Die juristische Presseschau vom 15. Oktober 2024: Zehn Jahre Haft für Stasi-Mord / Richt­linie für Platt­form­ar­beit besch­lossen / Urteil gegen Unter­stützer der "Ver­einten Patrio­ten"

15.10.2024

Das Landgericht Berlin I verurteilte einen Ex-Stasi-Mitarbeiter wegen Mordes. Der EU-Ministerrat beschloss die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit. Das OLG München verurteilte Julian V. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Thema des Tages

LG Berlin I zu Stasi-Mord am Tränenpalast: Das Landgericht Berlin I hat den ehemaligen Stasi-Mitarbeiter Manfred N. 50 Jahre nach der Tat wegen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der heute 80-jährige N. soll nach Überzeugung des Gerichts 1974 im Auftrag der Stasi den Polen Czesław Kukuczka am DDR-Grenzübergang Friedrichstraße aus dem Hinterhalt und aus nächster Nähe erschossen haben. Kukuczka hatte wenige Stunden zuvor mit einer angeblichen Bombe die polnische Botschaft in Ost-Berlin betreten und seine sofortige Ausreise in den Westen gefordert. Daraufhin wurde er mit fingierten Ausreisepapieren ausgestattet, beim Passieren des letzten Grenzübergangs aber erschossen. Der entscheidende Hinweis für die Strafverfolgung des Verurteilten kam erst 2016 aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv. Zunächst ging die Justiz jedoch von Verjährung aus. Erst als Polen einen Auslieferungsantrag stellte, wurden die Ermittlungen wegen Mordes aufgenommen. Das Strafmaß richtet sich nun nach dem damals geltenden Strafgesetzbuch der DDR, weil es das mildere Recht darstellt. Es berichten uA FAZ (Jörg Thomann), taz (Gesine Muench), spiegel.de (Julia Jüttner) und LTO.

Die Beendigung des Falles sei kein "Ruhmesblatt für die deutsche Justiz", kommentiert Verena Mayer (SZ), denn der Tat sei über die Jahrzehnte hinweg nur eher gleichgültig nachgegangen worden. Julia Jüttner (spiegel.de) verweist in einem gesonderten Kommentar auf die Ähnlichkeit mit den hochbetagten Angeklagten in NS-Verfahren. Hier sei es ebenfalls vor allem darum gegangen, dass der Angeklagte gezwungen wird, sich der Vergangenheit zu stellen und sich nicht mehr in Ausreden flüchten kann. Auch der Familie des Opfers sei es nur nachrangig um das Strafmaß gegangen.

Rechtspolitik

Plattformarbeit: Der EU-Ministerrat hat die EU-Richtlinie für Plattformarbeit beschlossen. Wenn künftig Indizien etwa für eine Kontrolle der Mitarbeiter:innen von Essenslieferanten oder Fahrdiensten vorliegen, wird angenommen, dass sie Beschäftigte und keine Selbstständigen sind. Das Europäische Parlament hat der Richtlinie bereits im April zugestimmt. Die EU-Staaten haben nun zwei Jahre Zeit zur Umsetzung in nationales Recht. beck-aktuell berichtet. 

Sicherheitspaket: Der Deutsche Richterbund kritisiert das Sicherheitspaket der Ampel-Koalition, das am Donnerstag im Bundestag beschlossen werden soll. Mit Messerverboten und neuen Polizeibefugnissen zur biometrischen Gesichtserkennung sei "für die Innere Sicherheit nicht viel gewonnen". Wichtiger wäre die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung für IP-Adressen gewesen. beck-aktuell berichtet.

Schwangerschaftsabbruch/Eizellspende/Leihmutterschaft: Die Doktorandin Anna Buntig kritisiert im FAZ-Einspruch, dass in der politischen Diskussion die Themen Schwangerschaftsabbruch, Eizellspende und Leihmutterschaft unter dem Begriff "reproduktiver Selbstbestimmung" zusammengefasst werden. Bei "negativer Reproduktion" stellten sich jedoch ganz andere Rechtsfragen als bei "positiver Reproduktion".

beA: Das Bundesjustizministerium sieht trotz einer Empfehlung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Juli keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, um Probleme von Anwält:innen bei der Einrichtung eines weiteren besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) im Zusammenhang mit einer zusätzlichen Kanzleigründung zu lösen. Nach der aktuellen Regelung kommt es zu zeitlichen Lücken von bis zu zehn Tagen zwischen der Freischaltung des beA und der Zugriffsmöglichkeit darauf. In dieser Zeitspanne können bereits wichtige fristrelevante Nachrichten eingehen, ohne dass diese für die Anwält:in abrufbar sind. Der BGH hatte festgestellt, dass dies mit der in § 31a Abs. 6 BRAO normierten Pflicht der Anwält:innen, den Zugang von Mitteilungen über das beA zur Kenntnis zu nehmen, nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sei. LTO (Hasso Suliak/Martin W. Huff) sieht nun die Bundesrechtsanwaltskammer in der Pflicht, gegenüber dem BMJ eine praktikable Lösung einzufordern.

Justiz

OLG München zu Umsturzpläne/Vereinte Patrioten: Das Oberlandesgericht München hat den 42-jährigen Ex-Soldaten Julian V. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der ehemalige Bundeswehrsoldat hatte der Reichsbürger-Gruppierung "Vereinte Patrioten" angeboten, tonnenweise Waffen und Munition zu besorgen, wozu es aber nie kam. Nach Überzeugung des Gerichts sei Julian V. selbst kein Reichsbürger und habe aus anderen Motiven wie Geltungssucht gehandelt. Dass Julian V. in sozialen Netzwerken offensichtlich rechtsextremes Gedankengut teilte, spielte keine Rolle. Das Gericht stellte nur "Distanz zur aktuellen Politik" fest. Die "Vereinten Patrioten" planten einen Umsturz. Dabei sollte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) entführt und mit Sprengstoffanschlägen ein wochenlanger Stromausfall in ganz Deutschland herbeigeführt werden. Julian V. ist bereits der dritte Verurteilte im Zusammenhang mit den "Vereinten Patrioten". Weitere Prozesse laufen noch in Frankfurt und Koblenz. Es berichten taz (Dominik Baur) und FR (Joachim F. Tornau).

BGH zur Darlegungslast: Die Anforderungen an die Darlegung eines Schadens dürfen nicht überspannt werden, das gelte bereits für den Tatsachenvortrag, stellte der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil fest. Die Erleichterung des § 287 ZPO gelte nicht nur für die Beweisführung, sondern bereits für die Darlegung des Schadens. So sei bei einem KfZ-Schaden – wie im vorliegenden Fall – ein Privatgutachten für eine substantiierte Darlegung nicht notwendig. § 287 ZPO stelle, sofern die Parteien sich darüber nicht einig sind, die Schadensermittlung ins Ermessen des Gerichts. Es berichtet LTO (Luisa Berger).

OLG Bamberg zu negativer Anwaltsbewertung: Nun berichtet auch LTO über einen Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts Bamberg aus dem Juni. Bei der Online-Bewertung eines Rechtsanwalts als "nicht besonders fähig" handele es sich nicht um eine Schmähkritik, sondern um eine von der Meinungsfreiheit geschützte Meinungsäußerung. Die betroffene Kanzlei habe daher keinen Anspruch auf Unterlassung und Löschung wegen vermeintlicher Persönlichkeitsrechtsverletzung. 

LAG Stuttgart zu Equal Pay/Daimler Truck: Die Doktorandin Anna Leonie Groteclaes kritisiert auf dem Verfassungsblog die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Stuttgart von Anfang Oktober, das einer Daimler Truck-Managerin, die wegen geschlechtsspezifischer Minderbezahlung geklagt hatte, nur einen Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem Median der weiblichen und dem der männlichen Mitarbeiter ihrer Ebene zugesprochen hatte. Diese Mediane als Bemessungsgrundlage zu nehmen, weiche von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts ab, überzeuge weder vom Wortlaut noch von der Systematik des Entgelttransparenzgesetzes (EntgTranspG) und beseitige auch nicht vollständig die Lohndiskriminierung.

LG Köln – versuchte Tötung an demenzkranker Mutter: Vor dem Landgericht Köln hat der Prozess gegen eine Krankenpflegerin begonnen, der zweifach versuchter Mord an ihrer demenzkranken Mutter vorgeworfen wurde. Sowohl im September 2023 als auch im Januar 2024 habe sie versucht, die Mutter mit Insulin heimtückisch zu vergiften. Die Angeklagte erklärte zum Prozessauftakt, sie habe im Sinne und mit Einverständnis der Mutter gehandelt, diese habe in diesem Zustand nicht mehr leben wollen. Dies reichte dem Vorsitzenden Richter jedoch nicht für eine mögliche Strafmilderung wegen Sterbehilfe aus, da die Angeklagte vor der Tat nach einem "perfekten Mord" gegoogelt und nach der Tat alles abgestritten habe. Der KStA (Hendrik Pusch) berichtet.

LG Hamburg zu Urheberrecht und KI: Rechtsprofessor Thomas Hoeren bespricht auf beck-aktuell das "Laion"-Urteil des Landgerichts Hamburg von Ende September, das urheberrechtliche Ansprüche im Zusammenhang mit Webscraping als Grundlage für das Training von Künstlicher Intelligenz ablehnte. Konkret ging es um die Erstellung eines Tabellendokuments mit mehr als 5 Milliarden Bild-Text-Paaren, das öffentlich zugängliche Bilder verlinkt. Durch ein umfangreiches obiter dictum sei die Entscheidung des Landgerichts zum Grundsatzurteil geworden, so Hoeren, der jedoch eine Vorlage an den EuGH bevorzugt hätte.

AG Hamburg zu sexueller Belästigung bei der Staatsanwaltschaft: Das Amtsgericht Hamburg hat in einem Berufungsverfahren einen Justizhauptsekretär, der in der Geschäftsstelle bei der Staatsanwaltschaft Hamburg beschäftigt ist, wegen sexueller Belästigung in 15 Fällen zu einer Geldstrafe von 140 Tagessätzen (insgesamt 8.400 Euro) verurteilt. Der Ausbilder hatte im Jahr 2023 mehrere Auszubildende ohne deren Einwilligung in sexueller Absicht am Gesäß und am Rücken berührt und mit Kosenamen angesprochen. Wie spiegel.de und tagesschau.de schreiben, zeigte sich der 57-Jährige bis zuletzt uneinsichtig.  

AG München zu Wildunfall: Ein totes Reh ist kein ausreichender Beweis für das Vorliegen eines Wildunfalls. Das Amtsgericht München gab damit der beklagten Versicherung des klagenden Fahrzeughalters Recht. Dieser war mit seinem Auto mehrfach in die Leitplanke gefahren und hatte dadurch einen Totalschaden verursacht. Ob dafür das Reh ursächlich gewesen ist, sei mangels weiterer Beweise nicht erkennbar, so das Gericht. LTO berichtet.

Recht in der Welt

Italien – Unfalltod von Ex-Radprofi Rebellin: Das Landgericht der norditalienischen Stadt Vicenza hat einen 64-jährigen Lkw-Fahrer aus Deutschland wegen Tötung im Straßenverkehr und unterlassener Hilfeleistung zu vier Jahren Haft verurteilt. Wie spiegel.de und beck-aktuell berichten, starb bei dem Verkehrsunfall im Jahr 2022 der frühere italienische Radprofi Davide Rebellin. Er war bei einer Trainingsfahrt von dem Sattelschlepper erfasst worden.

USA – Limp Bizkit vs. Universal: Fred Korn, der Sänger der Metal-Band Limp Bizkit, hat die Plattenfirma Universal auf Zahlung von 200 Millionen Dollar verklagt, weil sie in den Jahren 1997 bis 2004 die Einnahmen der Band nicht korrekt und transparent abgerechnet habe. Universal verneint eine Zahlungspflicht, weil die Band nicht mehr eingenommen habe als die von Universal erhaltenen Vorschüsse für ihre Alben.

Sonstiges

Jurist:innen bei Stiftungen: LTO-Karriere (Franziska Kring) stellt drei Jurist:innen vor, die bei Stiftungen arbeiten. Franziska Rinke ist Referentin für Rechtsstaatsdialog und Völkerrecht bei der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Ernesto Klengel leitet das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung des DGB. Anja Thöm leitet bei der Volkswagen-Stiftung das Team "Grundsatzfragen und Recht".

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Angebot des Mediums.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau

LTO/ali/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. Oktober 2024: . In: Legal Tribune Online, 15.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55626 (abgerufen am: 24.10.2024 )

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