Bundesjustizminister Buschmann will die Ersatzfreiheitsstrafe halbieren. Der EGMR billigte das deutsche Tarifeinheitsgesetz. Hat Curevac den Grundstein für den Erfolg des Biontech-Impfstoffs "Comirnaty" gelegt?
Thema des Tages
Ersatzfreiheitsstrafe/Strafzumessung: Justizminister Marco Buschmann (FDP) hat einen Referentenentwurf zur Reform des Sanktionenrechts in die Ressortabstimmung der Bundesregierung gegeben. Kern des Entwurfs ist die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe. Buschmann schlägt einen neuen Umrechnungsmodus vor. Für einen Tagessatz unbezahlter Geldstrafe solll nur noch ein halber (statt ein ganzer) Tag Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden, weil Haft ungleich belastender sei als eine Geldstrafe. Ebenso soll ein halber Tag gemeinnützige Arbeit ("Schwitzen statt Sitzen") als Alternative genügen. Vor der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe sollen die Betroffenen zudem verstärkt durch die Gerichtshilfe auf Alternativen und Zahlungserleichterungen aufmerksam gemacht werden. Der Referentenentwurf sieht außerdem vor, dass der Katalog der strafschärfenden Merkmale in § 46 Abs. 2 Satz 2 Strafgesetzbuch um "geschlechtsspezfische" und "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete" Beweggründe erweitert wird. FAZ (Helene Bubrowski), taz (Christian Rath) und LTO (Felix W. Zimmermann) berichten.
Christian Rath (taz) kommentiert, dass die bloße Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe noch nicht das Problem löse, dass vor allem sozial Deklassierte und Verelendete die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen. Dies sei eher eine Aufgabe der Sozialarbeit als der Kriminalpolitik. Eine vollständige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe sei nicht sinnvoll, denn dies würde auch "gewieften Steuerhinterziehern und Anlagebetrügern", die sich arm rechnen, nutzen.
Rechtspolitik
Digitale Dienste/Digitale Märkte: Das Europaparlament hat die Verordnungen für digitale Dienste und digitale Märkte beschlossen. Europa werde "damit zum ersten Digitalmarkt der freien Welt mit klaren Regeln", gibt die FAZ (Hendrick Kafsack) Binnenmarktkommissar Thierry Breton wieder. Im Bericht von LTO kommen Rechtsanwälte und Europaabgeordnete mit ihren Einschätzungen zum neuen Regelwerk zu Wort.
Arbeitsbedingungen: Der Bundestag hat eine Änderung des Nachweisgesetzes verabschiedet, nach der Arbeitgebende ihren Beschäftigten Informationen über die Arbeitsbedingungen aushändigen müssen. Die auf eine Aktualisierung einer EU-Richtlinie aus den 1990er-Jahren zurückgehende Neufassung ruft vor allem wegen des Ausschlusses der – nach der Richtlinie durchaus möglichen – elektronischen Form Bedenken hervor. Dies solle laut Bundesarbeitsministerium Missbrauch vorbeugen und sicherstellen, dass Betroffene im Konfliktfall ein beweissicheres Dokument haben, schreibt LTO (Tanja Podolski).
Kartellrecht und Energiepreise: Rechtsanwalt Marcel Nuys bestreitet im FAZ-Einspruch eine aktuelle Kompetenz des Bundeskartellamts, die Benzinpreisentwicklung zu korrigieren. Auch die jüngsten Vorschläge ließen Zweifel bestehen, ob "das Kartellrecht seinem Grundgedanken nach" das adäquate Mittel sei, auf diese Weise "in den Markt einzugreifen".
Europäisches Insolvenzrecht: In ihrem Recht und Steuern-Teil berichtet die FAZ (Katja Gelinsky) vom Europäischen Insolvenzrechtstag, der in der vergangenen Woche in Brüssel stattfand. Die Teilnehmenden hätten die in der EU-Kommission unternommenen Harmonisierungsbestrebungen begrüßt und Detailvorschläge unterbreitet.
Justiz
EGMR zu Tarifeinheitsgesetz: Das Tarifeinheitsgesetz ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die deutsche Regelung sei vergleichbar mit Gesetzen in anderen Ländern. Das Recht der kleinen Gewerkschaften, für die Interessen ihrer Mitglieder zu kämpfen, sei immer noch existent, so tagesschau.de (Gigi Deppe) zur Begründung des Gerichts. Laut SZ (Wolfgang Janisch) ließe sich mutmaßen, dass die jetzige Entscheidung "ohne die Nachhilfe aus Karlsruhe", wo das Bundesverfassungsgericht 2017 das Gesetz "mit Bauchschmerzen" weitgehend gebilligt habe, wohl kaum zustande gekommen wäre. Einen Überblick in Frage-und-Antwort-Form veröffentlichte tagesschau.de (Claudia Kornmeier) noch vor Verkündung der EGMR-Entscheidung.
LG Düsseldorf – Curevac gegen Biontech: Das Biotechunternehmen Curevac wirft dem Konkurrenten Biontech am Landgericht Düsseldorf eine Patentrechtsverletzung im Zusammenhang mit der mRNA-Technologie vor. Die beim Corona-Impfstoff verwendete Technologie beruhe auf "mehr als zwei Jahrzehnten Pionierarbeit", zitiert die FAZ (Thiemo Heeg u.a.) aus der Klage. Daher sei eine "angemessene und faire" finanzielle Entschädigung zu leisten, so das Hbl (Maike Telgheder/Siegfried Hofmann). Biontech habe den Vorwurf der Patentverletzung zurückgewiesen.
In einem separaten Kommentar meint Thiemo Heeg (FAZ), dass es nur auf den ersten Blick so aussehe, "als ob hier ein schlechter Verlierer oder gar ein Trittbrettfahrer am Werk ist." In einer Marktwirtschaft dürften Unternehmen "alle legalen Mittel ausschöpfen". Angesichts von Verfahrensdauern bis zu zwei Jahren allein beim Bundespatentgericht dürfe indes nicht mit einer schnellen Entscheidung zu rechnen sein.
BVerfG zur Tariffähigkeit einer Gewerkschaft: Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Mindestvoraussetzungen einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung ist verfassungsgemäß. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht in einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss von Ende Mai. Die christlich orientierte "DHV-Die Berufsgewerkschaft" hatte durch die vom BAG verweigerte Tariffähigkeit ihr Grundrecht auf Koalitionsfreiheit verletzt gesehen und "vollkommen überzogene und damit verfassungswidrige Maßstäbe" moniert. Nach Ansicht des BVerfG habe die Arbeitsgerichtsbarkeit die Organisationsstärke der Gewerkschaft jedoch im Wege einer grundrechtsfreundlichen Gesamtwürdigung ermittelt. LTO berichtet.
BGH zu Legal Tech: Rechtsanwalt Christian Duve fasst im Recht und Steuern-Teil der FAZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur – regelmäßig erkannten – Zulässigkeit von Legal Tech-Anbietern zusammen. Erst Miite Juni habe der BGH in seinem Financialright-Urteil auch die Übertragung einer ausländischen Forderung an ein deutsches Legal Tech-Unternehmen als zulassungsfreies Inkasso gebilligt und sich erneut als Wegbereiter der digitalen Transformation erwiesen. Der Anwaltschaft müsse klar sein, dass sie ihren Mehrwert einer eingehenden Beratung stärker verdeutlichen müsse.
BGH - Alexander Falk: Am heutigen Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof die vom Unternehmer Alexander Falk eingelegte Revision gegen seine Verurteilung wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung. Nach den Feststellungen des Landgerichts Frankfurt/M. hatte der Stadtplan-Erbe einen Schusswaffenangriff auf einen Anwalt in Auftrag gegeben, den er für zivilgerichtliche Forderungen in Millionenhöhe verantwortlich gemacht hatte. LTO (Tanja Podolski) fasst den außergewöhnlichen, an einen "billigen Krimi" erinnernden Fall und den bisherigen Verfahrensverlauf zusammen.
BGH – Schlecker-Insolvenz: Eine Schadensersatzforderung in Höhe von 212 Millionen Euro verhandelte der Bundesgerichtshof. LTO berichtete vorab, dass der Insolvenzverwalter von Schlecker diese Summe von ehemaligen Lieferanten der Firma wegen vermeintlicher Kartellverstöße fordert. In den Vorinstanzen war die Klage abgewiesen worden.
BVerwG zu Uckermark-Stromleitung: Weil weder Rohr- noch Zwergdommeln und auch nicht Kleine Sumpfhühner durch den nördlichen Teil der geplanten Uckermark-Stromleitung "erheblich gefährdet" seien, durfte das brandenburgische Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe davon ausgehen, dass die vom Betreiber unternommenen Schutzmaßnahmen ausreichend sind. Dies befand das Bundesverwaltungsgericht zum Abschluss eines von der SZ (Wolfgang Janisch) als "sehr kleinteilig" oder auch als "ornithologisches Fachseminar" beschriebenen Verfahrens. Die 2005 begonnenen Planungen zum Bau der Stromtrasse könnten nun abgeschlossen werden.
LG Köln – Pink-Panther-Überfälle: Wegen drei Fällen schweren Raubes ist ein 34-jähriger Serbe am Landgericht Köln angeklagt. Gemeinschaftlich mit anderen soll der Mann als Teil der international agierenden Pink-Panther-Bande mehrere Überfälle auf Juweliere und einen Geldtransporter verübt haben. Nach dem Bericht der FAZ (Johanna Dürrholz) habe die Verteidigung zunächst die Aussetzung des Verfahrens wegen einer unvollständigen Ermittlungsakte beantragt. So hätten Videoaufnahmen gefehlt, die in der Fernsehsendung "Aktenzeichen XY … ungelöst" ausgestrahlt wurden. Nach der Ausstrahlung war der Angeklagte in Barcelona festgenommen worden.
LG Kaiserlautern – Polizistenmorde von Kusel: Am Landgericht Kaiserslautern äußerten sich im Verfahren über die Polizistenmorde von Kusel Sachverständige. Die Aussagen zu Schmauchspuren und DNA im Lauf der vermeintlichen Tatwaffe ließen dabei keine eindeutigen Schlüsse zu, wer geschossen hat, schreibt die FAZ (Julia Anton).
LG Bonn – Cum-Ex/Christian Olearius: Wegen mehrerer Fälle schwerer Steuerhinterziehung hat die Staatsanwaltschaft Köln Anklage gegen Christian Olearius erhoben. Als Gesellschafter der Privatbank M.M. Warburg & Co. solle der Angeschuldigte durch Cum-Ex-Geschäfte einen Steuerschaden von mehr als 100 Millionen Euro verursacht haben, berichtet die SZ (Klaus Ott u.a.) exklusiv. Gegenüber dem Blatt habe sein Anwalt angegeben, dass die gegen die Bank erhobenen Steuernachforderungen vollständig beglichen worden seien. Gegenüber der FAZ (Hanno Mußler) gab ein Sprecher des Bankers ferner an, dieser sei vor Erhebung der Anklage weder angehört noch sonst informiert gewesen.
VG Berlin zu Protokollen der Corona-Gipfel: Das am vergangenen Donnerstag verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zur Herausgabe der Protokolle der im Frühjahr 2020 abgehaltenen Bund-Länder-Konferenzen wurde nun veröffentlicht. In den Gründen des Urteils heißt es, dass das beklagte Bundeskanzleramt nicht habe darlegen können, inwiefern derartige Beratungen durch Freigabe der Protokolle beeinträchtigt sein könnten. Die verwendete Argumentation lasse besorgen, dass die Beratungen "in Pandemiezeiten ganz generell dem Informationsfreiheitsgesetz" entzogen werden sollten. Es berichten Tsp (Jost Müller-Neuhof) und LTO.
Recht in der Welt
Großbritannien – schottische Unabhängigkeit: Die schottische Regionalregierung befragt das Oberste Gericht Großbritanniens, ob das Regionalparlament zur Einberufung eines Referendums über die Unabhängigkeit Schottlands berechtigt ist. spiegel.de schreibt, dass die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die Abstimmung für den 19. Oktober 2023 angekündigt hat.
Italien – Brückeneinsturz: In Genua beginnt an diesem Mittwoch ein Strafverfahren gegen 59 Angeklagte wegen des Einsturzes einer Autobahnbrücke vor vier Jahren. Den "Managern, Fachleuten, zuständigen Beamten" stünden Angehörige jener 43 Toten gegenüber, die sich bislang nicht mit dem früheren Betreiber auf eine Entschädigung einigen konnten, zudem Anwohner, die wegen des Neubaus der Brücke ihre Wohnung verloren. Mit einem Urteil sei wahrscheinlich erst 2024 zu rechnen, schreibt die SZ (Oliver Meiler).
Juristische Ausbildung
Jura-Bachelor: Auch die Juristin Jana Schollmeier wendet sich im Verfassungsblog gegen die jüngst in einem Debattenbeitrag geäußerte Einschätzung, ein Bachelor of Laws sei ein "Loser-Abschluss". Mitnichten sei es "herrschende Meinung", dass "die aktuelle Volljuristenausbildung das non plus ultra ist." Abbrecher- und Durchfallerquoten, gerade bei juristischem Nachwuchs aus nicht-akademischen Elternhäusern führten nicht erst in ferner Zukunft zu einem Fachkräftemangel, der rechtsstaatsbedrohend sei und eine Reform geradezu herausfordere.
Sonstiges
beA: Rechtsanwalt Christian Lemke zieht auf Libra eine gemischte Zwischenbilanz nach sechs Monaten anwaltlicher "aktiver Nutzungspflicht" des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs. Angesichts der bereits seit 2018 geltenden anwaltlichen Pflicht, die erforderlichen technischen Einrichtungen für das beA vorzuhalten, müsse von einer Vorleistung gesprochen werden, in die der Berufsstand getreten sei. Dieser Entwicklung hätten sich Gerichte leider nicht in gleichem Maße angeschlossen. Auch wenn dort nicht mehr überall – zum Teil einem schlichten Papiermangel geschuldet – die elektronischen Eingänge auf "Druckstraßen" ihren physischen Weg "zum zuständigen Richter" fänden, hinke die elektronische Ausstattung der Gerichte quasi überall hinterher.
Parteivortrag: Einen softwarebasierten Vorschlag, den zivilprozessualen Parteivortrag effektiver zu strukturieren und damit erheblich zu beschleunigen, unterbreitet Rechtsprofessor Reinhard Greger auf Libra. "Parteivertreter" könnten ihre Tatsachenbehauptungen in einem einheitlichen Dokument eingeben, das im Anschluss vom Gericht auf Schlüssigkeit und Beweisbedürftigkeit geprüft würde. Verfahrensarten wie Verkehrsunfallsachen ließen sich über Eingabemasken beschleunigen. Gesonderten Schriftsätzen blieben Hintergrundinformationen und Rechtsausführungen vorbehalten.
AfD-Mitglieder und Waffen: In einem Rundschreiben an die zuständigen Behörden weist das Thüringer Innenministerium darauf hin, dass bei neuen Waffenbesitzanträgen sowie Folgeüberprüfungen die Mitgliedschaft in der AfD "in der Regel" eine Unzuverlässigkeit indiziere. Grund sei die vom Verfassungsschutz vorgenommene Einstufung des AfD-Landesverbandes als rechtsextrem. Der jetzige Hinweis entspreche der durch die 2020 erfolgte Verschärfung des Waffengesetzes geschaffenen Rechtslage, so Minister Georg Maier (SPD) gegenüber spiegel.de (Wolf Wiedmann-Schmidt).
Henri Nannen: Im Namen von Familienmitgliedern des früheren "Stern"-Chefredakteurs Henri Nannen hat Rechtsanwalt Christian Schertz den NDR aufgefordert, einen kürzlich erschienenen Artikel über den Journalisten aus dem Internet zu entfernen. Die in dem fraglichen Beitrag aufgestellte Behauptung, Nannen habe als Mitglied einer Propagandaeinheit der nationalsozialistischen Wehrmacht ein antisemitisches Flugblatt verantwortet, sei "schlicht als falsche Tatsachenbehauptung anzusehen", zitiert die FAZ (Michael Hanfeld) aus dem bislang unbeantworteten Schreiben.
Das Letzte zum Schluss
Digital First, Bedenken second: Ihre persönliche Digitaloffensive leistete nach Meldung von spiegel.de eine 43-jährige Volljuristin, die ihre Examenspunktzahl mittels Photoshop-Bearbeitung digital aufgehübscht haben soll. Keinerlei Verständnis für diese innovative Optimierung des eigenen Lebenslaufs zeigte nun die Berliner Staatsanwaltschaft. Weil die Frau Jobs in Berliner und Münchner Großkanzleien ergatterte und dort gut verdiente, hat sie nun eine Anklage wegen dreifachem gewerbsmäßigem Betrug am Hals. Eine Verteidigung in eigener Sache ist nach dem Verlust der anwaltlichen Zulassung nicht mehr möglich.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
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Die juristische Presseschau vom 6. Juli 2022: . In: Legal Tribune Online, 06.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48944 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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