Die juristische Presseschau vom 30. Juni 2023: Antrag beim BVerfG zum Hei­zungs­ge­setz / BVerfG ver­han­delte über Legas­thenie-Ver­merke / US-Sup­reme Court gegen Affir­ma­tive Actions

30.06.2023

CDU-MdB Heilmann verlangt beim BVerfG mehr Beratungszeit für das Gebäudeenergiegesetz. Das BVerfG verhandelte über die Klage von drei bayerischen Legasthenikern. Der US-Supreme Court kippt die Bevorzugung Schwarzer Bewerber beim Uni-Zugang.

Thema des Tages

BVerfG – Heizungsgesetz/Parlamentsrecht: Der Bundestagsabgeordnete und frühere Berliner Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) hat beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung beantragt, die dem Bundestag untersagen soll, die zweite und dritte Lesung des Entwurfes zum Gebäudeenergiegesetz (GEG) bereits nächste Woche - wie von der Ampel-Koalition geplant - auf die Tagesordnung zu setzen. Die Beschlussfassung über das sogenannte Heizungsgesetz solle erst möglich sein, wenn alle Abgeordneten die maßgeblichen Passagen mindestens zwei Wochen vor der Abstimmung schriftlich erhalten haben. Bei der ersten Lesung Mitte Juni habe das Parlament nur einen "Platzhalter" debattiert. Die entscheidenden Passagen sollen die Abgeordneten erst heute erhalten. Heilmann sieht dadurch seine Abgeordnetenrechte aus Art. 38 GG verletzt. Er erhofft sich durch seine Initiative eine Karlsruher Grundsatzentscheidung über "Mindeststandards eines gesetzlichen Verfahrens". Heilmann verweist auf eine Entscheidung des BVerfG zur Parteienfinanzierung vom Januar 2023, in der das Gericht eine auf zehn Tage begrenzte Beratung des Gesetzentwurfs für bedenklich hielt, ohne jedoch die Verfassungswidrigkeit festzustellen. Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahren weitestgehend dem Bundestag zur autonomen Gestaltung überlassen. Es berichten FAZ (Helene Bubrowski), SZ (Wolfgang Janisch/Robert Roßmann), taz (Anja Krüger) und Welt (Philipp Vetter).

Rechtspolitik

Suizidhilfe: Vor der für die nächste Woche geplanten Bundestagsabstimmung über eine gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe beschreiben der wissenschaftliche Mitarbeiter Christian Funck und die studentische Hilfskraft Kathrin Schnieders im FAZ-Einspruch den Weg zur aktuellen Rechtslage und stellen die beiden zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfe vor. Vorzugswürdig sei der "Castellucci-Vorschlag", weil er "Autonomie und Leben besser" schütze. So spielten bei einem Großteil von Suiziden psychische Erkrankungen eine Rolle, die in bestimmten Fällen auch die Einwilligungsfähigkeit von Betroffenen beeinflussten. Hierauf nehme der bevorzugte Entwurf Rücksicht, indem er eine fachärztliche Untersuchung vorsehe.

Verbraucherschutz-Verbandsklagen: Die FAZ (Katja Gelinsky) meldet, dass das Gesetzgebungsverfahren zu einer neuen kollektiven Abhilfeklage zur Durchsetzung von Verbraucherrechten noch vor der Sommerpause abgeschlossen werden soll. Das funktioniere allerdings nur, wenn der Bundesrat einer Fristverkürzung zustimme.

Verbreitung von Nacktaufnahmen: netzpolitik.org (Sebastian Meineck) berichtet über einem Forderungskatalog des Deutschen Juristinnnenbundes (djb) zur sogenannten "bildbasierten Gewalt". In einer Untersuchung kommt der djb zum Ergebnis, der bisherige rechtliche Schutz gegen die unbefugte Anfertigung sowie Weitergabe echter oder manipulierter Nacktfotos oder anderweitig sexuell konnotierter Bilder sei "lückenhaft". Die strafrechtlichen Normen §§ 184a, 184k und 201a StGB seien "vollkommen unsystematisch". Immerhin sei im Vorschlag der EU-Kommission für eine "Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" ein eigener Straftatbestand namens "nicht-einvernehmliche Weitergabe von intimem oder manipuliertem Material" vorgesehen. 

Justiz

BVerfG – Legasthenie-Vermerk in Zeugnissen: Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwochnachmittag über die Zulässigkeit von Legasthenie-Vermerken in Abiturzeugnissen verhandelt. Drei Betroffene aus Bayern verlangen die Entfernung aus ihren Zeugnissen, weil sie damit entgegen Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG diskriminiert wurden. Konkret angegriffen wird ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2015. Es unterscheidet zwischen Nachteilsausgleichen (die nicht im Zeugnis vermerkt werden dürfen) und Notenschutz (der im Zeugnis erwähnt werden darf). Beim sogenannten Notenschutz wird die Rechtschreibung nicht bewertet, damit werde der Bewertungsmaßstab verändert. Ein Vermerk dazu erhöhe die Aussagekraft des Zeugnisses. Die BVerfG-Richter:innen deuteten an, dass das vom BVerwG entwickelte Modell nicht überzeuge. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch) und LTO (Christian Rath).

EuGH zu Flaschenpfand: Pfandbeträge für Flaschen und andere Behältnisse sind kein Teil des von Verbrauchern zu zahlenden Endpreises und können daher separat ausgewiesen werden. Dies entschied nach Bericht von LTO der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des Bundesgerichtshofs. Der EU-Gerichtshof habe sich auf die EU-Richtlinie "über den Schutz der Verbraucher bei der Angabe der Preise der ihnen angebotenen Erzeugnisse" bezogen und nach deren Erwägungsgründen geschlussfolgert, dass die separate Ausweisung Verbraucherinformationen verbessere.

EuGH – Fingerabdrücke im Ausweis: In ihrem Schlussantrag hat Generalanwältin Laura Medina am Europäischen Gerichtshof die Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken für den Personalausweis als zulässig bezeichnet. Das mit der zugrundeliegenden EU-Verordnung verfolgte Ziel der Sicherheit von Ausweisen bei gleichzeitigem Ausschluss von Missbrauch lasse sich auf keine vergleichbare Weise erreichen. Der Bericht von netzpolitik.org (Markus Reuter) gibt auch die Einschätzung des Vereins Digitalcourage wieder, der die ursprünglich beim Verwaltungsgericht Wiesbaden erhobene Klage unterstützt. Die Organisation behauptet, dass Schwerpunkte der mündlichen Verhandlung nur unzureichend gewürdigt worden seien. Daher bestehe Zuversicht, dass sich der EuGH der Einschätzung nicht anschließe.

BGH zu Mordmerkmal Heimtücke: Der Bundesgerichtshof hat in einem nun veröffentlichten Urteil von Ende Mai die Verurteilung eines Mannes wegen Totschlags aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Köln zurückverwiesen. Dessen Prüfung des Mordmerkmals der Heimtücke sei fehlerhaft, weil auf die Abgabe des tödlichen Schusses beschränkt. Tatsächlich hätte das LG die unmittelbar davor liegende Phase, in der der Täter mit der Geschädigten an einen abgelegenen Ort fuhr, in den Blick nehmen und prüfen müssen, ob hier Arglosigkeit vorgelegen habe. LTO berichtet.

BFH zu Pokergewinnen: Der Bundesfinanzhof hat in einem nun veröffentlichten Urteil vom Februar entschieden, dass Pokergewinne versteuert werden müssen. Der Spielerfolg beruhe beim Pokern auf "individuellen Fähigkeiten des einzelnen Spielers", so dass "auf lange Sicht" kein Glücksspiel vorliege. Ein Mathematikstudent hatte binnen drei Monaten 60.000 Euro gewonnen und muss diese nun versteuern. LTO berichtet.

OLG BB zu Zwangsversteigerungsfehler: Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg muss eine Familie im Örtchen Rangsdorf ihr 2010 bei einer amtsgerichtlichen Zwangsversteigerung erworbenes Grundstück binnen eines Jahres räumen und das nach dem Erwerb errichtete Haus auf eigene Kosten abreißen lassen. Bereits 2014 habe das Landgericht Potsdam entschieden, dass die Voraussetzungen einer Zwangsversteigerung nicht vorgelegen hatten, weil das zuständige Amtsgericht nicht in ausreichendem Maße nach einem Erbe gesucht habe. Dessen Eigentumsrechte wögen nun schwerer, so das OLG. Die betroffene Familie setze nun ihre Hoffnungen in finanzielle Unterstützung seitens des Landes, dessen Justizministerium bereits signalisiert habe, einen Amtshaftungsanspruch prüfen zu wollen. LTO berichtet.

OLG Stuttgart zu SWR-App: Der SWR darf seine Nachrichten-App "Newszone" wieder anbieten. Das entschied laut einer Meldung der FAZ das Oberlandesgericht Stuttgart in einem einstweiligen Verfügungsverfahren. Verlage hatten geklagt, weil die App "presseähnlich" sei. Doch das OLG sah ein Prozesshindernis, weil zwischen den Verlagen und dem SWR kein Schlichtungsverfahren erfolgt war. Das OLG hob die Entscheidung der Vorinstanz auf, die die SWR-App untersagt hatte.

OLG München – tschetschenischer Auftragsmord: Nach einjähriger Prozessdauer hält die Bundesanwaltschaft die gegen einen Tschetschenen russischer Staatsangehörigkeit erhobenen Vorwürfe für erwiesen, er habe sich bereiterklärt, einen im deutschen Exil lebenden Landsmann heimtückisch zu ermorden. Am Oberlandesgericht München plädierte die Anklage daher für eine elfjährige Haftstrafe gegen Walid D., so spiegel.de.

LG Tübingen zu Missbrauch durch Gregor Braun: Über die Verurteilung des früheren Rad-Olympiasiegers Gregor Braun wegen Anstiftung zu schwerem sexuellen Missbrauch schreibt vertieft spiegel.de (Julia Jüttner). Im Mittelpunkt des Beitrags steht die wegen schwerem sexuellen Missbrauch und der Herstellung kinderpronografischer Schriften mitverurteilte Mutter des geschädigten Mädchens. Die 35-Jährige habe den Prozess "auffallend unberührt" verfolgt. Sie habe ihre ungewollte Tochter als Kapital benutzt, mit dem sie Einnahmen erzielen konnte.

LG Bochum zu falschen Impfbescheinigungen: In einem ersten Teilurteil hat das Landgericht Bochum eine Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten gegen den 67-jährigen Arzt Heinrich Habig verhängt, der in 207 Fällen Corona-Schutzimpfungsbescheinigungen ohne entsprechende Impfungen ausgestellt hatte. Sollte eine Verurteilung in weiteren Fällen hinzukommen, werde am Ende eine Gesamtstrafe gebildet, so die FAZ.

LG Kiel – rechtsextreme Pick-up-Attacke: Die taz-Nord (Andreas Speit) berichtet vorab über den am nächsten Montag beginnenden Prozess gegen Melvin S., der im Oktober 2020 in Henstedt-Ulzburg mit einem Pick-up am Rande einer AfD-Veranstaltung gezielt Gegendemonstrant:innen angefahren haben soll. Ihm werden versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr vorgeworfen.

Klimaklagen: Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet, dass die Zahl neu eingereichter Klimaklagen weltweit leicht gesunken sei, sich in Deutschland hingegen mehr als verdoppelt habe. Der Anteil von Klagen gegen Unternehmen hingegen sei weltweit gestiegen. Dies sind einige Ergebnisse des nun vorgestellten Berichts "Global Trends in Climate Change Litigation".

Recht in der Welt

USA – Affirmative Action: Der US-Supreme Court hat die sogenannte Affirmative Action beim Hochschulzugang beanstandet. Bewerber:innen aus ethnischen Gruppen, die ansonsten unterrepräsentiert wären, dürfen nicht mehr bevorzugt werden. Die jahrzehnte-alten Programme zielten vor allem auf die Förderung afroamerikanischer, hispanoamerikanischer und indigener Studienbewerber:innen ab. Studierende müssten vielmehr aufgrund ihrer Erfahrungen als Individuum beurteilt werden, so die mit sechs zu drei Stimmen ergangene Entscheidung. Geklagt hatte die Organisation "Studenten für faire Zulassung". die vor allem asiatisch-stämmige Amerikaner:innen vertritt. Sie wandte sich gegen die Zulassungsbestimmungen an den Universitäten Harvard und North Carolina. In der abweichenden Meinung der Gerichtsminderheit werden Überlegungen zu strukturellen Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen angestellt und der Gerichtsmehrheit vorgeworfen, eine den Realitäten widersprechende "Farbenbilndheit für alle" anordnen zu wollen. Die Berichte von FAZ (Sofia Dreisbach), SZ (Fabian Fellmann), taz und spiegel.de geben auch politische Reaktionen auf die Entscheidung wieder. Präsident Joe Biden kritisierte das Urteil als "schwere Enttäuschung".

USA – untätiger Hilfssherriff: Der durch seine Untätigkeit beim Schulmassaker von Parkland/USA im Februar 2018 weltberühmt gewordene Hilfssherriff Scot Peterson ist vom Geschworengericht freigesprochen worden. Peterson war angeklagt worden, weil er während des Massakers untätig blieb, obwohl er sich auf dem Schulgelände befand und bewaffnet war. spiegel.de berichtet.

Großbritannien – Asyl in Ruanda: Ruanda ist kein sicherer Drittstaat und ein Ausfliegen von Asylsuchenden ohne Verfahren in das Land verstößt daher gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Das urteilte in zweiter Instanz ein Berufungsgericht in London. Es gebe Grund zur Annahme, dass Ruanda die aus Großbritannien abgeschobenen Schutzsuchenden in ihre Heimatländer zurückdränge. Es berichten FAZ (Johannes Leithäuser) und taz (Dominic Johnson).

Dominic Johnson (taz) überlegt in einem separaten Kommentar, welche Konsequenzen das Urteil für die Pläne der EU haben könnte, umfassend EU-Anrainerstaaten als sichere Drittstaaten zu deklarieren. Nach den Maßstäben der Entscheidung wäre etwa der EU-Türkei-Deal zur Rücknahme syrischer Flüchtlinge illegal, da in der Türkei offen über die Deportation von Syrien-Flüchtlingen diskutiert werde.

Israel – Justizreform: Die von der israelischen Regierung geplante Justizreform soll offenbar abgeschwächt werden, schreibt die FAZ (Christian Meier). In einem Interview mit dem "Wall Street Journal" habe Ministerpräsident Netanjahu mitgeteilt, dass die Klausel, nach der das Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts überstimmen kann, nicht mehr vorgesehen sei.

Sonstiges

Umbenennung von Standardwerken: Nun berichtet auch LTO (Hasso Suliak) über eine vom bayerischen Justizministerium in Auftrag gegebene Studie des Instituts für Zeitgeschichte, die erhebliche NS-Verstrickungen von Otto Palandt und Heinrich Schönfelder belegt. Nach anhaltender Kritik hatte der C.H.Beck-Verlag die nach Palandt und Schönfelder benannten Standardwerke im Juli 2021 umbenannt.

AfD-Verbot: spiegel.de (Dietmar Hipp/Steffen Winter) moderiert ein Streitgespräch, in dem sich der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), für ein Verbot der AfD ausspricht und Rechtsprofessorin Sophie Schönberger dagegen argumentiert. Schönberger äußert große Zweifel an den Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens und macht auch verfassungspolitische Gründe geltend. Der Bundestagsabgeordnete plädiert dagegen für ein "Nebeneinander" des juristischen Verfahrens und einer gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung über die den grundgesetzlichen Vorstellungen von Menschenwürde zuwiderlaufenden Grundsätze der Partei.

Wolfgang Kaleck: Die SZ (Ronen Steinke) porträtiert Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der unter Berufung auf das völkerstrafrechtliche Weltrechtsprinzip schon Ermittlungen gegen das syrische Assad-Regime angestoßen hat und den Whistleblower Edward Snowden vertritt. Mit dem von ihm gegründeten und geleiteten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat er kürzlich Strafanzeige gegen iranische Justizfunktionäre bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gestellt.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Meoiums 

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/jpw/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 30.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52118 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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