Das BVerfG verkündete ein Grundsatzurteil zu Verfassungsschutz-Befugnissen. Der EuGH akzeptiert prinzipiell die umstrittenen Uploadfilter für Plattformen wie Youtube. Das BVerfG verhandelt über die Bezahlung von Arbeit hinter Gittern.
Thema des Tages
BVerfG zu BayVSG: Das 2016 in Kraft getretene Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) ist in weiten Teilen verfassungswidrig. Mehrere neue Befugnisse, die das Gesetz dem bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz einräumte, greifen nach einem Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts unverhältnismäßig in Grundrechte ein. Das BVerfG hat mit diesem Grundsatzurteil Maßstäbe für die heimlichen Ermittlungsbefugnisse aller Verfassungsschutzbehörden aufgestellt. Danach ist für Eingriffe der Verfassungsschutzbehörden nur dann eine konkrete Gefahr erforderlich, wenn sie "zu einer weitestgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können". Ansonsten genügt ein "hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf". Konkret beanstandet wurden jetzt die bayerischen Normen zur akustischen Wohnraumüberwachung, zur Online-Durchsuchung, zur Ortung von Mobiltelefonen, zur längerfristigen Observation sowie zum Einsatz von Verdeckten Ermittlern und V-Leuten. Meist forderte das Gericht höhere gesetzliche Einsatzschwellen, teilweise auch eine unabhängige Vorabkontrolle. Für die Übermittlung so gewonnener Daten durch den Verfassungsschutz an andere Behörden wie die Polizei fordert das BVerfG, dass die Empfänger die Daten mit den gleichen Methoden auch hätten erheben dürfen. Dem bayerischen Gesetzgeber räumte das BVerfG eine Frist bis zum 31. Juli 2023 zur Nachbesserung der beanstandeten Regelungen ein. Nur die Nutzung der Daten aus der (ohnehin ausgesetzten) Vorratsdatenspeicherung ist ab sofort verboten. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Helene Bubrowski/Marlene Grunert), taz (Christian Rath), spiegel.de (Dietmar Hipp), und netzpolitik.org (Anna Biselli). LTO (Markus Sehl) ordnet das Urteil zudem in die vom Gericht verfolgte Rechtsprechungslinie ein. Dabei werde das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdienst deutlicher konturiert. Der Ampel-Regierung, die eine "neue Ära für das Sicherheitsrecht" postuliert hatte, komme das Urteil "alles andere als ungelegen."
Wolfgang Janisch (SZ) bedauert, dass "ein bisschen Verfassungswidrigkeit im Dienste der inneren Sicherheit kaum politische Kosten hat." Es sei richtig, dass sich das Gericht an "einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen Nachrichtendiensten und Polizei" versucht habe und deren notwendige Kooperation "an verbindliche Vorgaben zum Schutz der Bürgerrechte" geknüpft habe. Zu wünschen bleibe, dass die anderen Verfassungsschutzgesetze in Bund und Ländern nunmehr "von sich aus" an die Karlsruher Vorgaben angepasst werden. Nach Einschätzung von Christian Rath (taz) hat sich das BVerfG nach einigem "Getuschel" wegen seiner großzügigen Corona-Rechtsprechung nun erneut "seinen Ruf als Wächter über unsere Grundrechte" gesichert. Nach der nun erforderlichen "Strafrunde durch das Parlament sind die beanstandeten Paragraphen dann mindestens doppelt so lang und kaum noch lesbar". Die Entscheidung schaffe einerseits Akzeptanz für die Wünsche der Sicherheitsbehörden, die am Ende doch erhalten, was sie wollen, und sensibilisiere diese andererseits für die Grundrechte der verdächtigen Bürger:innen.
Rechtspolitik
Tankrabatt: Rechtsprofessor Thomas Groß legt im Verfassungsblog dar, dass der in der Bundesregierung angedachte Tankrabatt gegen die aus Art. 20a Grundgesetz folgende Pflicht zur Reduktion der Emissionen im Verkehrssektor verstoße. Es könne nicht dem Belieben des Gesetzgebers überlassen bleiben, ob der Pflicht nachgekommen werde.
Fahrzeug- und Industriedaten: Rechtsanwalt Christoph Werkmeister warnt im Recht und Steuern-Teil der FAZ vor paradoxen Folgen des geplanten "EU Data Acts", der einen innovationsfördernden offenen Markt für Daten zu schaffen soll: "Ein Unternehmen, das by design Datenzugang ermöglicht und hierfür mit hohem Aufwand alle datenschutzrechtlichen Voraussetzungen schafft, wäre zur Bereitstellung der erhobenen Daten verpflichtet. Ein Unternehmen, das weniger Aufwand in das neue Datenrecht steckt, könnte den Datenzugang hingegen unter Verweis auf die strengen Datenschutzregeln verweigern." Datenschutz werde so zum Wettbewerbsnachteil.
Energiesicherung: Den soeben vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf zur Novellierung des Energiesicherungsgesetzes analysiert Rechtsanwalt Sven-Joachim Otto für den Recht und Steuern-Teil der FAZ. Im Fall der Anfang April erfolgten treuhänderischen Übernahme der Tochtergesellschaft Gazprom Germania wäre nach dem Entwurf im Bedarfsfall auch einer Enteignung der Weg "rechtlich geebnet", was allerdings zu erheblichen Entschädigungsansprüchen führen würde.
Justiz
EuGH zu Uploadfiltern: Art. 17 der 2019 novellierten EU-Urheberrechts-Richtlinie als Grundlage sogenannter Uploadfilter verstößt nicht gegen Unionsrecht. Dies entschied der Europäische Gerichtshof und lehnte eine Klage Polens ab. Laut EuGH schränken die von sozialen Netzwerken und Plattformen eingesetzten, automatisierten Filter zwar die Meinungs- und Informationsfreiheit betroffener Nutzer ein. Dies sei aber verhältnismäßig, weil zum einen Anbieter für Urheberrechtsverstöße ihrer Nutzer haften und daher entsprechende Kontrollmechanismen erforderlich seien. Zum anderen könnten Mitgliedstaaten in ihren Umsetzungsbestimmungen für eine grundrechtskonforme Anwendung von Art. 17 sorgen. Hier könnte die Bundesrespublik mit ihrem Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz ein geeignetes Beispiel sein, meinen Anwälte, die von LTO (Annelie Kaufmann) befragt wurden.
BVerfG – Strafgefangenen-Entlohnung: Vor der am heutigen Mittwoch am Bundesverfassungsgericht beginnenden Verhandlung zu Verfassungsbeschwerden gegen die Höhe der Entlohnung von Strafgefangenen bringt auch LTO (Hasso Suliak) einen vertieften Vorbericht. Nach der vom Gericht verschickten Verhandlungsgliederung sei eine umfassende Auslotung des Themas zu erwarten. An deren Ende könnte eine grundsätzliche Veränderung des Systems der Vergütung der in JVAs erbrachten Arbeit stehen. Frühere Entscheidungen des BVerfG hatten deutlich gemacht, dass Arbeit als Resozialisierungsfaktor auch von einer angemessen Vergütung abhänge. Diese erfordere zwar wohl nicht eine umstandslose Anwendung der Mindestlohnbestimmungen, könnte dagegen aber zumindest die soziale Absicherung Inhaftierter verbessern. Die SZ (Wolfgang Janisch) schildert zudem die Arbeit in Gefängnissen als Wirtschaftsfaktor, deren Funktion zur Resozialisierung Inhaftierter sich erst in der Weimarer Republik durchgesetzt habe. Der SWR RadioReportRecht (Charlotte Peitsmeier/Gigi Deppe) beschreibt in seinem Vorbericht die Bedingungen in der JVA Frankenthal in Rheinland-Pfalz.
OLG Celle – Mord an Frederike von Möhlmann: Nach dem jüngsten Beschluss des Oberlandesgerichts Celle, das gegen die auf § 362 Nr. 5 StPO n.F. gestützte Wiederaufnahme der Ermittlungen im Mordfall Frederike von Möhlmann keine verfassungsrechtlichten Bedenken hatte, unternimmt Oliver Garcia (delegibus-Blog) eine ausführliche Generalkritik der Ende des vergangenen Jahres in Kraft getretenen Neuregelung. Über eine ausführliche Darstellung der Vorgeschichte des "Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit", die "ein eindrucksvolles Beispiel dafür" biete, "wieviel in einem eingefahren erscheinenden politischen Betrieb mit Hilfe des Instruments des Petitionsrechts erreicht werden kann", gelangt der Autor zu der Einschätzung, dass der Gesetzgeber sich bei seinem Vorhaben "nicht mit einem chirurgisch exakten Eingriff zufrieden" gegeben habe. Bei dem Eingriff "am offenen Herzen des Verfassungsrechts" sei vielmehr "die Axt angelegt" worden. Das Gesetz sei eindeutig verfassungswidrig.
OLG Braunschweig zu KfZ-Versicherung: Die Auskunftspflicht von Versicherungsnehmer:innen umfasst nach einem von LTO berichteten Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig nicht lediglich die Weitergabe von Informationen zum Unfallhergang an die Versicherung. Diese dürfe vielmehr auch das Verhalten des Versicherten am Unfallort bewerten. Weil der betroffene Versicherungsnehmer nach einem Unfall mit einer Straßenlaterne das nahegelegene Haus seiner Eltern aufsuchte und dort nach eigenen Angaben eine erhebliche Menge Alkohol zu sich nahm, während er auf das Eintreffen der verständigten Polizei wartete, habe er seine Aufklärungspflicht verletzt. Die beklagte Versicherung könne sich daher auf Leistungsfreiheit berufen.
LG Berlin – Springer-Betrug: Seit dem vergangenen Monat muss sich Markus Günther, früherer Logistikchef des Axel-Springer-Verlags, am Landgericht Berlin gegen den Vorwurf gewerbsmäßigen und bandenmäßiges Betrugs zum Nachteil seines früheren Arbeitgebers verteidigen. Der Vorwurf der Führung schwarzer Kassen innerhalb seines Verantwortungsbereiches sei "grundsätzlich richtig", gibt das Hbl (Philipp Alvares de Souza Soares) die Einlassung des Hauptangeklagten wieder. Die mit Hilfe eines Scheinrechnungssystems installierten Kassen hätten jedoch mit Wissen seiner Vorgesetzten und auch zu deren Nutzen bestanden. Unter anderem sei hierdurch die tägliche Zeitungslieferung zum Ferienhaus von Springer-Chef Matthias Döpfner finanziert worden.
LG Osnabrück – Windkraftunternehmer: Im Strafverfahren gegen den Windkraftunternehmer Hendrik Holt sieht die Staatsanwaltschaft die Anklagevorwürfe des banden- und gewerbsmäßigen Betruges bestätigt. In ihrem Plädoyer forderte die Anklagebehörde für Holt und seine geständigen Mitangeklagten langjährige Haftstrafen. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.
GBA – Lauterbach-Entführung u.a.: Nach Bericht der taz (Konrad Litschko) hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen gegen vier Männer übernommen, denen u.a. die Gründung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. Sie sollen geplant haben, durch einen langanhaltenden Stromausfall einen Bürgerkrieg zu provozieren und die parlamentarische Demokratie zu beseitigen. In diesem Zusammenhang solle auch die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und die Tötung seiner Personenschützer geplant worden sein.
Recht in der Welt
EuGH zu Grenzkontrollen: Grenzkontrollen im Schengen-Raum stehen als Ausnahme vom Prinzip des freien Personenverkehrs unter besonders strengen Anforderungen. Grundsätzlich dürfen sie sechs Monate nicht überdauern, entschied der Europäische Gerichtshof. Die mehrmaligen Verlängerung der Maßnahme in Österreich scheint dem EuGH nicht gerechtfertigt. Endgültig muss dies aber das Landesverwaltungsgericht Steiermark entscheiden. LTO berichtet.
Europarat/Türkei – Osman Kavala: Über die Verurteilung des türkischen Oppositionellen Osman Kavala berichten nun auch FAZ (Rainer Hermann) und taz (Jürgen Gottschlich). In einem von spiegel.de berichteten Statement forderte Tiny Kox, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die unverzügliche Freilassung Kavalas. Seine fortgesetzte Inhaftierung habe bereits zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei geführt. An dessen Ende könnte das Land seine Mitgliedschaft im Europarat verlieren. Auf diese mögliche Konsequenz macht auch die SZ (Christiane Schlötzer) in einem Porträt des Philanthropen und Kulturförderers aufmerksam.
Nach Ansicht von Rainer Hermann (FAZ) dient der Schuldspruch der Einschüchterung der freien Kulturszene im Lande und damit letztlich auch der türkischen Zivilgesellschaft. Nunmehr sei offensichtlich, dass rechsstaatliche Prinzipien in der Türkei "offenkundig keine Bedeutung mehr" besitzen.
Polen – Justizreform/Disziplinarkammer: Der polnische Sejm könnte bereits am heutigen Mittwoch über Gesetzentwürfe zur Auflösung der umstrittenen Disziplinarkammer abstimmen. Nach dem Bericht der FAZ (Gerhard Gnauck) werde dabei ein Kräftemessen zwischen konkurrierenden Entwürfen des Präsidenten Andrzej Duda und des Justizminister Zbigniew Ziobro erwartet.
USA – Johnny Depp und Amber Heard: In der zivilrechtlichen Auseinandersetzung des früheren Schauspielerehepaars Johnny Depp und Amber Heard äußerte sich die Managerin von Depps privater Karibikinsel zu ihrem Eindruck vom gemeinsamen Leben des Paars. Eine Psychologin gab ihre Einschätzung zur Persönlichkeitsstruktur Heards ab. Einzelheiten berichtet bild.de (Markus Brachat).
Sonstiges
Anwaltsgehälter: In einem ausführlichen Interview mit spiegel.de (Verena Töpper) spricht Rechtsanwalt Georg Linde, Partner in einer Großkanzlei, über anwaltliche Gehälter. An seinem Arbeitsplatz erhalten Neuzugänge neben einer sechsstelligen Jahresvergütung auch einen zusätzlichen "Starterbonus" von 15.000 Euro. Linde erklärt, was die Kanzlei hierfür an Gegenleistung erwartet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 27. April 2022: . In: Legal Tribune Online, 27.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48262 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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