Die juristische Presseschau vom 9. Juni 2022: EU-Frau­en­quote für Unter­neh­men­spitzen / BVerfG zu Schutz gegen Wahl­recht / Urteil gegen StA Osn­a­brück

09.06.2022

EU-Parlament und EU-Staaten einigten sich auf Frauenquote für Unternehmensleitungen. BVerfG gegen Überprüfung von Wahlrecht bei Beschwerden von Parteien. Pressemitteilung der StA Osnabrück zu Durchsuchung im BMJ war rechtswidrig.

Thema des Tages

Geschlechterquote in Unternehmen: Unterhändler:innen der EU-Staaten und des EU-Parlaments haben sich im Trilog auf verbindliche Geschlechterquoten für Leitungspositionen börsennotierter Unternehmen in der EU geeinigt. Die EU-Führungspositionen-Richtlinie wird vorsehen, dass die Staaten bis 2026 zwischen zwei Modellen wählen können: Entweder soll bei den nicht geschäftsführenden Aufsichtsratsmitgliedern eine Frauenquote von 40 Prozent erreicht werden oder eine durchschnittliche Quote von 33 Prozent in den Aufsichtsräten und Vorständen. Ob und wie eine Verfehlung der Quoten sanktioniert wird, soll weitestgehend den Mitgliedsstaaten überlassen werden. Bestehen bereits vergleichbare Regeln, so müssen diese nicht geändert werden. Das gilt auch für die in Deutschland geltende Frauenquote von 30 Prozent bei Aufsichtsräten von börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen. Der Durchbruch im Rat erfolgte nach langem Stillstand bereits im März; zuvor hatte die deutsche Vorgänger-Regierung unter Angela Merkel das Projekt lange blockiert. Formell müssen die EU-Staaten und das Europaparlament der Einigung noch zustimmen. Es berichten FAZ (Hendrik Kafsack), Hbl (Tanja Kewes), LTO und zeit.de.

Rechtspolitik

Corona — Infektionsschutzgesetz: Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hat am Mittwoch eindringlich zur Vorbereitung auf eine mögliche neuen Pandemie-Welle im Herbst aufgerufen und dabei auch Änderungen im Infektionsschutzgesetz (IfSG) gefordert, weil bestimmte Corona-bezogene Eingriffsermächtigungen Ende September auslaufen. Über eine Novellierung des IfSG herrscht in der Ampel Uneinigkeit. Argumentatives Gewicht dürfte der für Ende Juni erwartete Bericht des separaten Corona-Sachverständigenrats zu der Frage haben, welche Corona-Maßnahmen in der Vergangenheit sinnvoll waren. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) mahnte zur Ruhe und wies darauf hin, dass die Laufzeit der IfSG-Ermächtigungen bis 23. September extra so gewählt worden sei, "dass wir nach der Sommerpause zwei Sitzungswochen des Deutschen Bundestages haben, um ein ganz geordnetes, reguläres Gesetzgebungsverfahren zu durchlaufen." Es berichten FAZ (Kim Björn Becker), SZ (Angelika Slavik) und Welt.

Thomas Holl (FAZ) kommentiert, dass sich die Politik vorsichtshalber auf das schlimmste vom Expertenrat aufgeworfene Szenario vorbereiten sollte und daher rechtzeitig die gesetzlichen Grundlagen für wirksame Corona-Maßnahmen wie eine Maskenpflicht schaffen sollte. Vor allem sollten neue Regeln auch einheitlich und verständlich kommuniziert werden.  

EU-Rat für Justiz und Inneres: netzpolitik.org (Matthias Monroy) berichtet über die an diesem Donnerstag und Freitag anstehende Tagung des EU-Rats für Justiz und Inneres in Luxemburg. In den vorab veröffentlichten Schlussfolgerungen zur Terrorismusbekämpfung sei unter anderem vorgesehen, die anlasslose Speicherung von Vorratsdaten unter Berücksichtigung der einschränkenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs weiter voranzutreiben und in Sachen Verschlüsselung eine generelle Regelung zum "Zugang zu digitalen Informationen, einschließlich verschlüsselter Daten" anzustreben.

Justiz

BVerfG zu Wahlrechtsschutz: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht hat nun die Begründung zu einer wahlrechtlichen Grundsatzentscheidung aus dem Juli 2021 veröffentlicht. Damals hatte das BVerfG die Beschwerde der "Deutschen Zentrumspartei" gegen eine Entscheidung des Bundeswahlausschusses zurückgewiesen, wonach die Zentrumsparte zur Bundestagswahl 2021 nicht als Partei anerkannt wurde. Wie das BVerfG nun begründete, habe der Rechtsschutz im Wahlrecht weiterhin grundsätzlich nach der Wahl zu erfolgen. Dies werde zwar durch die (vor der Wahl mögliche) Nichtanerkennungsbeschwerde durchbrochen, jedoch könne das BVerfG in deren Rahmen wegen der naturgemäß kurzen Fristen grundsätzlich keine Normenkontrolle des relevanten Wahl- und Parteienrechts vornehmen. LTO berichtet.

VG Osnabrück zu Durchsuchung im BMJ: Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat nach einer Klage des Bundesjustizministeriums festgestellt, dass Äußerungen in der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Osnabrück vom 9. September 2021, in der von einer "Durchsuchung" im BMJ die Rede war, rechtswidrig waren. Außerdem hat das VG Osnabrück der StA untersagt, ihre Äußerung "So groß ist unser Vertrauen nicht, dass wir glauben, sie würden uns alles freiwillig herausgeben" zu wiederholen und zu verbreiten. Die Tatsachenbehauptung sei falsch und damit rechtswidrig, weil tatsächl eine (freiwillige) Herausgabe der erwünschten Akten stattgefunden habe. Den zugrundeliegenden Durchsuchungsbeschluss hatte im Februar bereits das LG Osnabrück für unverhältnismäßig und damit rechtswidrig erklärt. Es berichten SZ, FAZ (Reinhard Bingener), LTO (Markus Sehl) und spiegel.de.

EUG zu Apple/Markenrecht: Wie LTO berichtet, hat das Gericht der Europäischen Union drei Klagen des Technologiekonzerns Apple abgewiesen, mit denen das Unternehmen gegen eine Löschung des Wortzeichens "THINK DIFFERENT" durch das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vorgegangen war. Eine geschützte Marke müsse regelmäßig und ernsthaft benutzt werden, um einen Verfall des Schutzes zu verhindern. Apple hatte die Marke von 2011 bis 2016 über fünf Jahre hinweg nicht ernsthaft benutzt. 

BVerfG — Mord an Frederike von Möhlmann/Wiederaufnahme: Der Richter Thomas Melzer erörtert in der Zeit ausführlich die verfassungsrechtliche Diskussion zur umstrittenen Wiederaufnahme von Strafverfahren nach § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung anhand des Falls von Ismet H. Dieser hat beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, die nach Aussage des Gerichts wohl auch zur Entscheidung angenommen wird und sich gegen seine vom Landgericht Verden beschlossene und vom OLG Celle bestätigte U-Haft richtet. Rund um den Verfassungsgrundsatz "Ne bis in idem" gehe es um eine Abwägung von "Rechtsfrieden und Einzelfallgerechtigkeit, Rechtstreue und Unerträglichkeit."

BGH zu Kosten von Rauchmeldern: Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Mai, das nun veröffentlicht wurde, dürfen Mieter:innen nicht über die Nebenkostenabrechnung für (von Vermieter:innen installierte) Rauchmelder zur Kasse gebeten werden. Die Aufwendungen dafür sind grundsätzlich nicht umlagefähig, was insbesondere auch dann gelte, wenn die Geräte über einen externen Anbieter gemietet werden. spiegel.de berichtet.

BVerwG zu Online-Dating/Bundeswehr: Rechtsanwalt Patrick Heinemann bespricht auf dem Verfassungsblog kritisch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der Bundeswehr-Kommandeurin Anastasia Biefang, die Ende Mai mit ihrer Klage gegen einen Verweis gescheitert war, den sie wegen eines sexuell freizügigen Online-Dating-Profils erhalten hatte. Der Autor sieht in dem Verfahren ein Fortwirken spezieller Ehrvorstellungen des Soldatenstandes, die er ausführlich historisch erläutert.

OVG Berlin-BB zu Hintergrundgesprächen der Kanzlerin: Der Journalist Jost Müller-Neuhof hat doch keinen Anspruch gegen das Bundeskanzleramt auf Auskunft über sämtliche dort im Jahr 2016 geführten Hintergrundgespräche mit Journalist:innen. Das entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg und korrigierte eine gegenteilie Entscheidung des VG Berlin. Während das VG einen Anspruch auf Art. 5 des Grundgesetzes stützte und davon ausging, dass die begehrten Informationen auch noch im Bundeskanzleramt vorhanden sind, geht das OVG nun vom Gegenteil aus: Die verlangten Informationen seien im Bundeskanzleramt wegen des Regierungswechsels nicht mehr vorhanden und es bestehe auch keine Pflicht des Kanzleramtes, die Informationen zu ermitteln. Die Revision wurde nicht zugelassen. Es berichten der Tsp (Jost Müller-Neuhof) sowie LTO und spiegel.de.

OLG Bremen — Volksverhetzung durch Pastor: Auf zeit.de kritisiert Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler die Entscheidung des Landgerichts Bremen, die Verurteilung des Pastors Olaf Latzel durch das Amtsgericht Bremen wegen Volksverhetzung aufzuheben. Auf einem Eheseminar im Jahr 2019 hatte der Pastor Homosexualität u.a. als "Degenerationsform von Gesellschaft" bezeichnet und seine Aussagen vor Gericht mit Bibelstellen gerechtfertigt. Der Autor moniert, dass das LG sich bei der Urteilsbegründung auch darauf berief, dass der Pastor von der Bibel her argumentiere. Im Rechtsstaat gelte das Grundgesetz und nicht die Bibel. Die Staatsanwaltschaft hat bereits eine Revision beim Oberlandesgericht angekündigt.

OLG Schleswig zu Daten von Insolvenzschuldner:innen: Nach einem nun veröffentlichten Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig dürfen Wirtschaftsauskunfteien wie die Schufa Daten von Insolvenzschuldner nur so lange nutzen und verarbeiten, wie sie auf dem Internetportal "Insolvenzbekanntmachungen.de" veröffentlicht sind. Bisher gibt es dazu keine einheitliche Linie der Gerichte, eine Revision zum Bundesgerichtshof wurde zugelassen. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.

StA Köln — Cum-Ex/HSBC: Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt im Zusammenhang mit den Cum-Ex-Geschäften gegen Paul Hagen, den Aufsichtsratsvorsitzenden der Bank HSBC Deutschland. Es geht um den Verdacht der Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen. Es berichten das Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) und die FAZ.

StA Köln — Missbrauch durch Babysitter: Die Staatsanwaltschaft Köln hat mitgeteilt, dass gegen einen 33-jährigen Mann Haftbefehl wegen schweren sexuellen Missbrauchs erlassen wurde, der sich über das Internet als Babysitter anbot und so vier Kinder zwischen zwei und sieben Jahren missbrauchte. Auf seinem Mobiltelefon wurden entsprechende Fotos und Videos sichergestellt. Die FAZ berichtet.

Präsidentin des VerfGH NRW: Der WDR (Philip Raillon) portraitiert anlässlich ihres einjährigen Dienstjubiläums die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs NRW, Rechtsprofessorin Barbara Dauner-Lieb. Sie habe durch ihre Antrittsrede im Landtag im vergangenen Jahr maßgeblich den Bau eines eigenen Gebäudes für das oberste Gericht in NRW vorangetrieben, das bisher mit beim OVG NRW in Münster untergebracht war. Von der Regierung fordert sie außerdem eine größere Wertschätzung der Justiz, insbesondere in Sachen Personalausstattung.

Recht in der Welt

Schweiz – Sepp Blatter/Michel Platini: Vor dem schweizerischen Bundesstrafgericht in Bellinzona hat der Prozess gegen die früheren FIFA-Funktionäre Joseph Blatter und Michel Platini begonnen, denen Betrug zu Lasten des Verbandes vorgeworfen wird. Während Blatter kurz vor dem Prozess noch erklärte, dass er "gut gelaunt" und "zuversichtlich" sei, weil er sich nichts vorzuwerfen habe, musste seine Vernehmung dann auf diesen Donnerstag verschoben werden, weil er sich unwohl fühlte. An diesem Donnerstag soll auch Platini befragt werden. Insgesamt sind elf Verhandlungstage bis zum 22. Juni angesetzt und ein Urteil soll am 8. Juli verkündet werden. Es berichten SZ (Johannes Aumüller), FAZ, LTO und spiegel.de.

Großbritannien – Harvey Weinstein: Die britische Staatsanwaltschaft hat eine Anklagen gegen den früheren US-amerikanischen Film-Produzenten Harvey Weinstein zugelassen. Es geht um sexuelle Übergriffe gegen eine Frau im Juli und August 1996. In den USA ist Weinstein bereits 2020 wegen sexuellen Missbrauchs und einer Vergewaltigung zu 23 Jahren Haft verurteilt worden und dort steht auch noch ein weiteres Verfahren wegen weiterer Übergriffe auf fünf Frauen bevor. zeit.de berichtet.

USA – Anschlag auf Supreme-Court-Richter: Vor dem Haus des konservativen Supreme-Court-Richters Brett Kavanaugh ist ein bewaffneter 20-Jähriger festgenommen worden, der erklärte, er habe den Richter töten wollen. Er war aufgebracht über die kolportierte Absicht der obersten US-Richter, die Grundsatzentscheidung "Roe v. Wade" aus dem Jahr 1973 zum Recht auf Abtreibung abzuschaffen. spiegel.de berichtet.

USA – Turnerinnen gegen FBI: 90 Turnerinnen inklusive Olympia-Siegerin Simone Biles verklagen das FBI auf eine Schadensersatzzahlung in Höhe von über einer Milliarde Dollar. Sie werfen dem FBI vor, nicht schon 2015 beim Bekanntwerden der ersten Missbrauchs-Vorwürfe gegen den Sportarzt Larry Nassar gehandelt zu haben. Ein entsprechendes Unterlassen hatte dem FBI im Juli 2021 auch das Büro des Generalinspekteurs des US-Justizministeriums vorgeworfen. Gegen Nassar sind seit 2016 insgesamt drei Urteile mit Strafen von insgesamt bis zu 175 Jahren Haft verhängt worden. Es berichten die Welt und spiegel.de.

Kanada – Tödliches Internetmobbing: In Kanada hat der Prozess gegen den von den Niederlanden ausgelieferten Aydin C. begonnen, der die 15-jährige Amanda Todd im Internet gemobbt und erpresst haben soll, woraufhin sich die Jugendliche nach einer Veröffentlichung ihrer Geschichte bei YouTube selbst tötete. C. ist um die vierzig Jahre alt und soll die Jugendliche zu einem Nacktbild überredet haben, mit dem er sie anschließend für weitere sexualisierte Handlungen zu erpressen versuchte und das Foto veröffentlichte. Ihm wird unter anderem der Besitz von Material, das sexuelle Misshandlungen von Kindern zeigt, kriminelle Belästigung sowie Erpressung vorgeworfen. spiegel.de berichtet.

Tschechien – Andrej Babiš: Am Dienstag hat das Prager Stadtgericht den Antrag des ehemaligen Ministerpräsidenten Andrej Babiš abgelehnt, sein Strafverfahren wegen Beihilfe zum Subventionsbetrug in einer nicht öffentlichen Verhandlung abzuhalten. Das Verfahren soll ab dem 12. September im größten Verhandlungssaal des Justizpalastes stattfinden. Als Angeklagter kann Babiš nicht am Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl im Januar 2023 teilnehmen. Die taz (Alexandra Mostyn) berichtet.


Sonstiges

Legal Data Science: Auf LTO erklärt der Jurist und Datenanalyst Seán Fobbe die Grundlagen der Legal Data Science, wobei es im Kern um das Trennen von relevanten und irrelevanten Informationen durch reproduzierbare quantitative Analysen gehe. Er kritisiert den schwierigen Zugang zu juristischen Daten in Deutschland und lobt die EU für die freie Bereitstellung des gesamten verfügbaren Bestands des EU-Rechts unter freier Lizenz über offene Schnittstellen.  


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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/tr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 9. Juni 2022: . In: Legal Tribune Online, 09.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48691 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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