EuGH erweitert Haftung von Diesel-Herstellern und überlässt dem BGH die Detailarbeit. Niedersachsens Justizministerin Wahlmann ist gegen audiovisuelle Aufnahmen der Hauptverhandlung. StA stellt Ermittlungen im Erzbistum München ein.
Thema des Tages
EuGH – Dieselskandal/Thermofenster: Käufer:innen von Diesel-Fahrzeugen mit sogenannten Thermofenster-Abschalteinrichtungen können Schadensersatzansprüche nun auch auf § 823 II BGB stützen. Auf Vorlage des Landgerichts Ravensburg entschied der Europäische Gerichtshof in der Großen Kammer, dass die EU-Vorschriften zur Typengenehmigung Gesetze mit individualschützendem Charakter sind. Verstöße gegen das Verbot von Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung können damit auch schon bei Fahrlässigkeit der Hersteller zu Schadensersatz führen. Der Bundesgerichtshof hatte den drittschützenden Charakter der EU-Vorschriften zur Typengenehmigung bisher verneint und daher Klagen gem. § 823 II BGB abgelehnt. Erfolg hatten in Deutschland bisher nur Schadensersatzklagen gem. § 826 BGB. Eine "vorsätzliche sittenwidrige" Schädigung wurde vom BGH aber nur bei der Betrugs-Software von VW angenommen, die die Abgasreinigung nur auf Prüfständen funktionieren ließ. Bei Thermofenstern verneinte der BGH dagegen die Verwerflichkeit, weil diese von Kraftfahrbundesamt gebilligt waren. Der BGH, bei dem zur Zeit knappe 2.000 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden zur Thematik anhängig sind, hat speziell für Diesel-Schadenersatzklagen einen Hilfssenat eingerichtet. Dieser wird bereits am 8. Mai über eine entsprechende Klage verhandeln. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Corinna Budras u.a.), taz (Christian Rath), Hbl (Volker Votsmeier), tagesschau.de (Gigi Deppe) und LTO (Felix W. Zimmermann). spiegel.de (Arvid Haitsch) bringt eine ausführliche Analyse der Konsequenzen.
Gigi Deppe (tagesschau.de) äußert in einem separaten Kommentar Verständnis für die Sorgen der Justiz, die sich von den anstehenden "vielen Klagen überrollt fühlen" dürfte. Es sei daran zu erinnern: "Die Kunden haben das Problem nicht verursacht," vielmehr Autobauer, die meinten, Unionsrecht "nicht richtig ernst" nehmen zu müssen. Nach Meinung von Felix W. Zimmermann (LTO) ist die "nicht zu irritierende Starrköpfigkeit des BGH" bemerkenswert, der auch gegen die Ansicht vieler Landgerichte davon ausging, dass Unionsrecht keinen Drittschutz biete. "Gewinner" der jetzigen Entscheidung seien die Anwälte beider Seiten. Nach Christian Rath (BadZ) hat der EuGH die Autokumpanei der Kfz-Hersteller und des Kraftfahrbundesamts ausgehebelt. Für Marcus Jung (FAZ) ist beachtlich, dass der EuGH die Chance verpasst habe, "die eigene Rechtsprechung der jüngeren Vergangenheit auf einen Kurs zu bringen." Die eigentliche Arbeit zu Detailfragen übergebe "Luxemburg lieber an die nationalen Gerichte."
Rechtspolitik
Dokumentation der Hauptverhandlung: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch spricht sich Kathrin Wahlmann (SPD), Justizministerin Niedersachsens, gegen die Pläne für eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung aus. Allein das Wissen um die Aufzeichnung veränderten die Aussagebereitschaft und den Wahrheitsgehalt von Aussagen. Daneben erfordere auch die geplante Transkription einen großen personellen Aufwand, weil der jetzige Stand der Technik von Spracherkennungssoftware dem vielfältigen Durcheinander einer strafrechtlichen Hauptverhandlung nicht gerecht werden kann, so die frühere Richterin am Landgericht. "Nicht jedes Vorhaben, das unter dem Deckmantel der Digitalisierung und Innovation präsentiert wird", sei ein Fortschritt. Die jetzigen Pläne würden Verhandlungen "teurer, schwieriger und langwieriger machen" und damit die Justiz schwächen.
Bundestags-Wahlrecht: In einem Kommentar zum neuen Wahlrecht für den Bundestag erinnert Rechtsprofessor Thorsten Kinggreen auf dem Verfassungsblog an die USA. Die dortige Praxis des sogenannten Gerrymanderings sei "mahnendes Beispiel dafür", wie "mit der Ausnutzung von kurzfristiger politischer Macht der Demokratie (und letztlich auch sich selbst) langfristig" geschadet werde. Der Wegfall der Grundmandatsklausel veranlasse einen verfassungsrechtlichen Blick auf die 5-Prozent-Klausel. Das Bundesverfassungsgericht habe in Entscheidungen zur Zulässigkeit einer solchen Sperrklausel immer darauf verwiesen, dass diese nur im jeweiligen Zusammenhang und "nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden" könne.
"Ich sehe überhaupt kein verfassungsrechtliches Argument, das gegen die Streichung der Grundmandatsklausel spricht", sagt Rechtsprofessor Christoph Schönberger im Interview mit der SZ (Andreas Glas) im Bayern-Teil.
Namensrecht: In der Debatte über die Reform des Namensrechts hat die Grünen-Bundestagsfraktion nun die Möglichkeit der sogenannten Namensverschmelzung ins Spiel gebracht. Hierbei würden die jeweiligen Nachnamen der Eheleute zu einem neuen Namen verschmolzen, so spiegel.de. Der Bundesjustizminister zeige sich nach wie vor offen für Neuerungen entsprechend "der Vielfalt der Lebensentwürfe in unserer Gesellschaft", vermied aber eine Stellungnahme zu diesem Vorschlag.
Arbeitsverhältnisse an Hochschulen: zeit.de (Tim Neumann) greift die am Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes geäußerte Kritik auf und unternimmt Verbesserungsvorschläge. So könnten Befristungen an zwingende Anschlusszusagen geknüpft werden.
Justiz
StA München I – sexuller Missbrauch im Erzbistum: Die Staatsanwaltschaft München I hat nach Bericht von LTO ihre Ermittlungen zum Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising gem. § 170 II StPO eingestellt. Ein hinreichender Tatverdacht habe sich in keinem der nach Veröffentlichung eines Gutachtens aus dem Januar 2022 untersuchten Fälle ergeben. Dabei war auch gegen Ex-Papst Benedikt ermittelt worden. Geprüft wurde, ob Personalentscheidungen noch lebender Personen die Missbrauchstaten von Priestern ermöglichten. Die Haupttaten konnten aber entweder nicht nachgewiesen werden oder waren verjährt.
Nach Meinung von Daniel Deckers (FAZ) ist es bemerkenswert, dass die Anklagebehörde überhaupt einen Anfangsverdacht wegen der Beihilfe zu Missbrauchstaten bejahte. Er sieht "eine Schutzlücke im Strafrecht". Die Justiz habe derzeit so gut wie keine Handhabe, "um eine schutz- und aufsichtspflichtige Person für eine fremde Missbrauchstat zur Verantwortung zu ziehen", wenn die Person die Tat fahrlässig gefördert hat. Die bayerische Bitte nach einer Verschärfung des Strafrechts liege dem Bundesjustizminister "längst vor."
BVerfG – Adbusting: netzpolitik.org (Markus Reuter) berichtet über die Verfassungsbeschwerde einer Jurastudentin gegen Ermittlungsmaßnahmen wegen eines sogenannten Adbustings. Die Beschwerdeführerin hatte 2019 ein Werbeplakat der Bundeswehr künstlerisch verändert und aufgehängt. Wegen des Verdachts des versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall und der Sachbeschädigung ließ das Berliner Landeskriminalamt daraufhin ihre Wohnung durchsuchen. Diese Maßnahme war vom Landgericht Berlin als verhältnismäßig eingestuft worden. Nach Ansicht der Klägerin wurden dabei jedoch grundrechtliche Aspekte der Aktionsform nur unzureichend gewürdigt. Das BVerfG habe nun sowohl die Berliner Justizsenatorin als auch den Generalbundesanwalt zu Stellungnahmen aufgefordert.
BFH zur Besteuerung von Krypto-Gewinnen: Die Rechtsanwälte Thorsten Franke-Roericht und Martin Figatowski fassen im Recht und Steuern-Teil der FAZ die Ende Februar veröffentlichte Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Einkommenssteuerpflichtigkeit der Gewinne aus dem Handel mit Kryptowährungen zusammen. "Bemerkenswert zügig" habe das Gericht die vom Kläger vorgebrachten Argumente zurückgewiesen. Es bleibe abzuwarten, ob dieser nun eine Verfassungsbeschwerde erhebt.
OLG Frankfurt/M. - Folter in Syrien: Am Oberlandesgericht Frankfurt/M. wird weiterhin gegen den Arzt Alaa M. verhandelt, dem die Teilnahme an Folterungen des syrischen Regimes vorgeworfen wird. Der Bericht von spiegel.de (Julia Jüttner) beschreibt die bedrückende Zeugenaussage eines früheren Kollegen, vom Angeklagten mit reger, ablehnender Teilnahme begleitet.
OLG Düsseldorf – Werbung für Eierlikör: Am Oberlandesgericht Düsseldorf steht einem Eierlikör-Produzenten bei seinem Ansinnen, von einem Konkurrenzunternehmen wegen der Verwendung eines ähnlichen Werbeslogans Schadensersatz zu erlangen, eine Niederlage bevor. Das Gericht habe deutlich zu verstehen gegeben, dass die Unterschiede der sich mit dem Wort Ei befassenden Slogans ausreichend seien, so LTO. Die Urteilsverkündung wurde auf den 27. April festgelegt.
OVG NRW zu NetzDG-Gegenvorstellung: Die im Netzwerkdurchsetzungsgesetz vorgesehene Pflicht zur Vorhaltung eines sogenannten Gegenvorstellungsverfahrens gilt nicht für Anbieter mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Dies entschied das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen auf Eilantrag des Meta-Konzerns. Bereits vor einem Jahr hatte das Verwaltungsgericht Köln erstinstanzlich die Meldepflicht des NetzDG für unanwendbar erklärt, weil sie gegen das Herkunftslandprinzip der EU-E-Commerce-Richtlinie verstoße, erinnert LTO.
OVG Thü zu Nötigung durch Uni-Professor: Das Thüringer Oberverwaltungsgericht hat nach Meldung von spiegel.de entschieden, dass ein bislang lediglich suspendierter Universitätsprofessor aus dem Dienst entfernt wird. Der Professor hatte Studentinnen mit der Aussicht auf gute Noten zum Sex gedrängt. Das Verwaltungsgericht Meiningen hatte als Vorinstanz hierin die beantragte dauerhafte Entfernung aus dem Dienst noch abgewiesen.
VG Potsdam – Hohenzollern: In einem Gastbeitrag für das Feuilleton der FAZ erklärt Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz den mutmaßlichen Grund für die von Georg Friedrich Prinz von Preußen gegenüber dem Verwaltungsgericht Potsdam abgegebene Erledigungserklärung. Im Gegensatz zur Klagerücknahme erlaube diese eine gerichtliche Kostenentscheidung nach billigem Ermessen.
StA Stuttgart – Michael Ballweg: Die SZ (Max Ferstl) berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart nun Anklage gegen den "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg erhoben habe. Zum Inhalt der beim Landgericht Stuttgart eingereichten Anklageschrift habe die Staatsanwaltschaft keine Angaben gemacht. Zuletzt habe sie gegen Ballweg nur noch wegen jeweils versuchtem gewerbsmäßigem Betrug und Geldwäsche ermittelt.
Extremistische Schöff:innen: Laut Welt (Joachim Wagner) hat es bislang so gut wie keine rechtsextremen Aufrufe gegeben, sich zu Schöff:innen wählen zu lassen. Er weist auch darauf hin, dass bei bisher bekannt gewordenen und aus dem Amt entfernten rechtsextremistische Schöff:innen immer auf außergerichtliche Aktivitäten abgestellt wurde und nicht auf Äußerungen im Beratungszimmer, weil für diese das Beratungsgeheimnis gilt. Der Autor stellt verschiedene Initiativen vor, rechtsextreme Schöff:innen zu verhindern.
Recht in der Welt
IStGH – Wladimir Putin: Privatdozent Robert Frau referiert auf dem Verfassungsblog Aspekte des in der vergangenen Woche bekanntgegebenen Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Es sei "erstaunlich", dass die Entscheidung bislang "unter Verschluss geblieben" ist und allein deren Existenz und der konkrete Tatvorwurf bekannt gemacht wurde. Opferschutz könnte jedoch auch anders erreicht werden.
Italien – Homosexuelle Eltern: Das italienische Parlament hat sich jüngst gegen die Umsetzung einer EU-Richtlinie ausgesprochen, nach der im Ausland durchgeführte Leihmutterschaften im Inland anerkannt werden können, auch wenn sie dort nicht erlaubt sind. Die SZ (Marc Beise) führt das Abstimmungsergebnis auf den Versuch der rechtsextremen Regierungspartei Fratelli d'Italia zurück, in kulturkämpferischer Pose eben Leihmutterschaft, aber auch die Anerkennung der gemeinsamen Elternschaft homosexueller Paare zurückzudrängen.
USA – Donald Trump/Stormy Daniels: Die SZ (Peter Burghardt) berichtet vertieft über die nun möglich erscheinende Anklage gegen den früheren US-Präsidenten Donald Trump. Eine Grand Jury sei zu der Einschätzung gelangt, dass eine Schweigegeldvereinbarung Trumps mit dem weiblichen Pornostar Stormy Daniels dazu gedient habe, Wahlkampfspenden zu verschleiern. Die nun mögliche Anklage beinhalte erhebliche Implikationen für den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf und lasse zudem Proteste der Anhängerschaft Trumps besorgen.
Sonstiges
Einzelhaft: Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, eine Institution des Europarats, hat kürzlich in einem Schreiben an das Bundesjustizministerium die nach wie vor bestehende Praxis der dauerhaften Isolation von Gefangenen gerügt. Der SWR-RadioReportRecht (Max Bauer) erklärt die rechtlichen Grundlagen der Praxis und spricht mit einem ehemals Betroffenen sowie einem Strafverteidiger.
Photofahndung: Die Welt (Kristian Frigelj/Kevin Culina) erläutert, warum nicht sofort per Fahndungsfoto nach dem Kasachen Yevgeni A. gesucht hat, der bei einer Kirmes in Münster einen Familienvater erstochen hat. Laut Strafprozessordnung müssten erst andere Fahndungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. In den sozialen Medien war gemutmaßt worden, die Polizei wolle das südländische Aussehen des Tatverdächtigen verschleiern.
Gaspreisbremse und Managervergütung: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ macht Rechtsanwältin Henriette Norda darauf aufmerksam, dass Unternehmen, die Entlastungen nach der Strom- und Gaspreisbremse in Anspruch nehmen, Beschränkungen bei der Vergütung von Managern unterliegen.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 22. März 2023: . In: Legal Tribune Online, 22.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51369 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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