Die juristische Presseschau vom 6. März 2024: Repa­ratur von Polens Ver­fas­sungs­ge­richt? / EU gegen Zwangs­ar­beit / Mehr Digi­ta­li­sie­rung der Justiz?

06.03.2024

Polen beginnt, rechtsstaatliche Beschädigungen des Verfassungsgerichts zu beheben. Die EU will Produkte aus Zwangsarbeit aus dem Binnenmarkt drängen. Die Bundesregierung will Gesetzentwurf zur weiteren Justiz-Digitalisierung beschließen.

Thema des Tages

Polen - Verfassungsgericht: Im polnischen Sejm soll am heutigen Mittwoch über eine von der Regierung vorgelegte Resolution  zum polnischen Verfassungsgericht abgestimmt werden. Darin wird festgestellt, dass die Amtszeit der Gerichtspräsidentin bereits 2022 abgelaufen sei und dass drei Verfassungsrichter:innen unrechtmäßig ins Amt kamen. In der Resolution sollen alle 15 Verfassungsrichter:innen zum Rücktritt aufgefordert werden. Alle staatlichen Stellen werden aufgerufen, rund 80 Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu ignorieren, an denen die unrechtmäßig ins Amt gekommenen Richter:innen teilnahmen. In späteren Gesetzen soll das Verfassungsgericht entpolitisiert werden. Unter anderem soll für die Wahl der Verfassungsrichter:innen künftig eine parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit (statt einfacher Mehrheit) erforderlich sein. Um die derzeitige Besetzung des Verfassungsgerichts in den Ruhestand zu schicken, ist eine Verfassungsänderung geplant. Gegen die Gesetze könnte Polens Präsident Andrzej Duda ein Veto einlegen. Die FAZ (Gerhard Gnauck) berichtet.

Rechtspolitik

Import und Zwangsarbeit: Zwischen Europäischem Parlament und dem Rat ist eine grundsätzliche Einigung darüber erzielt worden, die Einfuhr von Produkten, die in Zwangsarbeit hergestellt wurden, zu verbieten. Die vor allem China in den Blick nehmende EU-Verordnung bestimme, dass in Verdachtsfällen Unternehmen nachweisen müssen, dass in der Lieferkette keine Zwangsarbeit erbracht wurde, schreibt die FAZ (Werner Mussler). Eine grundsätzliche Beweislastumkehr bei entsprechend beleumundeten Regionen wie etwa Xinjiang solle lediglich langfristig, nach weiteren Datenerhebungen, eingeführt werden.

Digitalisierung der Justiz: Die Bundesregierung will am Mittwoch einen Gesetzentwurf "zur weiteren Digitalisierung der Justiz" beschließen. Der Entwurf, der LTO (Markus Sehl/Joschka Buchholz) vorliegt, sieht unter anderem die Möglichkeit vor, Strafanträge auch online zu stellen. Darüber hinaus werden Gerichte verpflichtet, ab 2026 alle neuen Akten ausschließlich elektronisch zu führen. Schließlich sollen auch strafrechtliche Revisionshauptverhandlungen per Videokonferenz möglich sein.

Cannabis: Das vom Bundestag verabschiedete Cannabisgesetz wird an diesem Mittwoch und Donnerstag die Fachausschüsse des Bundesrates beschäftigen. Deren Empfehlungen bilden dann die Grundlage für den am 22. März geplanten Beschluss der Länderkammer, bei der die Anrufung des Vermittlungsausschuss wahrscheinlich ist. Gefordert werden dürfte zunächst ein späteres Inkrafttreten im Oktober statt im April. Dies und weitere Einzelheiten berichtet LTO (Hasso Suliak).

Schiedsverfahren: Der Doktorand Quirin Thomas (ZPO-Blog) stellt seine Argumente für die Regelung eines vom Konsensgebot ausgenommenen Streitverkündungsrechts in die Bestimmungen zum Schiedsverfahren in der Zivilprozessordnung vor. Die Drittbeteiligung – in Gestalt von Streitverkündung und Nebenintervention – werde im Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums zur Modernisierung des deutschen Schiedsverfahrensrechts "nur im Ansatz" behandelt.

Verpackungsmüll: Die Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament und dem Rat über eine Reform der Verpackungsmüll-Verordnung sind mit einem Kompromiss beendet worden. So wurden die Zielvereinbarungen für die Verringerung derartigen Abfalls verringert und zudem auch Ausnahmen vom ab 2030 geltenden Gebot der Recyclebarkeit aller Verpackungen vereinbart. Die FAZ (Werner Mussler/Katja Gelinsky) berichtet ausführlich.

Justiz

BVerfG zu Sperrklausel/Europawahl: Den in der vergangenen Woche veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur EU-rechtlichen Einführung einer Sperrklausel bei der Europawahl analysieren die wissenschaftlichen Mitarbeitenden Jonas Grundmann und Johanna Mittrop auf dem Verfassungsblog. Der Sperrklausel von 2 Prozent stehe nun nichts mehr im Wege, bei der im nächsten Juni anstehenden Europawahl gilt sie aber noch nicht.

BGH zu Tötungsvorsatz bei Brandstiftung: beck-aktuell berichtet über die Aufhebung und Zurückverweisung einer erstinstanzlichen Verurteilung wegen Brandstiftung mit Todesfolge durch den Bundesgerichtshof. Das zuvor – und demnächst wieder - mit der Sache befasste Landgericht Leipzig habe unzutreffende Prüfungsmaßstäbe bei der Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Tötungsvorsatz angelegt, notwendig sei die Berücksichtigung aller relevanten Umstände.

BGH zu ärztlichem Ausfallgebühren: Die Erhebung ärztlicher Ausfallgebühren ist nach einer 2022 verkündeten Entscheidung des Bundesgerichtshofs jedenfalls dann zulässig, wenn von den Patient:innen komplexe Behandlungen abgesagt werden. Dies schreibt im Recht und Steuern-Teil der FAZ Sabine Wolter, Syndikusanwältin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, und legt weitere Erfordernisse dar. Eine höchstrichterliche Entscheidung über die Wirksamkeit von AGB-Klauseln mit entsprechenden Bestimmungen stehe noch aus.

OLG Koblenz – Anschlag auf Asylheim Saarlouis: Im Strafverfahren gegen Peter St., dem am Oberlandesgericht Koblenz Beihilfe zum Mord beim Brandanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft in Saarlouis 1991 vorgeworfen wird, hat der vermeintliche Hauptbelastungszeuge ausgesagt. Der 51-jährige Heiko S., ein aus der rechten Szene inzwischen ausgestiegener Ex-Skinhead, hat darauf bestanden, eine Äußerung des Angeklagten, derzufolge etwas "brennen" müsse, nicht gehört zu haben. Die Verteidigung beantragte daraufhin die umgehende Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft. FAZ (Lukas Fuhr) und taz (Christoph Schmidt-Lunau) berichten.

OLG Celle zu gerichtlicher Doppelzahlung: Bei einer irrtümlich doppelten Auszahlung unverbrauchter Gerichtskosten an sowohl Mandant als auch dessen Anwältin muss sich das zurückfordernde Gericht an den Mandanten als Empfänger der rechtsgrundlosen Leistung halten. Über den vom Oberlandesgericht Celle in einem Beschluss von Mitte Januar erteilten "Auffrischungskurs zum Bereicherungsrecht und zur Wirkung einer Prozessvollmacht" berichtet beck-aktuell (Michael Dollmann).

OVG Berlin-BB zu Klimaschutzprogrammen: Aus Anlass der nun von der Bundesregierung eingelegten Revision gegen ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, das die Bundesregierung zur Vorlage von Klimaschutzsofortprogrammen verpflichtete, erklärt die SZ (Wolfgang Janisch) in ihrem Aktuellen Lexikon die Funktion des Rechtsmittels. Im konkreten Fall dürfte die Revision aber zuvörderst dem Zweck dienen, "Zeit zu gewinnen." Dabei sei die Ampel-Koalition selbst schuld, dass die geplante Reform des Klimaschutzgesetzes, mit der das OVG-Urteil ausgehebelt werden soll, noch nicht beschlossen und verkündet ist.

Mitbestimmung von Betriebsrat/Personalvertretung: Die Rechtsanwälte Markus Janko und Jakob Friedrich Krüger beschreiben im Recht und Steuern-Teil der FAZ einen Trend, dass das Mitbestimmungsrecht von Betriebsräten und Personalvertretungen über IT-Anwendungen von Gerichten zurückgedrängt wird. Verwiesen wird auf den Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburgs von voriger Woche, dass für die betriebliche Erlaubnis, Programme wie ChatGPT einzusetzen, kein betriebsrätliches Mitbestimmungsrecht besteht. Außerdem sah das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung von Anfang Mai 2023 kein Mitbestimmungsrecht der Personalvertretung bei arbeitsgeberseitig betriebenen Social Media-Kanälen mit Kommentarfunktion.

Recht in der Welt

Frankreich – Schwangerschaftsabbruch: Über die französische Verfassungsänderung, durch die das Recht auf Abtreibung Verfassungsrang erlangt, berichtet nun auch LTO und vergleicht dies mit der Lage in Deutschland. Die im Koalitionsvertrag der Ampelregierung vereinbarte "Stärkung der reproduktiven Rechte von Frauen" führte bisher nur zur Einsetzung einer Kommission, die Mitte April einen Bericht darüber vorlegen soll, ob Schwangerschaftsabbrüche weiterhin im Strafgesetzbuch geregelt werden sollen. Im Bericht der FAZ (Michaela Wiegel) wird der frühere französische Europaminister Clément Beaune mit der Forderung wiedergegeben: "Die nächste Etappe wird sein, diese Freiheit in die Grundrechtecharta der EU einzuschreiben, wie Frankreich es im Januar 2022 vorgeschlagen hat".

Karoline Meta Beisel (SZ) bezeichnet die französische Verfassungsänderung als sinnvolle Vorbeugung, wenn "sich der politische Wind auch in diesem Land wieder einmal drehen könnte." Ein "wird schon gut gehen" sei nicht nur "bei der Familienplanung eine schlechte Strategie." Elisa Kautzky (taz) wundert sich, dass die Änderung angesichts einer gespaltenen Gesellschaft eine derart breite parlamentarische Mehrheit gefunden hat.

EuGH/Slowakei – Europol-Schadensersatz: Europol muss nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs dem zwielichtigen slowakischen Geschäftsmann Marian Kocner 2.000 Euro Schadensersatz zahlen. Kocner war verdächtig, den Mord an dem Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten beauftragt zu haben. Nach der Übermittlung von Datensätzen von Europol an slowakische Behörden waren Transkripte intimer Gespräche Kocners mit seiner Freundin von Medien veröffentlicht worden. Dies stelle, so der EuGH, eine widerrechtliche Datenverarbeitung dar, die das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletze. beck-aktuell berichtet.

Irland – Gleichberechtigung: Am nächsten Freitag stimmen irische Wahlberechtigte über zwei Verfassungsänderungen ab, mit denen als sexistisch eingestufte Bestimmungen der irischen Verfassung modernisiert werden sollen. Die fraglichen Artikel zur Institution der Ehe und einer Bezugnahme auf häusliche Pflichten von Frauen stellt die taz (Ralf Sotschek) vor. Die Verfassungsänderung wird von allen großen irischen Parteien unterstützt.

Kosovo – Rechtsstaat: Die rechtsstaatliche Situation im Kosovo sei bemerkenswert gut, schreibt die FAZ (Michael Martens) in einem Hintergrundbericht. Dies gelte jedoch nicht bezüglich der Umsetzung von Gerichtsurteilen, wie der Autor am Falle eines orthodoxen Klosters belegt. Der das Kloster betreffende Rechtsstreit über die Rückgängigmachung einer noch von Slobodan Milosevic veranlassten Landschenkung war am Obersten Gerichtshof bereits 2009 mit einem Vergleich beendet worden. Auch nachdem das Verfassungsgericht des Landes diese Einigung unbeanstandet ließ, unternahmen Behörden und Regierung nichts, um den gefundenen Kompromiss umzusetzen. Dieses Versäumnis gefährde die beantragte Aufnahme des Kosovo in den Europarat.

Russland – Unerwünschte Organisationen: Das russische Justizministerium hat seine Liste "unerwünschter Organisationen" um vier deutsche erweitert. Betroffen sind u.a. die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde und die Friedrich-Ebert-Stiftung, schreibt die FAZ (Friedrich Schmidt). Die Arbeit für oder Spenden an Organisationen mit einer derartigen Kennzeichnung könne damit als Ordnungsgswidrigkeit oder auch Straftat mit Haftstrafe geahndet werden.

Iran – Protest-Lied: Wegen "Propaganda gegen das System" und "Ermutigung der Menschen zum Protest" ist der Musiker Shervin Hajipour im Iran zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sein Song "Baraye" habe als Hymne der Proteste im Herbst 2022 gegolten, so die FAZ (Othmara Glas). Nach eigenen Angaben ist dem Sänger im Urteil gleichfalls aufgegeben worden ein Lied zu schreiben, das sich mit den "Verbrechen der USA" befasse.

Sonstiges

Of Counsel: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lena Forberger beschreibt für LTO-Karriere die Aufgabenbereiche sogenannter Of Counsels. In Ermangelung einer gesetzlichen Bestimmung gestalte sich deren Tätigkeit von Kanzlei zu Kanzlei unterschiedlich. Üblich seien beratende Tätigkeiten oder die Mitarbeit an Gutachten in Rechtsgebieten, in denen die Personen hohe Expertise aufweisen; all dies bei einer Arbeitszeitgestaltung, die einen langsamen Übergang zum Ruhestand nahelegt.

Taurus-Leak: Vorläufigen Erkenntnissen zufolge beruht das sogenannte Taurus-Leak auf einem "individuellen Anwendungsfehler" eines der Teilnehmer der abgehörten Besprechung. Dieser habe an dem Online-Gespräch über eine "nicht sichere Datenleitung" teilgenommen, so Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), und so wohl den Zugang des russischen Geheimdienstes ermöglicht. Persönliche Konsequenzen stünden gleichwohl "nicht auf der Agenda", so der Minister laut Hbl (Frank Specht) und LTO.

Nach Ansicht von Reinhard Müller (FAZ) wirft der Fall "ein weiteres Schlaglicht auf die deutsche Kriegsuntüchtigkeit", die gekennzeichnet sei von "Auschließeritis", "Defiziten mentaler Art" und einem fehlenden "Verständnis der Idee der Abschreckung."

AfD und Neutralitätsgebot: Für den FAZ-Einspruch erklärt Rechtsanwalt Nicolas Harding Inhalt, Reichweite und Grund des staatlichen Neutralitätsgebotes und wendet diese Grundsätze auf jüngste Äußerungen politischer Entscheidungsträger über die AfD an.

Das Letzte zum Schluss

Katzenbilder: In der Reihe alternativer Strafen weiß spiegel.de von der besonders kreativen Idee der öffentlichen Bibliothek von Worcester im US-Bundesstaat Massachusetts zu berichten. Wer dort Bücher zu spät zurückbringt, kann – die Kulanz von Mitarbeitenden vorausgesetzt – von Strafgebühren befreit werden, wenn das Bild einer Katze vorgezeigt wird.

 

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lto/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 6. März 2024: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54039 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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