Wegen Steuerhinterziehung muss sich Andrea Tandler ab Mittwoch vor Gericht verantworten. Der Bundesrat hat zum Cannabis-Gesetzentwurf differenziert Position bezogen. Thomas Fischer hält die Zahnersatz-Polemik von Friedrich Merz nicht für strafbar.
Thema des Tages
LG München I – Andrea Tandler: Am 4. Oktober beginnt vor dem Landgericht München I der Prozess gegen die Werbeunternehmerin Andrea Tandler, die Tochter des früheren bayerischen Finanzministers Gerold Tandler (CSU), wegen Steuerhinterziehung bei der Vermittlung von Maskenverkäufen zu Beginn der Corona-Pandemie. Tandler erhielt für die Vermittlung 48,4 Millionen Euro Provision, was legal war. Sie soll dabei laut Anklage aber dreifach Steuern hinterzogen haben. Erstens habe sie einen Teil der Vermittlungen als Einzelunternehmerin durchgeführt, dem Fiskus aber die Tätigkeit einer (noch gar nicht existierenden) GbR angegeben, um von niedrigeren Steuersätzen zu profitieren. Die GbR habe zweitens als Briefkastenfirma ihren Sitz im steuergünstigen Ort Grünwald gehabt, während die Vermittlungstätgkeit jedoch in München durchgeführt wurde; so wurde Gewerbesteuer hinterzogen. An der GbR war Tandlers Partner Darius N. beteiligt, dem Tandler damit drittens die Hälfte ihrer Provisionsansprüche übertrug, ohne Schenkungssteuer zu bezahlen. Die Mo-SZ (Klaus Ott/Annette Ramelsberger) berichtet ausführlich vorab.
Rechtspolitik
Cannabis: Der Bundesrat hat am vergangenen Freitag einen Antrag Bayerns abgelehnt, der das geplante Cannabisgesetz der Bundesregierung generell verhindern wollte. Abgelehnt wurde auch ein Antrag aus Hamburg, das Cannabisgesetz als zustimmungspflichtig einzustufen. Allerdings verlangte der Bundesrat zahlreiche Detailverschärfungen am Gesetz. So spricht sich der Bundesrat gegen die geplante Amnestie für Cannabis-Täter aus. Die Bunderegierung wird jetzt eine Gegenäußerung abgeben, bevor der Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht wird. LTO (Hasso Suliak) berichtet.
Digitalisierung der Justiz: Das Bundesjustizministerium will viele Formvorschriften an die Bedürfnisse der Digitalisierung anpassen. Das sieht der Referentenentwurf eines "Gesetzes zur weiteren Digitalisierung der Justiz" vor, der sich derzeit in der Ressortabstimmung der Bundesregierung befindet und über den LTO (Hasso Suliak) berichtet. Zu Änderungen soll es danach in nahezu allen Verfahrensordnungen kommen – vom Arbeitsgerichtsgesetz bis hin zur Zivilprozessordnung. Im Insolvenzrecht sei beispielsweise geplant, die Möglichkeiten der elektronischen Forderungsanmeldung und der elektronischen Kommunikation mit den Insolvenzgläubigern zu erweitern. Zudem soll das Schriftformerfordernis für Vergütungsberechnungen der Rechtsanwälte entfallen. Außerdem soll ein Strafantrag künftig per Email oder mittels eines Online-Formulars möglich sein.
Parteinahe Stiftungen: Mit dem geplanten Gesetz zur Finanzierung parteinaher Stiftungen befasst sich Rechtsprofessor Winfried Kluth im FAZ-Einspruch. Er warnt dabei vor dem Versuch, den Ausschluss einer bestimmten Stiftung von der Finanzierung bereits vor dem Verbot der entsprechenden Partei anzustreben. Ausschlussentscheidungen auf der Grundlage von Verdachtslagen seien problematisch, wenn diese sich ex post als unzutreffend erweisen.
Asyl: 270 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen darunter die Rechtsprofessor:innen Nora Markard und Maximilian Pichl, haben in einem offenen Brief, den der Verfassungsblog veröffentlichte, einen "Menschenrechtspakt in der Flüchtlingspolitik" gefordert. Man sehe die jüngsten politischen Debatte und Forderungen, "die weitestgehend faktenfrei geführt" mit großer Sorge, weil sie Ängste schüren und gesellschaftliche Probleme den Schutzsuchenden anlasten. In dem vorgeschlagenen Pakt sollten stattdessen politische Strategien zum Umgang mit Schutzsuchenden festgehalten und die Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen und Gesellschaft konkretisiert werden.
Ebenfalls im Verfassungsblog kritisiert die Doktorandin Anja Bossow (in englischer Sprache) fundamental die Asylpolitik der westlichen Staaten, die mit ihrer Missachtung rechtlicher Beschränkungen auch generelle Auswirkungen auf die Bedeutung des Rechts haben werde.
Grenzkontrollen: Rechtsprofessor Daniel Thym erläutert im Verfassungsblog den rechtlichen Rahmen für die derzeit diskutierten Grenzkontrollen und die Auswirkungen der aktuellen EuGH-Rechtsprechung auf die Möglichkeiten, Flüchtende an der Grenze zurückzuweisen. Er kritisiert die Umgehungsversuche der Mitgliedstaaten, die seit Jahren das Verbot langfristiger Grenzkontrollen ignorieren und immer wieder allenfalls leicht modifizierte "neue Gefahren" notifizierten. Auch der "Graubereich" der in der Verwaltungspraxis trotz des eigentlich klaren Zurückweisungsverbotes für Asylbewerber existiert, werde offenbar von der Bundespolizei an der deutsch-österreichischen Grenze proaktiv genutzt, indem Sprach- und Verständnisschwierigkeiten ausgenutzt werden.
Strafrechtliche Sanktionen: Das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts trat in weiten Teilen zum 1. Oktober in Kraft. Unter anderem wird der Katalog der ausdrücklich genannten Strafzumessungskriterien in § 46 Abs. 2 StGB um "geschlechtsspezifische" und "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete" Tatmotive erweitert. Außerdem gelten bei der Maßregel nach § 64 StGB (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) nun höhere Anforderungen an den erforderlichen "Hang" zum übermäßigen Rauschmittelkonsum, an den Zusammenhang zwischen Hang und Straffälligkeit und an die Erfolgsaussicht einer Behandlung. Ein wesentlicher Teil des Gesetzes - die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe - wurde allerdings verschoben und tritt erst im Februar 2024 in Kraft. beck-aktuell berichtet.
Justiz
EGMR – portugiesische Klimajugendliche: spiegel.de (Julia Köppe) fasst noch einmal die mündliche Verhandlung zur Klimaklage von sechs portugiesischen Jugendlichen vor dem EGMR zusammen. Die Jugendlichen machten geltend, die träge Klimapolitik von 32 europäischen Staaten gefährde ihre Grundrechte. Bei der Verhandlung hätten sie anhören müssen, wie die 80 Anwältinnen und Anwälte der Gegenseite ihre Beschwerde auseinandernahmen und diese als "bloße Annahmen" und "leere Hypothesen" kritisierten. Die Jugendlichen werten es schon als Erfolg, dass das Gericht sich mit ihrem Fall befasst.
Die Klage der Jugendlichen vor dem EGMR sei schon jetzt ein Riesenerfolg und werde Folgen haben, so auch Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de). Dagegen führe der Weg der "Letzten Generation", die vor den Strafgerichten Freispruch für ihre Straßenblockaden fordert, ins Abseits. "Denn selbst wenn die Aktivisten irgendwann, irgendwo – vielleicht sogar vor dem EGMR? – Recht bekämen, wäre das letztlich ein Urteil, das einem hypermoralischen Rigorismus die Absolution erteilt."
EuGH zu Lebenszeitgarantie: Hersteller dürfen ihren Kunden eine lebenslange Zufriedenheitsgarantie einräumen, auch wenn diese sich nicht in das System der europarechtlich vorgegebenen Gewährleistung einfügt. Dies entschied der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des Bundesgerichtshofs. Der EuGH argumentierte mit dem Zweck der EU-Richtlinien, "ein hohes Verbraucherschutzniveau" herzustellen. beck-aktuell (Joachim Jahn) berichtet.
BGH zu Dieselklagen: Zivilgerichte dürfen Dieselklageverfahren von Autokäufern gegen Hersteller nicht unter Verweis auf Verfahren der Autohersteller vor den Verwaltungsgerichten gegen Rückrufbescheide des Kraftfahrtbundesamts aussetzen. Dies entschied der Bundesgerichtshof laut beck-aktuell auf die Rechtsbeschwerde eines Mercedes-Käufers gegen eine Aussetzungsentscheidung des OLG Dresden. Das verwaltungsrechtliche Verfahren sei schon mangels Identität der Beteiligten nicht "vorgreiflich".
KG Berlin – Nackte Brüste im Schwimmbad: Das Berliner Kammergericht hat in der vergangenen Woche über die Schadensersatz-Klage von Gabrielle Lebreton gegen die Aufforderung, auf dem Berliner Wasserspielplatz "Plansche" ihre Brüste zu bedecken, verhandelt. Nachdem Vergleichsgespräche scheiterten, schlug das Gericht dem Land Berlin vor, die Klage teilweise anzuerkennen. Die geforderte Summe von 10.000 Euro ist nach Auffassung des Gerichts jedoch viel zu hoch. LTO (Max Koller) berichtet.
OLG Schleswig zur Sperrung eines Facebook-Accounts: Hat eine Facebook-Nutzerin nach der Sperre ihres Accounts Grund, den endgültigen Verlust ihres Accounts zu befürchten, muss der Konzern ihre Prozesskosten übernehmen, wenn der Account bereits vor der Gerichtsentscheidung wieder freigegeben wird, hat jetzt das OLG Schleswig entschieden, wie beck-aktuell berichtet.
LG Mannheim zu Tötung von Mitpatientin: Das Landgericht Mannheim hat eine 73-jährige Frau wegen der Tötung einer Mitpatientin zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Sie soll ihre Bettnachbarin im Krankenhaus getötet haben, indem sie deren Sauerstoffgerät abstellte, weil sie sich von dessen Alarmtönen gestört fühlte. Sa-FAZ (Eva Schläfer) und spiegel.de berichten.
VG Berlin zu Mädchen im Knabenchor: In ihrer Kolumne "Vor Gericht" erinnert Verena Mayer (Sa-SZ) an das Verfahren um die Zulassung eines Mädchens zu einem Knabenchor, mit dem sich das Verwaltungsgericht Berlin 2019 befasste. Sie berichtet von einem anderen Mädchen, dass mehrere Jahre zuvor in eben jenem Chor sang, allerdings indem sie sich als Junge ausgab.
StA Berlin – gelöschte Ministeriums-Emails: Auf eine Anzeige des früheren Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi (Linke) hat die Berliner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eröffnet. Es geht um Mails, die der damalige Staatssekretär im Finanzministerium und jetzige Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) mit dem Unternehmer Nicolaus von Rintelen, einem Freund des heute flüchtigen Ex-Wirecard-Managers Jan Marsalek ausgetauscht hatte, die heute aber nicht mehr auffindbar sind. Hintergrund ist die Praxis der Bundesministerien, beim Ausscheiden von Ministern oder Staatssekretären deren persönliche dienstliche Mailpostfächer zu löschen, erläutert die WamS (Hans-Martin Tillack). De Masi bezieht sich in seiner Anzeige auf § 303a StGB, der das rechtswidrige Löschen, Unterdrücken und Unbrauchbarmachen von Daten ahndet.
Recht in der Welt
EGMR/Bosnien-Herzegowina: Warum die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Erwartungen zur Demokratisierung von Bosnien-Herzegowina nicht erfüllen kann, erläutert der Doktorand Benjamin Nurkić (in englischer Sprache) im Verfassungsblog.
Sonstiges
Zahnbehandlung von Flüchtlingen: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer prüft auf LTO, ob sich die Äußerung von CDU-Chef Friedrich Merz zu einer angeblichen Bevorzugung von Asylbewerbern bei der Zahnarztbehandlung unter den Tatbestand "Volksverhetzung" subsumieren lässt. Eine Bundestagsabgeordnete der Fraktion die LINKE hatte Strafanzeige gegen den CDU-Vorsitzenden erstattet. Nach Auffassung Fischers fehle es jedoch bereits an dem Element eines "hinreichend konkretisierten Teils der Bevölkerung". Außerdem sei die öffentliche Äußerung diskriminierender und vorurteilsvoller Tatsachenbehauptungen noch kein "Aufstacheln zum Hass".
Rechtsgeschichte – Juristentag 1933: Sebastian Felz vom Forum Justizgeschichte stellt auf LTO das jüngst erschienene Buch des Schweizer Rechtshistorikers Silvan Schenkel über den Juristentag 1933 vor, der von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages abgesagt und später vom Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen durchgeführt wurde. Das Buch zeichne ein facettenreiches Bild einer ins Propagandistische gedrehten Fachtagung, die für die Mobilisierung eines Teils der deutschen Juristenschaft ein wichtiger Katalysator gewesen sei, so Felz.
Rechtsgeschichte – Hessisches Betriebsrätegesetz: Martin Rath erinnert auf LTO an die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes in Hessen vor 75 Jahren und die Einwände, die die US-Militärregierung seinerzeit hatte.
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LTO/pf/chr
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Die juristische Presseschau vom 30. September bis 2. Oktober 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52824 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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