Die Möglichkeit, Strafverfahren nach einem Freispruch wegen neuer Beweismittel wiederaufzunehmen, ist verfassungswidrig. Am BMI-Entwurf zur Änderung des Verfassungsschutz-Gesetzes gibt es viel Kritik. Auf Alexander Zverev wartet ein Prozess.
Thema des Tages
BVerfG zu Wiederaufnahme: § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung ist vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts für nichtig erklärt worden. Die von der letzten schwarz-roten Koalition Ende 2021 im "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" eingeführte Vorschrift ermöglichte die Wiederaufnahme von Mordverfahren auch nach einem rechtskräftigen Freispruch, wenn neue Beweismittel auftauchen, die eine Verurteilung wahrscheinlich machen. Laut BVerfG ist die Bestimmung aber unvereinbar mit dem grundgesetzlichen Mehrfachverfolgungsverbot (ne bis in idem) und dem Rückwirkungsverbot. Die Verfassungsbeschwerde des im Mordfall Frederike von Möhlmann erneut tatverdächtigen Ismet H. gegen einen Haftbeschluss des Oberlandesgerichts Celle hatte damit Erfolg. Nach Auffassung des Gerichts gewährt das in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz verankerte Mehrfachverfolgungsverbot der Rechtssicherheit absoluten Vorrang vor der materialen Gerechtigkeit. Diese Verfassungsentscheidung verbiete eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang. Der Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ergebe sich aus der Anwendung der beanstandeten Norm auf Verfahren, die vor ihrer Einführung bereits abgeschlossen waren. Diese echte Rückwirkung sei auch nicht ausnahmsweise zulässig. In einem Sondervotum erklärten die Richter:innen Christine Langenfeld und Peter Müller, dass sie die Gesetzesänderung wegen des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot ebenfalls für verfassungswidrig halten, dass aus ihrer Sicht jedoch ein Gesetz mit Wirkung nur für neue Fälle möglich gewesen wäre. Das ne bis in iden-Prinzip des Grundgesetzes sei nicht abwägungsfest. Es berichten FAZ (Katja Gelinsky), taz (Christian Rath) spiegel.de (Dietmar Hipp), LTO (Hasso Suliak), sueddeutsche.de (Wolfgang Janisch), tagesschau.de (Klaus Hempel), beck-aktuell (Pia Lorenz) und zdf.de (Christoph Schneider u.a.). Reaktionen auf die Entscheidung fasst ein weiterer Beitrag von LTO (Hasso Suliak) zusammen.
In einem separaten Kommentar resümiert Hasso Suliak (LTO), dass "die verfassungsrechtliche Lehrstunde aus Karlsruhe für SPD und Union" kaum verheerender hätte ausfallen können. Obgleich im Motiv "moralisch nachvollziehbar" habe das Vorhaben gleich "zwei Grundprinzipien eines gerechten Strafverfahrens verletzt." Dass die Wiederaufnahme zuungunsten rechtskräftig Freigesprochener bislang "im deutschen Strafprozessrecht bisher lediglich in der NS-Zeit" möglich war, sei eine rechtsstaatliche Mahnung. An dieses historische Vorbild erinnert auch Jost Müller-Neuhof (Tsp) in seinem Kommentar. Das nun verkündete Urteil sei daher "ein Aufruf zur rechtspolitischen Besinnung." Wolfgang Janisch (sueddeutsche.de) erklärt den Kernbegriff der Rechtssicherheit mit der "klugen Selbstbeschränkung des Rechtsstaates", der die Macht habe, Freiheit zu nehmen, diese aber "durch formale – also willkürfreie – Regeln" begrenze. Es sei richtig, dass das BVerfG der Versuchung widerstanden habe, von diesem Prinzip eine Abweichung zuzulassen. Rechtsprofessor Erol Pohlreich erinnert in einem Gastkommentar auf zeit.de, dass "die Mehrheit in der juristischen Fachwelt das Gesetz für verfassungswidrig gehalten" habe und vereinzelte Gegenstimmen ganz evident die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ignoriert hätten. Hätte die Regelung Bestand gehabt, wären Betroffene praktisch lebenslang von potenziell existenzzerstörenden Prozessen bedroht gewesen. Gigi Deppe (tagesschau.de) hält den argumentativen Rückgriff auf die NS-Rechtsprechung für verfehlt. Heutzutage seien wir "doch meilenweit von solchen Verhältnissen entfernt." Auch Christian Rath (taz) stellt auf den Ausnahmecharakter der beanstandeten Regelung ab, die einen Dammbruch verhindert hätte, und meint, dass der "Karlsruher Heldenmut" an dieser Stelle "schlecht investiert" worden sei. Reinhard Müller (FAZ) erinnert im Leitartikel, dass die Wiederaufnahme nach einem Freispruch auch weiterhin in bestimmten Konstellationen möglich sei. Die jetzige Entscheidung zementiere damit "eine Rechtslage, die zu krassen Wertungswidersprüchen" führe.
Rechtspolitik
Verfassungsschutz: LTO (Markus Sehl) erinnert an die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte, zum Jahresende ablaufende Frist für eine gesetzliche Neuregelung der Datenübermittlungen zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei. Das BVerfG hatte im Frühjahr 2022 zunächst entsprechende Befugnisse des bayerischen Verfassungsschutzgesetzes beanstandet, im September 2022 folgte eine Entscheidung zum Bundesverfassungsschutzgesetz, die eine Frist bis Ende 2023 setzte. Der hierzu vom Bundesinnenministerium erarbeitete Gesetzentwurf steht inhaltlich weit mehr in der Kritik (was ausführlich dargestellt wird) als ein paralleler Entwurf des Bundeskanzleramts für eine Novelle des BND-Gesetzes. Am nächsten Montag ist für beide Gesetzentwürfe eine Anhörung im Bundestag geplant.
Planungsbeschleunigung/Verkehr: Das jüngst vom Bundestag verabschiedete Gesetzespaket zur Förderung verkehrsinfrastruktureller Maßnahmen bezieht sich auf Fernstraßenprojekte mit einem "überragenden öffentlichen Interesse". Mit dessen gesetzlicher Festlegung gehe eine Planungsbeschleunigung einher, die in der Praxis kaum zu erreichen sein wird, so die Rechtsreferendarin Jana Weckert im JuWissBlog. Dies folge bereits aus dem Umfang der bereits festgelegten Projekte, darüber hinaus aber auch aus der Kollision mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang.
Prostitution: In Fortsetzung des Online-Symposiums über die Regulierung der Sexarbeit in Deutschland erinnert Rechtsanwältin Margarete von Galen im Verfassungsblog an die jahrzehntelange Verwirrung über "milieubedingte Unruhe" durch Prostitutionsstätten. Der Begriff sei 1983 vom Bundesverwaltungsgericht ohne nähere Definition verwendet worden und habe in der Folgezeit zahlreiche bauplanungsrechtliche Entscheidungen beeinflusst. Erst im November 2021 sei dieses Mißverständnis durch das BVerwG klargestellt und erklärt worden, welche Störungen von bauplanungsrechtlichem Belang sind. Die Bestimmungen zur Erlaubnispflichtigkeit im Prostituiertenschutzgesetz erforderten eine ähnliche (am besten durch den Gesetzgeber zu leistende) Klarstellung, dass eine Erlaubnis nach dem ProstSchG keine baurechtliche Genehmigung voraussetzt, weil es sich um zwei getrennte Verfahren handele.
Justiz
AG Berlin-Tiergarten – Alexander Zverev: Bereits Anfang Oktober hat das Berliner Amtsgericht Tiergarten einen Strafbefehl in Höhe von 90 Tagessätzen gegen den Tennisprofi Alexander Zverev erlassen. Hiergegen hat der Olympiasieger Einspruch eingelegt, ein Hauptverhandlungstermin ist aber noch nicht bestimmt. Zverev wird vorgeworfen, seine frühere Freundin verletzt zu haben, schreiben spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO. Er bestreitet diesen Vorwurf, eine ihn vertretende Kanzlei hat Mängel bei der Zustellung des Strafbefehls gerügt und behauptet, dass die Vorwürfe der Geschädigten durch ein rechtsmedizinisches Gutachten widerlegt seien.
BayVerfGH zu Daniel Halemba: Der bayerische Verfassungsgerichtshof hat zwei Eilanträge im Zusammenhang mit dem bayerischen AfD-Politiker Daniel Halemba verworfen. Dessen Landtagsfraktion wollte die Parlamentspräsidentin im Wege einer einstweiligen Anordnung zur Zusage verpflichten, den wegen Volksverhetzung Beschuldigten nicht im Landtag verhaften zu lassen. Mangels Befugnis wurde dies als unzulässig abgewiesen, so LTO. Dieses Schicksal teilte ein von Halemba selbst stammender Antrag, der den gegen ihn erlassenen Haftbefehl außer Kraft setzen sollte. Ein derartiges Ansinnen wäre auch im Hauptsacheverfahren unzulässig.
KG Berlin – X-Zugang für Datenanalyst: spiegel.de (Max Hoppenstedt) berichtet über den Fall eines Berliner Datenanalysten, der am Berliner Kammergericht darum kämpft, seinen gesperrten X/Twitter-Zugang wiederzuerlangen. Der Programmierer fasse die Sperrung als Abstrafung seiner Tätigkeit auf. Über bislang offene Schnittstellen habe er Daten über die Verbreitung von Verschwörungserzählungen und Falschinformationen erhoben und Medien zur Verfügung gestellt. Hieraus habe sich ergeben, dass solche Inhalte nach der Übernahme des Dienstes durch Elon Musk zugenommen hätten.
AG Würzburg zu Daniel Halemba: Über die Entscheidung des Amtsgerichts Würzburg, den gegen den AfD-Politiker Daniel Halemba erlassenen Haftbefehl unter Auflagen außer Vollzug zu setzen, schreibt nun auch LTO. Die gegen Halemba ermittelnde Staatsanwaltschaft wollte am Dienstag entscheiden, ob sie Rechtsmittel einlegt.
bild.de (Andreas Bachner) schildert Details aus dem Haftbefehl gegen Halemba, insbesondere was Halemba strafrechtlich vorgeworfen wird, z.B. die Verwendung von "Hitler-Wein" bei einem Kneipenabend seiner Burschenschaft. Geschildert wird auch, dass die Verdunkelungsgefahr auf massiven Druck gegen einen mitbeschuldigten Burschenschaftler gestützt wird, den Halemba persönlich bei einer Polizeiaussage begleitete.
Steuerhinterziehung: Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums wurden im vergangenen Jahr knapp 10.000 Steuerstrafverfahren rechtskräftig abgeschlossen. Die hierbei ergangenen knapp 6.000 Verurteilungen bzw. Strafbefehle hätten zu Freiheitsstrafen von 1.616 Jahren und Geldstrafen von fast 35 Millionen Euro geführt. Zu diesen Zahlen erläutert das Hbl (Katharina Schneider) die prozessualen Voraussetzungen und finanziellen Konsequenzen von Steuerstrafsachen.
Rückgang der Zivilverfahren: Ein Forschungskonsortium hat im Auftrag des Bundesjustizministeriums Ursachen für den anhaltenden Rückgang der Eingangszahlen an deutschen Zivilgerichten untersucht und nun seinen Abschlussbericht vorgestellt. Auf einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins und der Stiftung Forum Recht wurden jetzt die gewonnenen Erkenntnisse diskutiert. Die Teilnehmenden seien sich einig gewesen, dass die Angst vor finanziellen Belastungen viele Rechtssuchende davon abhalte, Ansprüche gerichtlich durchzusetzen. Über Methoden, dies zu ändern, bestehe dagegen keine Einigkeit, so die FAZ (Katja Gelinsky) im Recht und Steuern-Teil.
Recht in der Welt
USA - Tesla-Autopilot: Vor einem Bundesgericht in Kalifornien erzielte Tesla einen ersten gerichtlichen Erfolg im Streit um sein Selbstfahrsystem. Anlass war ein Unfall im Jahr 2019. Ein Tesla-Fahrzeug war auf einem Highway mit 105 Stundenkilometern von der Fahrbahn abgekommen, hatte eine Palme gestreift und war in Flammen aufgegangen. Dabei wurde der Fahrer Micah Lee getötet und zwei Mitfahrer schwer verletzt. Die Mitfahrer verklagten Tesla auf 400 Millionen Dollar und warfen dem Autobauer vor, beim Verkauf des Fahrzeugs gewusst zu haben, dass der Autopilot und andere Sicherheitssysteme fehlerhaft waren. Tesla machte menschliches Versagen für den Unfall verantwortlich. Lee habe Alkohol getrunken, bevor er sich ans Steuer gesetzt habe. Nach viertägiger Beratung gaben neun der zwölf Juroren Tesla recht. faz.net berichtet.
USA – Robert de Niro: In New York/USA muss sich der Schauspieler Robert de Niro gegen eine Schadensersatzklage einer früheren Assistentin verteidigen. Die Klägerin wirft dem Star vor, sie im Rahmen ihrer Tätigkeit sexuell belästigt und gemobbt zu haben und verlangt deshalb zwölf Millionen Dollar. Einzelheiten berichtet bild.de (Kai Franzke).
Sonstiges
Bewertungen: Ausgehend vom aktuellen Versuch des Hamburger Tierparks Hagenbeck, die mutmaßlichen Urheber negativer Kommentare und Bewertungen bei Google Maps über eine mögliche Löschung zu informieren, beschreibt spiegel.de (Jörg Breithut) die Rechtslage. Unternehmen beriefen sich in der Regel auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs zu Hotelbewertungen aus dem Sommer 2022 und forderten direkt oder über Google die Urheber schlechter Bewertungen, ihren Besuch zu authentifizieren. Gerichtliche Schadensersatzforderungen kämen eher selten vor.
Kündigungsgrund Antisemitismus: Gegenüber bild.de (Felix Rupprecht) erklärt Rechtsprofessor Michael Fuhlrott, wie Sympathiebekundungen für die Hamas zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen können. Entscheidend sei der betriebliche Bezug zu Aussagen oder Handlungen – wer in Dienstuniform auf entsprechende Demos gehe oder in Posts den Arbeitgeber erkennen lasse, müsse mit einer Abmahnung oder gar der Kündigung rechnen.
Das Letzte zum Schluss
Arbeitszeugnis: Welche Blüten arbeitsgerichtliche Auseinandersetzungen über Inhalt und vor allem Form von Arbeitszeugnissen treiben können, belegt ein von Arnd Dieringer (expertenforum.arbeitsrecht) berichteter Beschluss des Landesarbeitsgerichts Hamm aus dem Jahr 2016. Dieser bildete den Abschluss einer Auseinandersetzung über das nach einem Beschäftigungsende erstellte Zeugnis, das zunächst vom Personalreferenten unterzeichnet wurde, sodann vom – zuständigen – Geschäftsführer, allerdings in "Kinderschrift". Beim nächsten Versuch beanstandete die Klägerin, dass die Unterschrift im 30-Grad-Winkel diagonal abfallend geleistet worden sei.
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LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 1. November 2023: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53044 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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