Die juristische Presseschau vom 9. Juni 2021: Kin­der­rechte-Vor­haben schei­tert / Cum-Ex-Pro­zess ohne Ange­klagten / Mladic-Urteil rechts­kräftig

09.06.2021

Das Vorhaben, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, ist in der laufenden Legislaturperiode gescheitert. Für den nächsten Cum-Ex-Prozess am LG Bonn fehlt der Schweizer Angeklagte. Die Verurteilung Ratko Mladics ist rechtskräftig.

Thema des Tages

Kinderrechte ins Grundgesetz: Das Vorhaben, die Rechte von Kindern durch prominente Platzierung im Grundgesetz sichtbarer zu machen, ist vorläufig gescheitert. Dies gab Bundesjustiz- und Familienministerin Christine Lambrecht (SPD) nach einem abschließenden Treffen mit den Bundestagsfraktionen bekannt. Die für eine Grundgesetzänderung erforderliche Einbeziehung weiterer Fraktionen sei der Regierung nicht gelungen, so LTO (Markus Sehl). Die FAZ (Helene Bubrowski) beschreibt, dass auch ein letzter Kompromissvorschlag Lambrechts, den Beteiligten die gewählte Formulierung durch die zusätzliche Aufnahme einer Staatszielbestimmung schmackhaft zu machen, erfolglos blieb. deutschlandfunk.de (Gudula Geuther) beschreibt ausführlich die von der Regierung und den Fraktionen vertretenen Positionen.

Henrike Roßbach (SZ) bezeichnet das Scheitern als "politisches Lehrstück". Das vermeintliche Regierungsprojekt habe von Beginn an unter der unterschiedlichen Motivation seiner Partner gelitten, über diesen Auseinandersetzungen sei auch die Unterstützung von FDP und Grünen verloren gegangen. Der ursprüngliche "Gedanke, Kinder als eigenständige Subjekte sichtbarer zu machen", sei derweil "in den Hintergrund" geraten.

Rechtspolitik

StPO: Die Große Koalition hat sich auf Ergänzungen der Strafprozessordnung verständigt. Zentrale Neuerung sei die bundesweite Einführung sogenannter automatisierter Kennzeichenlesesysteme, berichtet netzpolitik.org (Markus Reuter). Die so erfassten Kennzeichen würden allerdings nicht gespeichert, wie dies in einigen Bundesländern bereits praktiziert wird. Daneben sollen polizeiliche Hausdurchsuchungen auch während der Nachtzeit gestattet sein, wenn ein elektronisches Speichermedium als Beweismittel in Frage kommt.

Corona – Home Office: Trotz neuer Freiheiten im öffentlichen Raum gilt die mit der letzten Novellierung des Infektionsschutzgesetzes beschlossene grundsätzliche Home Office-Pflicht weiterhin. Die Rechtsanwälte Michaela Felisiak und Dominik Sorber bezeichnen dies auf LTO-Karriere als unverhältnismäßig. Sie schlagen vor, die Anwendung der Regelung auf Geimpfte und Genesene auszuschließen.

Umsetzung EU-Urheberrecht: Die vor einigen Wochen vom Bundestag verabschiedete Umsetzung der novellierten EU-Richtlinie zum Urheberrecht durch ein Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz findet im Gastbeitrag von Habilitand Jannis Lennartz und Rechtsanwältin Viktoria Kraetzig im Recht und Steuern-Teil der FAZ nur geringen Anklang. Ein "schwierig umzusetzendes Pflichtenprogramm" solle zwar wohl möglichst allen Interessen gerecht werden. Die Lösung übersehe aber, dass im Konflikt zweier grundrechtlich geschützter Positionen durch Abwägung – "nicht durch Filter" – ein schonender Ausgleich herzustellen sei.

Justiz

LG Bonn – Cum-Ex/Sarasin-Bank: Ein für die nächste Woche geplanter weiterer Strafprozess in Sachen Cum-Ex steht am Landgericht Bonn vor einer ungewissen Lage. SZ (Klaus Ott u.a.), LTO und Hbl (Volker Votsmeier) berichten, dass der Angeklagte, ein Ex-Mitarbeiter der Privatbank Sarasin, mitgeteilt habe, dass er in seiner Schweizer Heimat zu bleiben gedenke. Dem Banker wird eine besonders schwere Steuerhinterziehung mit einem Schaden von gut 460 Millionen Euro vorgeworfen. Gegenüber der ermittelnden Staatsanwaltschaft Köln habe sich der Mann noch auskunftsfreudig gezeigt.

Deren zuständige Ermittlerin, Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, und ihr hartnäckiges Wirken wird von der taz (Christian Rath) vorgestellt.

BVerfG zu Grundrechten von Ferkeln: Ohne Begründung hat das Bundesverfassungsgericht eine von der Tierrechtsorganisation Peta "im Namen der männlichen Ferkel" erhobene Verfassungsbeschwerde verworfen, schreibt die taz (Christian Rath). Die Klage hatte die vom Bundestag 2019 verlängerte Möglichkeit der betäubungslosen Kastration angegriffen und sich hierbei auf ein Grundrecht auf Schmerzfreiheit berufen. Die Anwältin Cornelia Ziehm, die die Verfassungsbeschwerde formuliert hatte, monierte nun, dass das Gericht die "Chance vertan" habe, dem verfassungsrechtlich geforderten Tierschutz Geltung zu verleihen. Es sei unumgänglich, Tieren Subjektsqualität zuzusprechen.

BGH zu Banken-AGBs: Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Unwirksamkeit bestimmter von Banken verwendeter AGBs bringen sich nach Darstellung des FAZ-Einspruchs (Christian Siedenbiedel) Verbraucheranwälte in Stellung, um Erstattungsansprüche von Verbrauchern geltend zu machen. Eine Berliner Kanzlei habe nun ein Modell entworfen, bei dem der Mandantschaft gegen Abtretung von 25% des letztlich Erlangten geholfen werden könne.

OLG Stuttgart – Gruppe S.: Der Strafprozess gegen Mitglieder der mutmaßlich rechtsterroristischen "Gruppe S." wurde am Oberlandesgericht Stuttgart mit dem Vernehmungsvideo des Angeklagten Paul U. fortgesetzt. Die Anklage stütze sich im Wesentlichen auf die Angaben U.s, der im Prozess von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht. spiegel.de (Julia Jüttner) gibt Stellungnahmen der Verteidigung der übrigen Angeklagten wieder: Diese hätten etwa "Belastungseifer" oder einen "völlig übersteigerten Selbstdarstellungswillen" U.s erkannt.

OLG Frankfurt/M. – Franco A.: Im Verfahren gegen den Bundeswehroffizier Franco A. hat der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. Zweifel an der Einlassung des Angeklagten geäußert, er habe Missstände in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung aufdecken wollen. Eine investigative Recherche hätte es nicht erfordert, ein Doppelleben über 15 Monate aufrechtzuerhalten, so der Richter nach Einsichtnahme in die von A. gefertigten Handyvideos. faz.net berichtet.

OVG Nds zu Corona/Prostitution: Das niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg hat das coronabedingte Prostitutionsverbot im Land wegen einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes außer Kraft gesetzt. Angesichts sinkender Infektionszahlen sei es nicht einsichtig, warum die Prostitution – bei Beachtung der auch für andere körpernahen Dienstleistungen geltenden Hygieneregeln – komplett verboten werden müsste. Die Entscheidung meldet lawblog (Udo Vetter).

Recht in der Welt

IRMCT – Ratko Mladic: Der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe hat die 2017 erfolgte Verurteilung von Ratko Mladic, des früheren Militärchefs der serbischen Minderheit in Bosnien-Herzegowina, zu einer lebenslänglichen Haftstrafe bestätigt. Mladic ist damit rechtskräftig wegen eines in Srebrenica verübten Völkermordes verurteilt. Die von der Anklage angestrebte Verurteilung wegen Massakern in anderen Orten wurde vom IRMCT verworfen, die diesbezüglichen Freisprüche sind damit gleichfalls rechtskräftig. SZ (Florian Hassel) und LTO berichten. Ein Hintergrundbericht von spiegel.de (Jan Puhl) erinnert an Mladics Wirken in den Kämpfen in Bosnien.

Tobias Zick (SZ) begrüßt in einem Kommentar, dass mit der Entscheidung nun "das Mindeste an Gerechtigkeit und Genugtuung für die Angehörigen der Opfer" der "schwersten Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg" geschaffen wurde. Ob sie zu einer dauerhaften Befriedung der Region beitrage, sei indes mehr als fraglich. Erst die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft habe die serbische Kooperation mit dem Tribunal zustande gebracht, "ihre Relevanz und ihren Einfluss" sollte die EU nicht unterschätzen.

Schweiz – Terrorismusbekämpfung: Am kommenden Sonntag wird in der Schweiz über die Verabschiedung eines bereits im vergangenen Jahr vom Parlament beschlossenen "Bundesgesetzes über polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus" abgestimmt, berichtet die FAZ (Johannes Ritter). Das Gesetz erlaube auch Präventivmaßnahmen der Polizei gegenüber Gefährdern, zu denen bereits 12-Jährige zählen können. Es stütze sich dabei auf eine besonders weite Definition von Terrorismus. Trotz vielfältiger Proteste und Kritik, etwa in einem Rundschreiben von mehr als 60 Rechtswissenschaftlern oder von der UNO-Sonderbeauftragten für Menschenrechte, sähen Umfragen eine 60-Prozent-Mehrheit für das Gesetz.

Türkei – HDP: Beim für die Aufsicht der politischen Parteien in der Türkei zuständigen Kassationshof ist ein erneuter Antrag auf Verbot der links-kurdischen HDP eingegangen. Der Generalstaatsanwalt habe neben dem Parteiverbot auch ein Politikverbot für 500 Mitglieder beantragt, berichtet die FAZ (Rainer Hermann). Ein erster Antrag war im März als unzulässig verworfen worden, weil vom letzteren Verbot auch bereits verstorbene Funktionäre der HDP betroffen sein sollten. Als Verbotsgrund werde die angebliche Absicht der HDP genannt, die Integrität des Staates zu untergraben.

Niederlande – Shell und Klima: Ein Urteil wie die Den Haager Shell-Entscheidung werde es in Deutschland nicht geben, prognostiziert Rechtsanwalt Alexandros Chatzinerantzis in einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ. Zivilrecht stoße an Grenzen, "wo die Allgemeinheit als Schädiger fungiert". Ein "Webfehler" des Urteils bestehe auch in der Verkennung der Adressaten der Pariser Klimaziele. Diese verpflichteten Vertragsstaaten, die sich wiederum in einem politischen Prozess über die konkrete Umsetzung verständigen müssten.

Juristische Ausbildung

OVG NRW zu Klausurkopien: Ein Anspruch auf kostenlose Zurverfügungstellung von Kopien der eigenen Examensklausuren ergibt sich nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen aus der Datenschutzgrundverordnung. Daher muss das beklagte Justizprüfungsamt dem erfolgreich zweitexaminierten Kläger die erbetenen Kopien von Klausuren und Prüfergutachten als personenbezogene Daten kostenfrei zur Verfügung stellen. Das Land hatte laut LTO-Karriere rund 70 Euro Kopierkosten verlangt.

Sonstiges

Vertragsverletzungsverfahren/PSPP-Urteil: Am heutigen Mittwoch wird die EU-Kommission voraussichtlich entscheiden, dass sie gegen die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, berichten SZ (Björn Finke)FAZ (Werner Mussler) und LTO. Gegenstand ist das umstrittene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten PSPP-Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank aus dem Mai 2020.

Parteiausschlüsse: Angesichts prominenter Beispiele aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit macht sich Rechtsreferendar Svend Jürgensen im Verfassungsblog Gedanken über den Rechtscharakter von Parteiausschlüssen. Diese müssten angesichts der grundgesetzlichen Richtungsentscheidung zu demokratischen Grundsätzen in Parteien willkürfrei in rechtsförmigen Verfahren beschlossen werden.

Geschlechtergerechte Sprache: An der Diskussion über geschlechtergerechte Sprache auch und gerade in Rechtstexten beteiligt sich Rechtsreferendar Jan-Daniel Külken in einem ausführlichen Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch. Gerade weil die Rechtswissenschaft "von der Auseinandersetzung mit sprachlichen Feinheiten und Formulierungen" lebe, müsse sich ein sprachlicher Wandel "in Debatte und Auseinandersetzung" vollziehen. Jüngste Beispiele aus Rechtsprechung und der Verwaltung belegten, dass sich "selbst die notorisch traditionsbewusste juristische Lehre" dem Thema annähere. Es sei allerdings kaum abzusehen, "wie eine allseits akzeptierte, semantisch eindeutige und zugleich gut lesbare Lösung" aussehen könnte.

Kapitalismus und Zivilrecht: In ihrem Forschung und Lehre-Teil berichtet die FAZ (Wolfgang Krischke) über eine Podiumsdiskussion zum Buch "Der Code des Kapitals" von Katharina Pistor. Während die Autorin ihre These vom Zivilrecht als Werkzeug der Vermögenden, die von Finanzanwälten als "Herren der Codes" unterstützt werden, vertrat, habe Rechtsprofessor Hans-Bernd Schäfer auf die Flexibilität des Rechts als Grundlage allgemeinen Wohlstands verwiesen. Beide hätten versäumt, auf den "Staat als Reparaturbetrieb des Kapitalismus" aufmerksam zu machen, so das Resümee.

Gewerbemiete und Hitze: Außergewöhnliche Hitzephasen können den Geschäftsbetrieb von Gewerbemietern ebenso belasten wie die Gesundheit und Produktivität von Mitarbeitern. Ob sich betroffene Mieter wegen klimabedingter Einschränkungen auf einen Sachmangel berufen können, ist in der Rechtsprechung umstritten, wie Rechtsanwältin Stefanie Minzenmay auf LTO darlegt. Der Bundesgerichtshof etwa habe 2013 entschieden, dass es keine Vermieter-Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung der technischen Ausstattung der Mietsache gibt. Zu empfehlen seien daher möglichst sorgfältige mietvertragliche Regelungen.

Grundrechte-Report: Der Grundrechte-Report 2021 befasst sich u.a. mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Grundrechte. Einzelheiten berichtet der SWR RadioReportRecht (Bernd Wolf).

Das Letzte zum Schluss

Sorry: Der Gedanke an einen Wurstautomaten lässt bestimmt die Herzen vieler Fleischliebhaber höher schlagen. Zu diesen dürfte auch eine unbekannt gebliebene Person zählen, die an einem solchen im saarländischen Homburg stationierten Gerät nicht vorübergehen konnte, ohne sich in den Besitz von Grillwürstchen und Schwenkbraten im Wert von 250 Euro zu versetzen. Und einen Entschuldigungszettel zu hinterlassen. spiegel.de berichtet.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 9. Juni 2021: . In: Legal Tribune Online, 09.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45151 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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