Bei der BFH-Verhandlung zum Solidaritätszuschlag zeichnet sich eine Vorlage für Karlsruhe ab. Aus dem Grundgesetz ergibt sich kein Anspruch auf ein Tempolimit. Die Dresdener Angeklagten berichten über den Einbruch ins "Grüne Gewölbe".
Thema des Tages
BFH – Solidaritätszuschlag: In der mündlichen Verhandlung zur Rechtmäßigkeit des aktuell geltenden Solidaritätszuschlages hat Rechtsprofessor Roman Seer als Vertreter des klagenden Ehepaars die Abgabe mit scharfen Worten als verfassungwidrig gerügt. Mit Auslaufen des Solidarpakts II sei der besondere Zweck (die Finanzierung von Wiedervereinigungslasten) als Merkmal einer Ergänzungsabgabe gem. Art. 106 I Nr. 6 GG entfallen. Nunmehr diene der Soli nur noch als "begründungslose Blankettabgabe für jedweden Finanzierungszweck" und sei eine Art "Reichensteuer." Da er aber weiter als Ergänzungsabgabe behandelt wird, die ausschließlich dem Bund zufließt, gehe der Soli auch zu Lasten der Länder. Denn bei einer korrekten Einstufung als Einkommensteuer wären auch die Länder am Aufkommen beteiligt. Die Ausführungen der Kläger, die vom Bund der Steuerzahler unterstützt werden, blieben in München unwidersprochen. Das beklagte Finanzamt ließ lediglich erklären, dass es an geltendes Recht gebunden sei. Das Bundesfinanzministerium nahm in der Verhandlung nicht Stellung. Die BFH-Richter stellten keine Fragen. Sie wollen ihr Urteil am 30. Januar verkünden. Es gilt als wahrscheinlich, dass der BFH das entsprechende Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Sollte das BVerfG den Soli für verfassungswidrig erklären, kämen wohl Rückerstattungspflichten in Milliardenhöhe auf den Fiskus zu. Ausführlich berichten FAZ (Katja Gelinsky), Hbl (Heike Anger/Jan Hildebrand) und LTO (Felix W. Zimmermann). Eine Übersicht zu den wichtigsten Fragen des Verfahrens bringt zeit.de (Alena Kammer).
Jan Hildebrand (Hbl) bedauert in einem Kommentar, dass die Justiz "wieder einmal" ein steuerpolitisches Problem lösen solle, "weil die Politik dazu nicht in der Lage ist." Die letztliche Klärung durch das BVerfG sei abzusehen. Die jetzige, von der Großen Koalition zu verantwortende Rechtslage habe den Soli noch zweifelhafter gemacht.
Rechtspolitik
Bundestags-Wahlrecht: Auf dem Verfassungsblog stellen Fabian Michl und Johanna Mittrop, Juniorprofessor und wissenschaftliche Mitarbeiterin, die historische Entstehung des personalisierten Verhältniswahlrechts in der Bundesrepublik dar. Der nun gemachte Reformvorschlag verabschiede sich von bisherigen Personenwahlelementen, was angesichts der "praktischen Irrelevanz der Einzelbewerberkandidatur" zu begrüßen sei. "Systematisch stimmiger" hingegen sei, "Wahlkreise ganz aufzugeben".
Die Auswirkungen des aktuellen Reformvorschlags der Ampel-Koalition auf die Zusammensetzung des aktuellen Bundestags ermittelt zeit.de (Christian Endt u.a.).
Christian Rath (taz) meint, dass der Bundestag verfassungsrechtlich beim Wahlrecht "relativ große Gestaltungsfreiheit" hat. "Unschön" sei hingegen, dass der Wegfall von Direktmandaten vor allem solche Wahlkreise betreffe, in denen der Wahlkampf besonders spannend war. Nach Ulf Poschardt (Welt) seien die bislang unterbreiteten Alternativen "entweder zu kompliziert oder verfassungswidrig" oder zu sehr an den Interessen der Großparteien orientiert.
Kommunaler Klimaschutz: Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet über ein Gutachten der Rechtsanwältin Roda Verheyen im Auftrag von Germanwatch und der Klima-Allianz Deutschland. Verheyen schlägt eine Änderung des Grundgesetzes vor, damit der Bund den kommunalen Klimaschutz mitfinanzieren kann. So soll in Art 91a GG der Klimaschutz als neue Gemeinschaftsaufgabe aufgenommen werden. Das daraus folgende Kooperationsgebot zwischen Bund und Ländern ermögliche eine Mischfinanzierung.
Einbürgerung: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch kritisieren die Bundestagsabgeordnete Serap Güler (CDU) und der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) die jüngsten Reformpläne der Ampelkoalition zum Recht der Staatsangehörigkeit. Zwar sei Deutschland als Einwanderungsland schon aufgrund der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt auf Zuwanderung angewiesen. Hierzu stünden aber "pragmatische und konkrete Lösungen", wie etwa die schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse im Vordergrund. Zur nachrangigen Frage der Staatsangehörigkeit könne anerkannt werden, dass ein "selbstbewusster Staat" temporäre Doppelstaatlichkeit aushalte. Diese dürfe aber "nicht ewig weitergehen". Daher sei – analog zum Namensrecht – ein "Generationenschnitt" bei der Enkelgeneration angezeigt.
Datenschutz/Datentransfers: Das von der EU-Kommission eingeleitete Verfahren zur Annahme eines sogenannten Angemessenheitsbeschlusses zu den von US-Präsident Joe Biden getroffenen Zusagen für den Umgang mit Daten aus Europa bietet nach der im Recht und Steuern-Teil der FAZ vertretenen Einschätzung der Anwält:innen Tim Wybitul und Isabelle Brams hinreichende Rechtssicherheit für Unternehmen. Auch wenn sich der weitere Verfahrensgang mit Beteiligung u.a. des EU-Parlaments nicht abschätzen lasse, dürfte eine abschließende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs "erst in drei bis fünf Jahren zu erwarten" sein. Datenübermittlungen in die USA könnten bis dahin vorgenommen werden.
Justiz
BVerfG zu Tempolimit: Mit nun veröffentlichtem Beschluss von Mitte Dezember hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen als Klimaschutz-Maßnahme erzwungen werden sollte. Die Beschwerdeführenden hätten nicht hinreichend dargelegt, dass gerade diese gesetzgeberische Unterlassung "eingriffsähnliche Vorwirkung auf ihre Freiheitsgrundrechte entfalten könnte." Das BVerfG machte gleichzeitig klar, dass das grundgesetzliche Klimaschutzgebot bei fortschreitendem Klimawandel weiter an relativem Gewicht gewinne. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath) und LTO.
Nach Einschätzung der Doktorandin Antonia Boehl auf dem Verfassungsblog offenbart die Entscheidung die Grenzen individuellen Rechtsschutzes, der sich am Staatsziel des Art. 20a Grundgesetz orientiert. Dessen "überindividuelles Schutzobjekt" verpflichte zwar zu gesetzgeberischem Handeln, könne jedoch "verfassungsprozessual nicht eingefordert werden." Daher sei über eine gesetzliche Regelung nachzudenken, die Art. 20a GG handhabbar macht.
LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Entsprechend der mit dem Landgericht Dresden und der Staatsanwaltschaft getroffenen Verständigung haben drei der sechs Angeklagten Erklärungen zu ihren Tatbeiträgen abgegeben bzw. abgeben lassen. Die Erklärung des vierten aussagewilligen Angeklagten folgt am Freitag. Nach den Berichten von FAZ (Stefan Locke), spiegel.de (Wiebke Ramm), SZ (Iris Mayer/Verena Mayer) und LTO ergab sich durch die Einlassungen das Bild eines Jugendstreiches, der keinem der Angeklagten einen finanziellen Gewinn gebracht habe. Wissam R. etwa schilderte, dass er – noch während seines Prozesses wegen des Diebstahls der Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum – sich beteiligte, um seinen gesteigerten Kokainkonsum zu finanzieren. Jedem der Erklärenden sei erst während des laufenden Prozesses der ideelle Wert des Diebesguts bewusst geworden. Alle bereuten die Tat nun. Am Diebstahl selbst seien zwei bislang unbekannte Täter beteiligt gewesen, deren Namen nicht genannt wurden. Gerichtliche Nachfragen sollen erst nach Abschluss der nächsten Erklärung folgen.
BGH – IS-Kämpfer/Völkermord: Der Bundesgerichtshof hat die von einem ehemaligen IS-Kämpfer eingelegte Revision verworfen und damit die erstmalige Verurteilung eines IS-Mitglieds wegen Völkermordes bestätigt. Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hatte den Angeklagten im November 2021 wegen des Todes eines ihm als Sklavin zugeteilten Mädchens verurteilt, weil dieses jesidischen Glaubens war und sein Wille zur zumindest teilweisen Zerstörung dieser Gruppe für seine Tat "motivational prägend" gewesen sei, so LTO. Der Bericht von tagesschau.de (Claudia Kornmeier) erinnert zusätzlich an das Prozessschicksal zweier IS-Rückkehrerinnen, denen ebenfalls Völkermord bzw. Beihlfe hierzu vorgeworfen wurde. Eine sei nach Rücknahme ihrer Revision gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg rechtskräftig verurteilt, der Prozess der anderen begann in der vergangenen Woche.
VG Berlin zu Quereinstieg für Lehrkräfte: Die in Berlin praktizierte Ausbildung für den Quereinstieg von Lehrkräften an Schulen hat keine Rechtsgrundlage. Dies stellte das Verwaltungsgericht Berlin in einem nun veröffentlichten Urteil aus dem Dezember fest. Deshalb wurde der negative Prüfungsbescheid einer klagenden Diplom-Biologin aufgehoben, die innerhalb der sogenannten berufsbegleitenden Studien für den Lehrerberuf durch eine Mathematikprüfung gefallen war. Doch auch ihre Forderung nach Fortsetzung der Ausbildung hatte keinen Erfolg - ebenfalls mangels Rechtsgrundlage. LTO berichtet.
StA Neuruppin – Letzte Generation: Nach Darstellung der SZ (Ronen Steinke) mehren sich bei verschiedenen Staatsanwaltschaften bundesweit die Zweifel am Vorwurf der Staatsanwaltschaft Neuruppin, innerhalb der Klimaschutzgruppe "Letzte Generation" habe sich eine kriminelle Vereinigung gebildet. So habe die Staatsanwaltschaft Berlin die nach einer Strafanzeige aufgenommenen Ermittlungen wieder eingestellt, weil den der Gruppe zugerechneten Taten das "erforderliche Gewicht" für die Annahme einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung fehle. Auch die Generalstaatsanwaltschaft München teile wohl diese Auffassung. Der von der Staatsanwaltschaft Neuruppin in ihrem Verfahren erwirkte Durchsuchungsbeschluss sei von einem Proberichter unterzeichnet worden.
StA Köln – Cum-Ex/Anwalt: Im Auftrag der Staatsanwaltschaft Köln wurden in Frankfurt/M. Büros der Großkanzleien Norton Rose Fulbright und KPMG sowie eine Privatwohnung durchsucht. Die im Zusammenhang mit Cum-Ex-Steuertricks stehenden Ermittlungen richteten sich nicht gegen die Kanzleien, vielmehr einen ehemaligen Mitarbeiter, der zu Cum-Ex beriet. Dies berichten FAZ (Marcus Jung) und LTO (Stefan Schmidbauer).
StA Karlsruhe – Radio Dreyeckland: Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe ermittelt gegen zwei Redakteure des links-alternativen Senders Radio Dreyeckland wegen Unterstützung der 2017 verbotenen Vereinigung linksunten.indymedia. In diesem Rahmen wurden die Wohnungen der Redakteure durchsucht und die Redaktionsräume betreten. Nach den zugrundeliegenden Durchsuchungsbeschlüssen habe sich der Sender zum Sprachrohr der verbotenen Vereinigung gemacht, indem er in einem Artikel einen Link auf deren Archivseite setzte. taz.de (Christian Rath) berichtet.
Recht in der Welt
FIFA-Tribunal – Schwangerschafts-Gehalt: Der isländischen Profifußballerin Sara Björk Gunnarsdottir steht nach einer noch nicht rechtskräftigen Entscheidung des FIFA-Tribunals ein Anspruch auf Gehaltszahlungen während ihrer Schwangerschaft zu. Ihr früherer Klub Olympique Lyon muss daher gut 80.000 Euro an die Spielerin zahlen, berichtet spiegel.de.
Großbritannien – geschlechtliche Selbstbestimmung: Zum ersten Mal seit der Einrichtung eines schottischen Regionalparlaments 1999 hat die britische Regierung ihre Vetomacht ausgeübt. Premierminister Rishi Sunak (Cons) teilte mit, dass er die in Schottland verabschiedete "Gender Recognition Reform Bill" nicht König Charles zur Unterschrift vorlegen werde. Die Unterschrift des Monarchen wiederum sei Voraussetzung für das Inkrafttreten von Gesetzen, so die Welt (Stefanie Bolzen). In dem fraglichen Gesetz werde die Änderung eines Geschlechtseintrages vereinfacht.
Sonstiges
Klimaprotest/Lützerath: Durch die jüngsten Proteste gegen die Räumung Lützeraths und deren mediale Inszenierung fühlt sich Reinhard Müller (FAZ) im Leitartikel an Ernst Jünger erinnert. Wer sich der Durchsetzung demokratisch gesetzten Rechts durch die Polizei widersetze und Staatsdiener angreife, "stellt sich außerhalb des auch der Umwelt verpflichteten Staates" und wolle offenbar vor allem "Rechtsbruch und Gewalt." Auch Wolfgang Janisch (SZ) zeigt sich in einem Kommentar irritiert über die Unbedingtheit von Protestierenden, die "Bagger gleichsam körperlich aufhalten wollten." Wer sich in solcher Weise widerständisch verhalte, dem bleibe nur die Eskalation. Wichtig sei es, zwischen kommunikativem Protest und Widerstand zu unterscheiden.
Recruiting von Kanzleien: Über aktuelle Trends auf dem Arbeitsmarkt spricht LTO-Karriere (Pauline Dietrich) mit Bianca Städter (Allen & Overy LLP). Potentiell Mitarbeitende könnten "aktuell alles fordern," sowohl exzellente Vergütung als auch die immer wichtiger werdende Work-Life-Balance. Kanzleien müssten daher verstärkt an ihrem Branding arbeiten, um auf dem Arbeitsmarkt attraktiv zu bleiben oder zu werden. Um die gewonnenen Mitarbeitenden dann auch zu halten, müssten deren Bedürfnisse fortlaufend im Blick behalten werden.
Heinrich Hannover: Am 14. Januar verstarb der Anwalt Heinrich Hannover im Alter von 97 Jahren. In seinem bewegten Leben wandelte er sich vom jugendlichen Kriegsfreiwilligen zum linken Publizisten, war dazwischen ein erfolgreicher Kinderbuchautor und vor allem ein streitbarer, engagierter Rechtsanwalt, der auch vor schwierigen Mandant:innen wie Ulrike Meinhof oder Hans Modrow nicht zurückschreckte. LTO (Eckhard Stengel) würdigt Hannover in einem Nachruf.
Verfassungsrechtsprechung: Unter Bezugnahme auf "Die Historiker und die Verfassung“ von Dieter Grimm thematisiert Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz im Geisteswissenschaften-Teil der FAZ die Begrenztheit einer Rechtssoziologie, die sich nicht für die inhaltliche Struktur juristischer Arbeit interessiert sowie einer Rechtsdogmatik, die ihre eigenen Entwicklungen ignoriert. Statt "ganzheitlicher Wirkungsgeschichten des Grundgesetzes" seien eher kleinteiligere Studien erforderlich, die mittels "geschärftem Blick für das Ineinandergreifen von Recht, Politik und Verwaltung" die Bedeutungsnuancen von Verfassungsrechtsprechung und deren zeitlichen Wandel untersuchen.
Meinungsfreiheit: In ihrem Forschung und Lehre-Teil schreibt die FAZ (Gerald Wagner) über die Forschungen von Rechtsprofessor Christoph Möllers zur Rechtsgeschichte der Meinungsfreiheit. Zentral für den Schutz der Meinungsfreiheit sei es, die Interpretationsfähigkeit von Texten anzuerkennen. Hierfür sei Ende der 1960er-Jahre ein Berliner Prozess gegen die Kommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhals wichtig gewesen. In einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1976 sei dieses zudem vom "aufgeklärten und politisch gebildeten Leser" eines Flugblattes ausgegangen, statt vom flüchtigen Leser, was zur Aufhebung einer Verurteilung wegen übler Nachrede führte und ebenfalls die Meinungsfreiheit stärkte.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 18. Januar 2023: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50790 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag