Die juristische Presseschau vom 19. November 2024: BGH zu Scha­dens­er­satz bei Daten­pannen / VGH Mün­chen zu staat­li­cher Neu­tra­lität / Man­gelnder Gewalt­schutz durch Fami­li­en­ge­richte?

19.11.2024

BGH hält Kontrollverlust nach Datenpannen für ersatzfähigen Schaden. Der bay. VGH fordert Nürnberg zum Austritt aus Anti-Rechts-Bündnis auf. Studie behauptet, dass Familiengerichte gewaltbetroffenen Kindern und Müttern kaum Gehör schenken.

Thema des Tages

BGH zu Facebook-Datenleck: Nach einem Datenleck bei Facebook können Nutzer:innen schon allein aufgrund des Kontrollverlustes über die eigenen Daten Schadensersatz verlangen. Das entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem ersten Leitentscheidungsverfahren und schaffte damit Klarheit für tausende ähnlich gelagerte Klagen im sog. Scraping-Komplex. Aufgrund mangelhafter Datenschutzvorkehrungen von Facebook waren zwischen Mai 2018 und September 2019 die Daten von weltweit rund 533 Millionen Facebook-Nutzer:innen von Unbekannten zusammengetragen und 2021 in einem Hackerforum im Darknet veröffentlicht worden. Das Urteil entschied nun, dass bereits der kurzzeitige Kontrollverlust über die eigenen personenbezogenen Daten einen immateriellen Schaden im Sinne von Art. 82 Abs. 1 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) darstellt. Betroffene müssen in solchen Fällen nur noch nachweisen, dass sie Opfer eines Datendiebstahls waren. Nachweise für einen Missbrauch der Daten oder andere Beeinträchtigungen seien nicht erforderlich. Die Höhe des Schadensersatzes bei bloßem Kontrollverlust könne aber nicht allzu hoch ausfallen. Der BGH habe "keine Bedenken" gegen eine Summe von 100 Euro. Das Oberlandesgericht Köln muss nun unter anderem klären, ob im Ausgangsfall tatsächlich eine Datenschutzverletzung vorlag und wie der Schaden zu bemessen ist. Es berichten SZ (Miriam Hauck), taz (Christian Rath), tagesschau.de (Egzona Hyseni), zdf.de (Daniel Heymann/Jan Henrich), beck-aktuell und LTO.

Man könne über das Ausmaß des Datenschutzes oder das Bestehen eines Entschädigungsanspruchs ohne wirtschaftlichen Schaden streiten, aber eine "grundsätzliche Haftung des Betreibers in einem Fall, in dem mehr als eine halbe Milliarde Nutzer:innen betroffen waren", müsse sein, meint Reinhard Müller (FAZ) und begrüßt das Urteil des BGH. Auch Christian Rath (RND) begrüßt die Stärkung der Schadensersatzansprüche, gibt aber zu bedenken, dass dies nicht nur für Facebook, sondern auch für kleine und mittelständische Unternehmen gelte und ein entsprechendes Risiko darstellen könne. Es bleibe andererseits abzuwarten, ob spezialisierte Kanzleien trotz der eher geringen Entschädigungssummen pro Datenpanne weiterhin solche Fälle suchen werden.

Rechtspolitik

Schwangerschaftsabbruch: Die Streichung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch sei "richtig – gesellschaftlich, moralisch, finanziell", meint Ronen Steinke (SZ) zum Vorstoß von 236 Abgeordneten aus SPD, Grünen und Linken. Das geltende Recht sei seit dreißig Jahren "unehrlich und widersprüchlich", erlaube einerseits den Abbruch und pönalisiere ihn zugleich. Dies führe zu Verunsicherung bei Schwangeren und Ärzt:innen und sei im deutschen Strafrecht so nicht noch einmal zu finden. Auch wenn durch die Änderung das meiste beim Alten bleibe, wäre der Schwangerschaftsabbruch dann endlich "vom Odium des Strafrechts" befreit.

Social Media: Nachdem Australien erwägt, den Zugang zu sozialen Netzwerken erst ab 16 Jahren zu erlauben, sorgt der Vorschlag auch in Deutschland für Diskussionen. Doch juristisch und praktisch scheint die Durchsetzung schwierig. So äußert Jutta Croll von der Stiftung Digitale Chancen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der UN-Kinderrechtskonvention und betont die Wichtigkeit von Begleitung und Bildung statt starrer Verbote. zdf.de (Marie Ahlers/Daniel Heymann) berichtet. 

Bruch der Ampel/Gesetzvorhaben: Nach dem Scheitern der Ampel-Koalition dürften auch einige digital- und verbraucherschutzpolitische Vorhaben nicht mehr umgesetzt werden, wie die taz (Svenja Bergt) erläutert. Dazu gehören unter anderem das Gesetz zum Schutz vor digitaler Gewalt oder Gesetze, die die Digitalisierung der Verwaltung vorantreiben und den Netzausbau beschleunigen sollten. Aber auch die Umsetzungen von EU-Recht werde sich wohl verzögern. So müsste für die Umsetzungskontrolle zur EU-Verordnung über künstliche Intelligenz (AI Act) eigentlich eine nationale Behörde benannt werden.

Innere Sicherheit: Auf einer Veranstaltung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung diskutierten Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Richter:innen und Praktikeri:nnen über die Innere Sicherheit in Deutschland. Wie beck-aktuell (Joachim Jahn) berichtet, wurde das Fehlen von Vorratsdatenspeicherung und von biometrischer Gesichtserkennung anhand von Internet-Fotos moniert. Zugleich wurde die Notwendigkeit umfassender Reformen im Nachrichtendienstrecht und die Verbesserung des Schutzes vor jedem Extremismus betont, ohne jedoch Grundrechte zu sehr einzuschränken. Vor den (rechtlichen) Risiken eines AfD-Verbots wurde gewarnt. 

BVerfG-Richterwahl: Wie LTO (Markus Sehl) schreibt, deutet vieles darauf hin, dass die CDU als Nachfolger für den ausscheidenden Bundesverfassungsrichter Josef Christ die BGH-Richterin Angelika Allgayer vorschlagen wird. Allgayer wurde von der CDU/CSU bereits mehrfach als Sachverständige für Anhörungen des Rechtsausschusses benannt. Dort sprach sie sich u.a. gegen die Abschaffung der Strafbarkeit des Schwarzfahrens und für bezahlbare Fahrpreise sowie gegen "symbolhafte Identitätspolitik" im Strafrecht aus. 

StA Hessen: Trotz angespannter Haushaltslage sollen die Staatsanwaltschaften in Hessen wegen der starken Überlastung 100 neue Stellen bekommen – 50 für Staatsanwält:innen und 50 für Beschäftigte in den Geschäftsstellen. Das will Landesjustizminister Christian Heinz (CDU) in seiner ersten Regierungserklärung am heutigen Dienstag ankündigen. Wie LTO weiter schreibt, leiden auch die Staatsanwaltschaften in anderen Bundesländern unter einer enormen Arbeitsbelastung. Abhilfe soll hier auch die Absenkung der Eingangsvoraussetzungen für Berufseinsteiger:innen schaffen.

Justiz

VGH Bayern zu staatlicher Neutralität/Stadt Nürnberg: Kritische Äußerungen des Vereins "Allianz gegen Rechtsextremismus" über die AfD muss sich die Stadt Nürnberg als Mitglied zurechnen lassen. Sie verstoße damit allerdings gegen ihre Pflicht zur parteipolitischen Neutralität, weshalb der klagende AfD-Kreisverband Schwabach den Austritt der Stadt verlangen kann. Dies entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, ließ aber die Revision zu. Neben der Stadt Nürnberg gehören dem Netzwerk noch weitere Städte, Gemeinden und Landkreise sowie zivilgesellschaftliche Organisationen an. Es berichten beck-aktuell und spiegel.de.

BVerfG – RBB-Staatsvertrag: Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hat angekündigt, Verfassungsbeschwerde gegen den seit Dezember 2023 gültigen Staatsvertrag der Länder Brandenburg und Berlin einzureichen. Die im Staatsvertrag enthaltenen neuen Regelungen verstießen gegen das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit des RBB. U.a. soll die obligatorische täglich 60-minütige Auseinanderschaltung des Fernsehprogramms für die gesonderte Darstellung jeden Landes gerügt werden. Auch die Bestimmung, wo konkret Regionalbüros und -studios in welcher Anzahl einzurichten sind, verletze die Rundfunkfreiheit. Es berichten FAZ und beck-aktuell.

BGH zu Kündigung trotz Mietnachzahlung: Nun berichtet auch LTO über die inzwischen veröffentlichte erneute Entscheidung des Bundesgerichtshofs,  dass die nachträgliche Bezahlung von Mietschulden innerhalb der Schonfrist nur die außerordentliche Kündigung verhindere, nicht aber die hilfsweise ordentliche Kündigung. 

LAG Nds zu Kündigung eines Betriebsrats: Nun schreibt auch die Anwältin Kim Kleinert im Expertenforum Arbeitsrecht über eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen aus dem Februar. Danach durfte einem Betriebsratsvorsitzenden fristlos gekündigt werden, weil dieser sich während der Arbeitszeit stundenlang mit einer Frau getroffen hatte, obwohl er sich zu einer vom Arbeitgeber bezahlten Fortbildung abgemeldet hatte. 

LG Waldshut-Tiengen zu Tötung von Mahid B.: Das Landgericht Waldshut hat den 58-jährigen Patrick E. wegen Totschlags zu knapp sieben Jahren Haft verurteilt. Er soll am 23. Dezember 2023 den 38-jährigen tunesischen Flüchtling Mahdi B. in dessen Wohnung mit einem Kopfschuss getötet, die Leiche in sechs Teile zerstückelt und diese im Rhein versenkt haben. Trotz diverser Hinweise hat sich das Landgericht nicht weiter mit dem rechtsextremen Gedankengut von Patrick E. auseinandergesetzt und auch keinen psychiatrischen Gutachter hinzugezogen, berichtet die taz (Benno Stieber). Vielmehr endete der Prozess nach drei von acht angesetzten Verhandlungstagen mit einer Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht. 

LG Bonn – Masken-Beschaffung: Das Landgericht Bonn will am Mittwoch seine Entscheidung in einem seit 2020 anhängigen Staatshaftungsverfahren gegen das inzwischen von Karl Lauterbach (SPD) geführte Gesundheitsministerium verkünden. Dabei geht es um Forderungen von über 600 Millionen Euro für Corona-Schutzmasken, die das Ministerium unter Jens Spahn (CDU) während der Corona-Pandemie zum Preis von 4,50 Euro pro Stück im Open House-Verfahren bestellt hatte, aber nicht bezahlen wollte. Wie die SZ (Markus Grill/Klaus Ott) darstellt, wird die Klage von der Firma Areal Solutions finanziert, die zu 50 Prozent einer Gesellschaft des Berliner Anwalts und Ex-CDU-Politikers Niels Korte gehört. Kläger sind Hamburger Geschäftsleute mit ihrer Firma KLT Trade, die Forderungen anderer Firmen übernommen haben, um den ursprünglich vereinbarten Preis für die Masken geltend zu machen. 

AG München zu GoA bei verletztem Haustier: Wird ein verletzt aufgefundenes Haustier von einer fremden Person zur Tierklinik gebracht, haftet die Tierhalterin für die Kosten der Notbehandlung. Das hat das Amtsgericht München entschieden. Es berichtet beck-aktuell. LTO-Karriere bereitet dieses "Schulbeispiel" der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) mit all seinen juristischen Details auf.

Korrupter Staatsanwalt: Die CDU hat im niedersächsischen Landtag eine Anfrage mit fast 150 Fragen zum Umgang mit dem Staatsanwalt gestellt, der mit einer Drogenbande zusammengearbeitet haben soll, gegen die er ermittelte. Die CDU-Abgeordnete Carina Herrmann sieht einen Justizskandal: “Der beschuldigte Staatsanwalt konnte drei Jahre lang diesen Kokain-Fall weiterbearbeiten, bei dem er selbst mit drinhängen soll.” Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) sagte, sie habe erst im Oktober 2024 von den seit drei Monaten laufenden erneuten Ermittlungen erfahren.  

Haftbedingungen: In deutschen Justizvollzugsanstalten wurden 2023 mindestens 7.275-mal Gefangene in einen besonders gesicherten Haftraum (bgH) verbracht, wie FragDenStaat (Sabrina Winter uA) anhand einer umfangreichen Statistik darlegt. In einen bgH dürfen Gefangene für kurze Zeit verbracht werden, wenn sie als selbst- oder fremdgefährdend eingestuft werden. Bei dieser Form der Unterbringung in dem häufig fenster- und einrichtungslosen Raum handele es sich um die eingriffsintensivste Maßnahme im Justizvollzug. 

Juristische Ausbildung

Universitäre Reform des Jurastudiums: Statt auf eine Reform des Jurastudiums zu warten, lassen sich auch auf universitärer Ebene Änderungen bewirken. In einem Gastbeitrag auf LTO-Karriere schildert Michelle Sieburg, Jurastudentin in Heidelberg, Beispiele aus Heidelberg und Freiburg. Teilweise wurden dabei auch die Studierenden initiativ.

Sonstiges

Gewaltschutz: Kinder und Mütter als Betroffene häuslicher Gewalt finden bei Jugendämtern und Familiengerichten auch aufgrund von Vorurteilen kein oder nur unzureichendes Gehör. Dies ergab die Studie "Macht und Kontrolle in familienrechtlichen Verfahren. Eine Analyse medialer Falldokumentationen" des Soziologen Wolfgang Hammer, über die die taz (Patricia Hecht) berichtet. Müttern, die in Trennungssituationen über Gewalt des Vaters berichten, werde unterstellt, dass sie aus egoistischen Gründen den Kontakt des Vaters zum Kind unterbinden wollen (parental alienation syndrome). An Familiengerichten hätten sich "teils feste Cluster aus Richtern, Verfahrensbeiständen und Gutachtern etabliert, die dauerhaft und folgenschwer zusammenarbeiten". Die Studie untersuchte 154 Fälle, über die deutsche Medien berichtet hatten. 

Einstufung der AfD/Neutralitätsgebot: Angesichts der vorgezogenen Bundestagswahl, in deren Vorfeld die Chancengleichheit der Parteien von besonderer Bedeutung ist, geht die FAZ (Marlene Grunert) der Frage nach, ob das Neutralitätsgebot auch für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gelte. Dieses vertagte die ursprünglich noch für dieses Jahr geplante Veröffentlichung eines neuen AfD-Gutachtens, in dem vermutlich eine Hochstufung der AfD vom Verdachtsfall zur "gesichert extremistischen Bestrebung" vorgenommen worden wäre. Zwar sei es durchaus nachvollziehbar, dass sich der BND auf das Neutralitätsgebot berufe, meint Rechtsprofessor Florian Meinel gegenüber der FAZ. Eine BfV-Einstufung sei aber lediglich eine Mitteilung über behördliches Handeln und keine Öffentlichkeitsarbeit einer Regierung. Zudem verpflichte die Neutralitätspflicht nicht zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen und auch eine vermeintliche Nichtintervention könne eine Intervention sein.

 

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LTO/ali/chr

(Hinweis für Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. November 2024: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55894 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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