Die juristische Presseschau vom 28. Dezember 2022: Ende der Corona-Maß­nahmen?/ BVerfG-Richter Huber im Inter­view / Haus­ar­beit mit KI?

28.12.2022

Die Ampel-Koalition diskutiert, ob Corona-Schutzvorschriften noch erforderlich sind. Der scheidende Verfassungsrichter Huber sprach mit der FAZ. Der Versuch, eine strafrechtliche Hausarbeit mit dem KI-Tool ChatGPT zu schreiben, scheitert. 

Thema des Tages

Corona-Maßnahmen: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) fordert, die noch geltenden Corona-Beschränkungen, etwa die Maskenpflicht im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, ersatzlos zu streichen. Er beruft sich auf Experten wie Christian Drosten, die einen Übergang der Corona-Pandemie zur Endemie erkennen. Nach dem Glossar des Robert-Koch-Institutes meint letzterer Begriff eine "in einer Gegend heimische Krankheit, von der ein größerer Teil der Bevölkerung regelmäßig erfasst wird." Dagegen will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) an den Einschränkungen vorerst festhalten und verweist auf die aktuelle Lage in Krankenhäuser sowie auf weiterhin bestehende Gefahren für vulnerable Gruppen. Diskutiert wird auch, die zum 7. April befristeten Beschränkungen und Ermächtigungen des Infektionsschutzgesetzes ersatzlos auslaufen zu lassen. Über die koalitionären Auseinandersetzungen berichten u.a. FAZ (Kim Björn Becker), Hbl (Jan Hildebrand/Frank Specht), zeit.de (Tilman Steffen) und spiegel.de (Severin Weiland). spiegel.de bringt eine Übersicht zu den Regeln, die in den Ländern auch weiterhin gelten. 

Sowohl Kim Björn Becker (FAZ) als auch Hanno Charisius (SZ) machen in ihren Kommentaren darauf aufmerksam, dass die begrifflichen Unterscheidungen zwischen Pandemie und Endemie tatsächlich wenig über die Gefährlichkeit eines Erregers und dessen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems aussagen. Angesichts der derzeitigen Rekordzahlen an Atemwegserkrankungen und deren Auswirkungen auf die medizinische Versorgung und zugleich kaum noch merkbaren Corona-Einschränkungen wirke die Eile des Justizministers befremdlich. Klaus Hillenbrand (taz) erwartet im Leitartikel "eine Kampagne für die Maskenfreiheit" der "siechenden FDP", die "nicht nur simpel, sondern auch vielversprechend" wäre. Auch wer weiterhin für Vorsicht plädiere, sollte sich angesichts einer weitverbreiteten Maskenmüdigkeit "nicht mit einer unpopulären Forderung verkämpfen."

Rechtspolitik

Amtsgerichte: Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kritisiert Überlegungen der Justizministerkonferenz (Jumiko), Verkehrsunfallsachen generell bei den Amtsgerichten anzusiedeln. Es gebe komplexe Fallgestaltungen mit schweren Verletzungen oder gar Todesfolgen von Unfällen, die die Kapazitäten von Amtsgerichten überstiegen. Die Herbstkonferenz der Jumiko hatte die Prüfung weiterer streitwertunabhängiger Zuständigkeiten der Amtsgerichte empfohlen. Im internen Bericht einer Jumiko-Arbeitsgruppe waren Verkehrsunfallsachen als geeigneter Bereich beschrieben worden. Vor allem aber empfiehlt der Bericht eine deutliche Anhebung des Zuständigkeitsstreitwerts, nachdem die Eingänge an den Amtsgerichten seit 1993 um 45 Prozent zurückgegangen waren. Hierüber werde die Jumiko bei ihrer Frühjahrskonferenz im Mai beraten. LTO berichtet. 

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Io Görz (zeit.de) beklagt, dass die Regierungskoalition nach der Vorstellung von Eckpunkten eines neuen Selbstbestimmungsgesetzes im vergangenen Juni keine weiteren Schritte zur Umsetzung dieses im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhabens unternommen habe. Stattdessen habe sich der öffentliche Diskurs auf vermeintliche Missbrauchsgefahren durch eine vereinfachte Anerkennung von Geschlechtsänderungen konzentriert. Argentinien habe vor zehn Jahren weltweit erstmals ein Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet, "Gewalt durch trans Frauen" sei dort kein zahlenmäßig erfasstes Problem.

Windenergie: Rechtsanwalt Christoph Riese kritisiert im Recht und Steuern-Teil der FAZ die in diesem Jahr unternommenen gesetzlichen Anstrengungen zum Ausbau der Windenergie als unzureichend und zum Teil auch kontraproduktiv. So hindere die Ausweisung von Flächenzielen die Nutzung weiterer geeigneter Flächen, wenn die Flächenziele erst einmal erreicht seien. Sinnvoller sei die Beschleunigung des Planungs- und Genehmigungsprozesses durch bessere Ausstattung der betreffenden Behörden. 

Datenschutz/Datentransfers: Hendrik Kafsack (FAZ) bezweifelt in einem Kommentar im Wirtschafts-Teil, dass die nun erzielte Einigung zwischen EU und USA für ein noch unbenanntes Datenschutzabkommen lange Bestand haben wird. "In nicht allzu ferner Zukunft" dürfte der Europäische Gerichtshof eine "Schrems III"-Entscheidung verkünden, mit der die nun erreichte "Kosmetik" hinfällig werde. Weil abzusehen sei, dass sich die USA weder unter diesem noch jenem Präsidenten den Vorgaben des EuGH beugen werden, müsse sich die EU entscheiden, "wie hoch sie die Fahne des absoluten Datenschutzes halten will."

Arbeitszeiterfassung: Im Anschluss an den Beschluss des Bundesarbeitsgerichtes zur Pflicht, die Arbeitszeit zu erfassen, plädiert Rechtsanwältin Sophia-Clara Schulte im Recht und Steuern-Teil der FAZ für eine umfassende Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes. Hierfür böten die unionsrechtlichen Vorgaben genügend Spielraum. Der Entwurf des Bundesarbeitsministerium werdei jedoch erst im Verlauf des ersten Quartals des kommenden Jahres erwartet.

Justiz

Verfassungsrichter Huber: In einem ausführlichen Interview mit der FAZ (Reinhard Müller) spricht Peter Michael Huber, der im Januar als Bundesverfassungsrichter ausscheiden wird, über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Corona-Wiederaufbau der EU, den jüngsten personellen Umbruch in Karlsruhe und die dortige berufliche Zusammensetzung, rechtsstaatliche Herausforderungen durch Reichsbürger sowie den Vorwurf, das BVerfG leiste einem Richterstaat Vorschub, dessen demokratische Legitimierung bestenfalls zweifelhaft sei.

BVerfG in 2022: Zum Abschluss des Jahres erinnert LTO (Annelie Kaufmann) an sieben wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den vergangenen zwölf Monaten. So habe sich das Karlsruher Gericht in seinem Urteil zur gemeinsamen Kreditaufnahme der EU als "dialogförderlich" erwiesen. Dagegen habe es im Hinblick auf Kommentare der damaligen Kanzlerin zur Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten im Frühjahr 2020 seine herkömmliche Linie zur Neutralitätspflicht von Amtsträgern bestätigt. Erwähnt werden auch die Entscheidungen zur einrichtungsbezogenen Corona-Impfpflicht sowie zur Impfpflicht gegen Masern, zu den Befugnissen des Verfassungsschutzes sowie zu Renate Künasts (Grüne) letztlich erfolgreichem Kampf gegen Online-Hasskommentare.

VG Wiesbaden zu Fluggastdaten-Verarbeitung: Nun berichtet auch netzpolitik.org (Tomas Rudl) über die kurz vor Weihnachten veröffentlichten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden, dass konkrete Anhaltspunkte für eine terroristische Bedrohung vorliegen müssen, damit das Bundeskriminalamt Fluggastdaten nach dem Fluggastdatengesetz (FlugDaG) verarbeiten darf. Für die nun wohl notwendige Änderung des Gesetzes wird der nächsten "Clinch" in der Regierungskoalition prognostiziert.

VG Neustadt a.d.W. zu Müllabfuhr: Kann ein Hausgrundstück aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht von der Müllabfuhr angefahren werden, müssen die Eigentümer ihre Abfalltonnen an einer anderen geeigneten Stelle bereitstellen. Dies urteilte das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße auf Klage von Eigentümern, denen aufgetragen worden war, ihre Tonnen 50 Meter von ihrem Grundstück entfernt aufzustellen. Dem Vorschlag der Kläger, das Grundstück rückwärts anzufahren, habe das beklagte Unternehmen nicht Folge leisten müssen. LTO berichtet.

StA Neuruppin – Letzte Generation: Bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin, die gegen Mitglieder der Letzten Generation wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, sind bereits rund 1.330 Selbstanzeigen von Unterstützer:innen der Gruppe eingegangen. Laut bild.de (Zara Riffler/Carl-Victor Wachs) habe die Gruppe zu Selbstanzeigen aufgerufen, um "die Ermittlungen zu erschweren." 

Recht in der Welt

Ukraine – Russischer Angriffskrieg: In einem Gastbeitrag für das Feuilleton der FAZ ergänzt Rechtsprofessor Reinhard Merkel die "klassische Trias der Normen legitimer Kriegführung" - ius ad bellum, ius in bello und ius post bellum - um den von Daniel Moellendorff geprägten Begriff des ius ex bello. Merkel kommt auf dieser Grundlage zum Schluss, dass die völkerrechtswidrig überfallene Ukraine einer (ethischen, aber nicht völkerrechtlichen) Pflicht unterliege, sich bereits vor der Wiederherstellung des Status quo auf Verhandlungen mit Russland einzulassen. 

Israel – Regierungsbildung: Zwei Tage vor der geplanten Vereidigung der neuen Regierung hat das israelische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Ernennung des wegen Steuerhinterziehung verurteilten Aryeh Deri (Schas) zum Innen- und Gesundheitsminister ermöglicht. Die Generalstaatsanwältin hat dagegen Bedenken angemeldet. Nach einer Petition hat zudem das Oberste Gericht den designierten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu (Likud) zu einer Stellungnahme aufgefordert. Am Zeitplan für die Vereidigung ändere dies jedoch nichts. Die FAZ (Christian Meier) berichtet. 

USA – Geschworene: Die FAZ (Sofia Dreisbach) erklärt "Theorie und Praxis" der in den USA für einen Prozess unerlässlichen Geschworenen. Mitglieder der "Jury" müssten fair und unvoreingenommen urteilen können und vom Gericht hierzu für fähig gehalten werden. Dies werde in einem "voir dire" genannten Verfahren ermittelt, bei dem Gericht und Parteien die Einstellung der nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kandidat:innen prüfen.

USA – geplante Entführung von Gretchen Whitmer: Zu 14 Jahren Freiheitsstrafe wurde Adam Fox verurteilt, einer der Rädelsführer der geplanten Entführung der Gouverneurin des US-Bundesstaats Michigan, Gretchen Whitmer (Dem). Schon Mitte Dezember waren drei Unterstützer verurteilt worden. Die Verschwörer lehnten Whitmers strenge Corona-Regeln ab und sorgten sich um das Recht auf Waffenbesitz. tagesschau.de berichtet.

Juristische Ausbildung

Hausarbeit mit KI? LTO-Karriere (Lorenz Menkhoff) versuchte, eine strafrechtliche Hausarbeit mit dem Chatbot ChatGPT zu schreiben, den das US-amerikanische Unternehmen OpenAI vor einem Monat vorgestellt hat. Nach Expertenmeinung setzt ChatGPT neue Maßstäbe bei der Erkennung von Kontexten und soll durch künstliche neuronale Netzwerke und sogenanntes Deep Learning in der Lage sein, auch komplexe Aufgaben selbständig zu lösen. Der Versucht lieferte aber eher ernüchternde Ergebnisse. Als "juristische Suchmaschine" könne ChatGPT nach derzeitigem Entwicklungsstand nicht angesehen werden, sein Potential sei jedoch "auch im Jura-Kontext" "enorm."

Sonstiges

Umtauschen: swr.de (Michael-Matthias Nordhardt) informiert über die Modalitäten beim Umtausch von Weihnachtsgeschenken. 

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. Dezember 2022: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50595 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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