realisiert werden, weil Präsident Andrzej Dudas sein Veto einlegen würde. spiegel.de (Deike Diening) berichtet. 

Ukraine – Deserteure: Im Leitartikel sinniert Ronen Steinke (SZ) über den angemessenen Umgang mit ukrainischen Deserteuren, die nach Deutschland flüchteten. In der deutschen Diskussion sollte nicht vergessen werden, dass das grundrechtlich verbriefte Recht, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, unter dem Vorbehalt einer Prüfung der Motive durch Kreiswehrersatzämter stand.

Russland – französischer Politologe: Ein Moskauer Gericht hat den französischen Politologen Laurent Vinatier zu drei Jahren Straflager verurteilt, weil er versäumt hatte, sich für seine wissenschaftliche Arbeit behördlich als "ausländischer Agent" registrieren zu lassen. Der Experte sehe sich selbst als russophil, seine Verurteilung dürfte der Vorbereitung eines Gefangenenaustausches dienen, spekuliert die taz (Rudolf Balmer).

USA – Lufthansa: Weil einer Gruppe von mehr als 100 jüdischen Reisenden aus New York im Mai 2022 in Frankfurt/M. der gebuchte Weiterflug nach Budapest verweigert wurde, hat das US-amerikanische Verkehrsministerium der Lufthansa ein Bußgeld von vier Millionen Dollar wegen Diskriminierung auferlegt. Einige der Betroffenen hatten sich geweigert, während des Fluges FFP2-Masken zu tragen. Daraufhin war allen jüdischen Reisenden, die fälschlicherweise als feste Gruppe eingeordnet wurden,  der Weiterflug verweigert worden. Die Lufthansa wertete dies nun als "Ergebnis einer unglücklichen Reihe von ungenauer Kommunikation, Fehlinterpretationen und Fehleinschätzungen". spiegel.de berichtet.

Juristische Ausbildung

Kontakt mit Lehrenden: Ratschläge für die erfolgreiche Kontaktaufnahme mit Lehrenden gibt LTO-Karriere (Sabine Olschner). Wer dem Lehrpersonal durch interessierte Fragen oder Diskussionsbeiträge bekannt ist, erhöht nicht nur die Qualität der Studienatmosphäre, sondern hat auch bessere Aussichten auf wohlwollende Gutachten, z.B. für Stipendien.

Sonstiges

Digitale Dienste/Trusted Flagger: Anfang Oktober hat die Bundesnetzagentur mitgeteilt, eine baden-württembergische Stiftung als ersten sogenannten Trusted Flagger für die Meldung illegaler Inhalte auf Online-Plattformen bestimmt zu haben. tagesschau.de (Pascal Siggelkow/Nils Altland) erklärt die rechtlichen Grundlagen des im Digitale-Dienste-Gesetz – des nationalen Begleitgesetzes zur EU-Verordnung Digital Services Act – vorgesehenen "vertrauenswürdigen Hinweisgebers", dessen Meldungen die Plattformen vorrangig bearbeiten sollen. 

Im Interview mit der Welt (Deniz Yücel) nimmt Klaus Müller (Grüne), Präsident der zuständigen Bundesnetzagentur, zu dem Vorwurf Stellung, Trusted Flagger begünstigten Gesinnungsschnüffelei oder Denunziantentum. Hierzu beschreibt Müller das Verfahren zur Zertifizierung durch seine Behörde und die dem Hinweisgeber übertragenen Aufgaben.

Vertraulichkeit von Regierungstreffen: Der Tsp (Jost Müller-Neuhof) nennt die von Auswärtigem Amt und Bundesregierung verwendeten Argumente, die Namen der Teilnehmenden eines Abendessens von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit Israelkritiker:innen am 12. September nicht zu veröffentlichen. U.a. gehe es um den Schutz der Teilnehmenden; diese hätten teilweise selbst um Vertraulichkeit gebeten.

Klimaresilienz: Der SWR-RadioReportRecht (Elena Raddatz/Egzona Hyseni) untersucht in dieser Woche, inwiefern planungsrechtliche Vorgaben dem Ziel dienen können, Großstädte klimaresilienter zu machen.

Vermögensarrest: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ erläutern die Rechtsanwälte Michael Rozijn und Dirk Herzig das Instrument des Vermögensarrests, der gerade bei internationalen Sachverhalten geeignet ist, Ansprüche durchzusetzen.

Das Letzte zum Schluss

Sportwettbetrug: Ob die "World Conker Championships", die sogenannte Kastanienweltmeisterschaft, tatsächlich der Strafnorm gegen die Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe unterfällt, könnte fraglich sein. Gleichwohl erschüttert ein Manipulationsverdacht die Kastaniencommunity, wie die SZ (Martin Zips) schreibt. Dem immerhin auch schon 82-jährige Sieger wird vorgeworfen, statt normaler und zugeteilter Kastanien, eine Stahlkugel verwendet zu haben. Bei den Wettkämpfen gewinnt, wer möglichst viele der gegnerischen Kastanien zertrümmert, ohne die eigene zu zerstören.

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Mediums.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage. 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 16. Oktober 2024: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55634 (abgerufen am: 25.10.2024 )

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