Die juristische Presseschau vom 19. April 2023: GroKo-Wahl­recht auf dem Prüf­stand / Ver­tei­di­gung des BVerfG / Scha­dens­er­satz für Fox News-Lügen

19.04.2023

Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die vorletzte Neuregelung des Bundestagswahlrechts von 2020. Verfassungsrichter Henning Radtke verteidigte das BVerfG gegen Kritik. Fox News einigte sich mit Wahlmaschinenhersteller Dominion.

Thema des Tages

BVerfG – Bundestags-Wahlrecht: Die vorletzte, 2020 noch von der damaligen Großen Koalition für die vergangene Bundestagswahl verabschiedete Wahlrechtsreform war Gegenstand einer Verhandlung am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Um ein weiteres Anwachsen des Bundestags zu dämpfen, wurde damals bestimmt, dass drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle hatten 216 Abgeordnete von FDP, Linken und Grünen geklagt, weil diese Methode absehbar ausschließlich der CSU zugute kam. Im Mittelpunkt der mündlichen Verhandlung stand aber die Frage, ob § 6 des Bundeswahlgesetzes, der u.a. den Ausgleich von Überhangmandaten regelt, womöglich die Grenze des noch Verständlichen überschritten habe. Diskutiert wurde, ob diese Bestimmung für normale Wähler:innen verständlich sein muss oder ob sie sich nur an die Wahlbehörden richtet. Es berichten FAZ (Helene Bubrowski/Stephan Klenner), taz.de (Christian Rath), SZ (Markus Balser/Wolfgang Janisch) und LTO.

Noch vor Beginn der Verhandlung erklärten tagesschau.de (Gigi Deppe) und zdf.de (Jan Henrich) Details zu den beanstandeten Regeln und die Begründung des Gerichts, warum verhandelt wurde, obwohl die klagenden Abgeordneten beantragt hatten, das Verfahren ruhend zu stellen. Hierfür spreche u.a. das öffentliche Interesse an der Feststellung, ob die aktuellen Mitglieder des Parlaments auf Grundlage eines rechtmäßigen Wahlgesetzes gewählt wurden. 

Reinhard Müller (FAZ) fordert, dass auch die "Regeln, nach denen die Bürger ihre Vertretung zusammensetzen, einigermaßen verständlich sein" müssen, was differenzierte Regelungen nicht ausschließe. In Bezug auf das kommende neue Wahlrecht stellten sich "grundsätzliche Fragen, die über das Verfassungsrecht hinausgehen." Es sei nicht einsichtig, warum kein tragbarer Kompromiss gefunden werde, wenn doch alle Parteien das Ziel hätten, das Parlament zu verkleinern. Notwendig sei in jedem Fall, "nah am Menschen zu bleiben."

Rechtspolitik

Schiedsverfahren: Das Bundesjustizministerium hat ein Eckpunktepapier zur Reform von Schiedsverfahren veröffentlicht. Um den Wirtschaftsstandort auch in rechtlicher Hinsicht attraktiver zu machen, sollen die Voraussetzungen für die Durchführung von Schiedsverfahren vereinfacht werden. Den Streitparteien soll es weiterhin möglich sein, nach Abschluss des Verfahrens die Hilfe staatlicher Gerichte in Anspruch zu nehmen, etwa bei der Vollstreckbarkeit des Schiedsspruches. LTO (Markus Sehl) berichtet.

Hasskriminalität im Internet: Die Welt (Frederik Schindler) sammelt kritische Stimmen zu dem in der vergangenen Woche vorgestellten Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums für ein "Gesetz gegen digitale Gewalt." Problematisch sei etwa die Weite des vorgesehenen Auskunftsrechts, das Verletzungen absoluter Rechte voraussetzt. Dies gefährde die Meinungsfreiheit.

Wehrpflicht: Die Debatte über die (Wieder-)Einführung der allgemeinen Wehrpflicht greift Rechtsanwalt Patrick Heinemann für LTO auf. Die einfachgesetzlich ausgesetzte allgemeine Dienstpflicht für Männer nach Art. 12a Grundgesetz stehe "normenhierarchisch auf der gleichen Stufe" wie Art. 3 GG. Gleichbehandlung sei demnach nur innerhalb des Rahmens von Art. 12a GG verfassungsrechtlich geboten. Um Lastengleichheit herzustellen, müsse die Einberufungspraxis umfassend und gleichmäßig erfolgen und sich an sachlichen, objektiv nachprüfbaren Kriterien orientieren. Dies schließe ein Modell wie in Schweden, wo auch die Motivation der Eingezogenen berücksichtigt werde, nicht aus.

Arbeitszeiterfassung: Dem Hbl (Frank Specht) liegt der Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Arbeitszeiterfassung vor. Der Entwurf zur Umsetzung einer Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom vergangenen September sehe die an Arbeitgebende gerichtete grundsätzliche Verpflichtung vor, die Arbeitszeit von Beschäftigten elektronisch aufzuzeichnen. Tarifvertragliche Ausnahmen bleiben möglich.   

Nach Ansicht von Roland Preuß (SZ) ist das Vorhaben "ein Schritt, Ehrlichkeit durchzusetzen" und keineswegs das üblicherweise beschworene "bürokratische Monster." Zu einem fairen Arbeitsverhältnis gehöre auch das Einhalten tarifvertraglich vereinbarter Arbeitszeiten. Angesichts von 700 Millionen unbezahlter Überstunden im vergangenen Jahr sei eine gesetzliche Regelung überfällig.

Justiz

BVerfG: Gegenüber dem SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel) nimmt Verfassungsrichter Henning Radtke ausführlich Stellung zur öffentlichen Kritik am Bundesverfassungsgericht. Radtke verteidigt die Corona-Entscheidungen des Ersten Senats und stellt dar, dass das umstrittene Abendessen der Richter:innen bei der Bundesregierung im Herbst 2021 lediglich die regelmäßigen Kontakte unter Verfassungsorganen fortgesetzt habe.

EuGH zu Beschäftigendatenschutz: Rechtsanwalt Sebastian Dienst schreibt im Recht und Steuern-Teil der FAZ über das am 30. März verkündete Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Unvereinbarkeit von Bestimmungen des hessischen Datenschutzgesetzes mit der Datenschutzgrundverordnung. Konkret ging es um die unterlassene Einwilligung hessischer Lehrkräfte zu Livestreams während des Corona-Lockdowns. Darüber hinaus entfalte der Fall "erhebliche Sprengkraft", weil sich die beanstandeten Bestimmungen auch im Bundesdatenschutzgesetz wiederfänden. Hier sei der Gesetzgeber aufgefordert, "möglichst rasch Rechtsklarheit für Arbeitgeber und Beschäftigte herbeizuführen."

EuG – Taxonomie: Über die von Umweltverbänden beim Gericht der Europäischen Union eingereichte Klage gegen die von der Europäischen Kommission vorgenommene Einstufung von Atom- und Erdgaskraftwerken als "ökologisch nachhaltig" berichten nun auch SZ (Jan Diesteldorf) und LTO.

OLG Koblenz – Anschlag auf Asylheim Saarlouis: Das Strafverfahren wegen des tödlichen Anschlags auf eine Asylbewerberunterkunft in Saarlouis 1991 wird vorerst fortgesetzt. Das Oberlandesgericht Koblenz teilte mit, dass die ins Auge gefasste Verständigung mit dem Angeklagten nicht zustande gekommen sei. Die Bundesanwaltschaft hatte auf einer höheren Mindesstrafe (6,5 Jahre) bestanden als das Gericht (5,5 Jahre). Möglicherweise wird nun über eine neue Absprache auf Grundlage der Forderungen der Bundesanwaltschaft verhandelt. Das Verfahren wurde mit Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Es berichten SZ (Gianna Niewel) und taz (Christoph Schmidt-Lunau).

LAG Niedersachsen – Domkantor und Leihmütter: beck-community (Christian Rolfs) macht auf einen am Landesarbeitsgericht Niedersachsen anhängigen Kündigungsschutzstreit aufmerksam. Erstinstanzlich erfolgreich hatte sich ein Domkantor gegen seine Entlassung gewehrt. Diese wurde ausgesprochen, nachdem seine Arbeitgeberin, die evangelisch-lutherische Landeskirche Braunschweig von den Plänen des Klägers erfahren hatte, in der kolumbianischen Heimat seines Ehemanns zwei Leihmütter zu beauftragen. Das Arbeitsgericht Braunschweig habe den von der Beklagten behaupteten Loyalitätsverstoß nicht erkennen können. Am 27. Juni wird nun über die Berufung verhandelt.

LG Leipzig – Online-Drogenshop Candylove: Im Strafverfahren um den Drogen-Onlineshop "Candylove" erlebten die Beteiligten am Landgericht Leipzig einen kurzen Verhandlungstag. Nach Verzögerungen bei sachverständigen Stellungnahmen über die Entschlüsselung von Datenträgern entschied sich das Gericht für die baldige Vernehmung eines Wohnungsvermieters, durch die neue Erkenntnisse über den mitangeklagten Anwalt R. gewonnen werden sollen, schreibt LTO (Linda Pfleger). Angesichts des im Raum stehenden Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbots hinsichtlich dessen überwachter Telekommunikation sei der Umfang einer solchen Vernehmung aber weiterhin fraglich.

AG Heilbronn zu Klimaprotest: Nach der Verurteilung von Mitgliedern der "Letzten Generation" zu Haftstrafen wegen Straßenblockaden stellt bild.de (Hagen Stegmüller) Amtsrichterin Julia Schmitt als "Deutschlands härteste Richterin" vor. Die von ihr vertretene Rechtsansicht, parallele neue Ermittlungsverfahren gegen Angeklagte seien strafverschärfend zu berücksichtigen, sei umstritten.

Recht in der Welt

USA – Desinformation/Fox News: Unmittelbar vor dem Beginn eines Zivilverfahrens zwischen dem Wahlmaschinenhersteller Dominion und dem US-Fernsehsender Fox News haben sich die Parteien auf einen Vergleich verständigt. Nach diesem zahlt der Sender knapp die Hälfte der von Dominion als Schadensersatz geforderten 1,6 Milliarden Dollar, so spiegel.de. Bereits vor der Verfahrenseröffnung habe publik gemachte interne Kommunikation des Senders nahegelegt, dass auch dort nicht an die von Donald Trump öffentlich verbreitete Erzählung massenhaften Wahlbetrugs mit Hilfe der Dominion-Wahlmaschinen geglaubt wurde.

Russland – Evan Gershkovich: Bei einem Haftprüfungstermin an einem Moskauer Gericht wurde der US-amerikanische Journalist Evan Gershovich zum ersten Mal seit seiner Festnahme vor knapp drei Wochen der Öffentlichkeit präsentiert. Das Gericht hat die Anträge auf Entlassung aus der Untersuchungshaft verworfen. Es berichten SZ (Silke Bigalke) und taz (Erica Zingher).

Russland – Strafverschärfungen: Das russische Parlament (Duma) hat zahlreiche Strafverschärfungen beschlossen. So solle Hochverrat künftig mit lebenslanger Haft geahndet werden, schreibt spiegel.de. Ein neuer Straftatbestand, die "Beihilfe zur Durchführung von Entscheidungen internationaler Organisationen, an denen Russland nicht teilnimmt, oder ausländischer Regierungsbehörden", sehe eine Höchststrafe von fünf Jahren Haft vor.

Großbritannien – Rishni Sunak: Gegenüber dem Ombudsmann des britischen Unterhauses für die Einhaltung parlamentarischer Standards muss sich demnächst Premierminister Rishni Sunak erklären. Sunak habe in einem Parlamentausschuss nicht offengelegt, dass eine Firma seiner Ehefrau von einem von der Regierung geplanten Kinderbetreuungsprogramm profitieren könne. Dies berichtet die FAZ (Johannes Leithäuser).

USA – Justizausschuss/Alvin Bragg: Der Justizausschuss des US-amerikanischen Repräsentantenhauses tagte unter dem Titel "Opfer von Gewaltverbrechen in Manhattan" ausnahmsweise in New York City. Nach Darstellung des republikanischen Ausschussvorsitzenden  Jim Jordan sollten Zeugen dieser Gewalt zu Wort kommen, schreibt die FAZ (Sofia Dreisbach). Verantwortlich mache die republikanische Ausschussmehrheit den Bezirksstaatsanwalt Alvin Bragg, international bekannt geworden durch die Ermittlungen und schließliche Anklage gegen den früheren Präsidenten Donald Trump. Diesen Zusammenhang habe auch die demokratische Ausschussminderheit betont.

USA – Abtreibungsrecht: Am Beispiel jüngerer Entscheidungen von US-Gerichten zu Abtreibungsfragen legt eine Analyse von zeit.de (Johanna Roth) dar, wie sich das Land von der Vorstellung verabschiede, Gerichte seien unabhängige Institutionen. Nicht lediglich die Trump-Administration habe verstanden, dass die Durchsetzung umstrittener Vorhaben leichter vor Gericht, denn auf gesetzgeberischem Wege erreichbar sei.

Sonstiges

Digitalisierung: Das Hbl (Dietmar Neuerer) berichtet über einen Auftritt von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf dem von der Zeitung veranstalteten GovTech-Gipfel. Der Minister habe davon abgeraten, Digitalisierung als bloßen Modetrend oder als Belastung zu verstehen und zudem über eigene Erfahrungen berichtet. So könne in dem von ihm geleiteten Haus mittlerweile vollständig auf Papier verzichtet werden. In anderen Bereichen dauerten Umstellungen dagegen länger. So sei die Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs so etwas wie der "BER der Anwaltschaft" und ein "totales Horrorprojekt" gewesen, wird der Minister zitiert.

Regierungsbeauftragte: Die SZ (Boris Herrmann) befasst sich mit dem Phänomen der Beauftragten der Bundesregierung. Nach Angabe des Bundesinnenministeriums gebe es mittlerweile 43 dieser Ämter. Vor allem "im gesellschaftspolitischen Bereich" herrsche "ein erhöhtes Beauftragten-Aufkommen." Neben der schieren Anzahl berührten auch die sich gegenseitig überschneidenden Aufgabenbereiche "demokratietheoretische Aspekte", da die Hälfte der Betroffenen gleichzeitig auch Mitglieder des Bundestags sind. Als Oppositionspartei habe die FDP diesen Umstand bereits 2018 gerügt.

Hans Kelsen: Im Literatur und Sachbuch-Teil bespricht die FAZ (Christian Neumeier) "Hans Kelsen zur Einführung" von Rechtsprofessor Horst Dreier. Die von "kritischer Sympathie" getragene Darstellung von Leben und Werk schöpfe "aus einem souveränen Überblick zum Forschungsstand", den nicht zuletzt Dreier geprägt habe.

Weiße Rose: Eine neue Ausstellung im Münchner Justizpalast hat die SZ (Annette Ramelsberger) besucht. Am Orginalschauplatz eines der Prozesse gegen Mitglieder der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" sei die "dunkle Aura" des Volksgerichtshofs immer noch zu spüren. Die Ausstellung werfe auch einen Blick auf die Problematik der bruchlosen Fortsetzung zahlreicher juristischer Karrieren in der Bundesrepublik.

Das Letzte zum Schluss

Nicht erfrischend: Neben Entschädigungen für Flugverspätungen bietet das EU-Recht betroffenen Fluggästen auch einen Anspruch auf "Mahlzeiten und Erfrischungen" während Wartezeiten. Wenn die Airline von sich aus nichts anbietet, müssen die Kosten für selbst beschaffte Mahlzeiten und Erfrischungen ersetzt werden. Zu den Erfrischungen zählen nach Einschätzung des Amtsgerichs Hannover aber keine alkoholischen Getränke. Die im Streitfall konsumierten Aperol Spritz müssten daher dem ansonsten erfolgreichen Kläger nicht ersetzt werden. Die SZ (erweitert auf sueddeutsche.deberichtet.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. April 2023: . In: Legal Tribune Online, 19.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51573 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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