Die juristische Presseschau vom 14. September 2023: Björn Höcke muss vor Gericht / StGB-Norm zu ext­re­mis­ti­schen Beam­ten­chats? / Chat­kon­trolle auf den letzten Metern?

14.09.2023

Anklage gegen Björn Höcke wegen der Verwendung von NS-Vokabular wurde zugelassen. NRW will die Teilnahme an extremistischen Beamtenchats unter Strafe stellen. Die EU will noch in diesem Monat die umstrittene Chatkontrolle finalisieren.

Thema des Tages

AG Merseburg – Björn Höcke: Das Landgericht Halle hat das Verfahren gegen Björn Höcke, Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD Thüringen, wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bei einer Rede im Mai 2021 eröffnet. Höcke soll am 29. Mai 2021 eine Rede mit dem Satz "Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland" beendet haben und dabei als Geschichtslehrer in dem Wissen gehandelt haben, dass der letzte Teil der Parole eine verbotene Losung der NS-Sturmabteilung (SA) war. Das LG hat dem Fall entgegen des Antrags der Staatsanwaltschaft allerdings keine besondere Bedeutung gemäß § 24 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zugemessen und das Verfahren daher vor dem Amtsgericht Merseburg eröffnet. Gegen die Eröffnung vor dem Amtsgericht kann die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde einlegen. Die parlamentarische Immunität von Höcke war bereits im November 2021 aufgehoben worden. Es berichten SZ (Ronen Steinke), FAZ (Stefan Locke), Welt, taz (Gareth Joswig), spiegel.de, zeit.de und LTO (Leonie Ott).

Thomas Holl (FAZ) kommentiert, dass Höcke schon in der Vergangenheit bestritten habe, dass es eine gültige Definition gebe, was NS-Sprache ist und daher auch vor dem AG Merseburg versuchen werde, die Grenzen des Sagbaren weiter zu verschieben.

Rechtspolitik

Extremistische Beamtenchats: Der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) hat gemeinsam mit NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) einen Gesetzentwurf vorgestellt, der die Teilnahme an extremistischen Beamtenchatgruppen unter Strafe stellt. Bisher ist nur die "Verbreitung" bestimmter extremistischer Äußerungen als Volksverhetzung pönalisiert. Konkret fordern die Minister im Strafgesetzbuchabschnitt "Straftaten im Amt" einen neuen § 341 StGB und eine Neufassung des § 48 Wehrstrafgesetz. Vorgeschlagen wird folgende Formulierung: "Wer als Amtsträger im dienstlichen Zusammenhang in einer Weise, die geeignet ist, das Vertrauen in rechtsstaatliches Handeln von Behörden oder sonstigen Stellen der öffentlichen Verwaltung zu erschüttern, volksverhetzende Inhalte äußert oder einer anderen Person zugänglich macht oder Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet, soll künftig mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden." Der Gesetzentwurf soll im Bundesrat eingebracht werden. Die FAZ (Reiner Burger) berichtet.

Chatkontrolle: netzpolitik.org (Andre Meister) veröffentlicht ein vertrauliches Protokoll der EU-Ratsarbeitsgruppe Strafverfolgung zu der von der EU geplanten Verordnung zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch an Kindern. Die Verordnung soll auch die hochumstrittene Chatkontrolle durch Internet-Dienstleister:innen ermöglichen. Laut Protokoll soll die Arbeitsgruppe an diesem Donnerstag ein letztes Mal zu diesem Thema tagen, nächste Woche sollen die Ständigen Vertreter der EU-Staaten die Verordnung besprechen und am 28. September sollen dann die die Justiz- und Innenminister:innen ihre finale Position verabschieden. Die Bundesregierung will jedoch die finale Abstimmung verschieben, weil man dem aktuellen Entwurf so noch nicht zustimmen könne. Polen, die Niederlande und Österreich unterstützen dies. 13 Staaten und die Kommission lehnen eine Verschiebung ab, sodass es am 28. September zu einer Kampfabstimmung kommen könnte.

Wie netzpolitik.org (Leonhard Pitz) in einem separaten Artikel berichtet, haben über 80 Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt mit einem offenen Brief an die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten gefordert, die Chatkontrolle zu verhindern, weil diese zur anlasslosen Massenüberwachung von Millionen von Menschen führe. Wie LTO zudem berichtet, hat sich auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) diesem offenen Brief angeschlossen. Der aktuelle Entwurf gefährde "das Recht auf Privatsphäre, die freie Meinungsäußerung und die Unschuldsvermutung."

Parteinahe Stiftungen: Die Ampel-Fraktionen stehen kurz vor einer Einigung über ein Gesetz zu den parteinahen Stiftungen. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar in einem Urteil zur AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) ein Gesetz für die Verteilung von Geldern an die parteinahen Stiftungen gefordert. Allein im Haushalt 2024 sind 700 Millionen Euro vorgesehen. Weil der Haushalt am 1. Dezember beschlossen werden soll und die Ampel eine gemeinsame Initiative mit CDU/CSU und der Linken beabsichtigt, besteht Zeitdruck, wie die Welt (Frederik Schindler/Ricarda Breyton) berichtet. Wie das Gesetz konkret aussehen wird, ob es verfassungskonforme Verteilungs- und Ausschlusskriterien enthält und wer über die Verteilung der Gelder entscheiden soll, ist bislang noch unbekannt.

StGB/Unfallflucht: Hessens Justizminister Roman Poseck (CDU) stellt sich gegen den Vorschlag von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zur Unfallflucht und will diese nach Unfällen mit bloßen Blechschäden weiterhin als Straftat bewertet wissen und nicht lediglich als Ordnungswidrigkeit. Poseck will auf der nächsten Justizministerkonferenz (JuMiKo) eine Initiative dagegen starten. Er zeigte sich jedoch offen, für die vom BMJ vorgeschlagene Alternative einer Meldestelle, bei der (bei Fällen ohne Verletzte) digitale Meldungen mit Fotos des Schadens und ordnungsgemäßer Identifikation einzureichen wären. LTO berichtet.

Medienfreiheit: Über den Stand der vor einem Jahr von der EU-Kommission vorgeschlagenen Medienfreiheits-Verordnung berichtet netzpolitik.org (Tomas Rudl). Im Parlament hätten sich letzte Woche die federführenden Ausschüsse auf eine gemeinsame Position verständigt, um Journalist:innen und ihre Quellen besser vor Überwachung zu schützen. Einige EU-Staaten im Ministerrat bremsten jedoch noch und forderten weitreichende Ausnahmen für die nationale Sicherheit.

Justiz

BGH – beA/Ersatzeinreichung: Der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) und § 130d Zivilprozessordnung (ZPO) in einem Zwischenurteil weiterentwickelt. Danach ist die Darlegung und Glaubhaftmachung von Störungen des beAs nicht nur dann rechtzeitig, wenn sie gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgt, sondern ausnahmsweise auch dann, wenn die Störung kurz vor Fristablauf auftritt und die Darlegung und Glaubhaftmachung noch am gleichen Tag wie die Ersatzeinreichung bei Gericht eingeht. LTO berichtet.

OLG Frankfurt/M. zu Reiserecht: Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat die Berufung gegen ein Urteil des LG Frankfurt/M. als "offensichtlich unbegründet" abgewiesen, mit der eine klagende Urlauberin eine Preisminderung gegen ihren Reiseveranstalter erreichen wollte, weil dieser nicht auf die Regenzeit in Ecuador hingewiesen hatte. Reisende müssten sich jedoch eigenständig über die klimatischen Bedingungen im Urlaubsland informieren, sodass kein Reisemangel vorlag und der Veranstalter den Reisepreis von 18.000 Euro nicht wegen des Wetters mindern muss. LTO berichtet.

LG Berlin zu Brandstiftung in Krankenhaus: spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über die Entscheidung des Landgerichts Berlin, den 49-Jährigen, der am 2. April diesen Jahres das Berliner Urban-Krankenhaus "auf Befehl von Luzifer" in Brand setzte und dabei drei Personen durch Rauchgase verletzte, nicht wegen schwerer Brandstiftung schuldig zu sprechen. F. leidet an paranoider Schizophrenie und war in Kombination mit einer Suchtmittelabhängigkeit schuldunfähig. Das LG ordnete die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie an.

LG Frankfurt/M. – Insiderhandel: Nachdem der Bundesgerichtshof im Februar wegen eines prozessualen Fehlers die Schuldsprüche aufgehoben und den Fall ans Landgericht Frankfurt/M. zurück verwiesen hat, verhandelt das LG nun erneut über einen ehemaligen Fondsmanager der Union Investment und einen ehemaligen Investmentbanker von Hauck & Aufhäuser wegen des Vorwurfs des Insiderhandels. Bis Mitte Oktober wurden vier Termine angesetzt. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.

Recht in der Welt

EuG/Venezuela: Das Gericht der Europäischen Union hat eine Klage Venezuelas gegen Sanktionen abgewiesen, die die EU 2017 wegen Gewalttaten, Menschenrechtsverletzungen und Angriffen auf die Demokratie verhängt hatte. Dagegen kann Venezuela noch Rechtsmittel vor dem EuGH einlegen (der den Fall schon einmal ans EuG zurückverwiesen hatte). Die SZ berichtet.

Israel – Justizreform: Die israelische Rechtsprofessorin Rivka Weill zeichnet auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) den Konflikt zwischen der israelischen Regierung und dem Obersten Gericht rund um die Justizreform nach und argumentiert anhand von dessen "Hasson-Entscheidung", dass das Oberste Gericht auch über Grundgesetze entscheiden darf. Darin habe es zwar nur die Doktrin der Verfassungsumgehung (constitutional avoidance doctrine) als überkonstitutionellen Grundsatz angewendet, aber dies impliziere eine Anwendung der aktuell hochumstrittenen Doktrin der verfassungswidrigen Verfassungsänderung (unconstitutional constitutional amendment doctrine), weil ersteres nur dann anwendbar sei, wenn man davon ausgeht, dass die richterliche Auslegung das Verfassungsgesetz vor der Verfassungswidrigkeit "rettet".

Juristische Ausbildung

Erstes Staatsexamen: Nach den aktuellsten Zahlen zu den Ergebnissen des Ersten Staatsexamens ist die bundesweite Durchfallquote im Jahr 2021 um gut drei Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 24,7 Prozent gesunken. Die Anzahl der Prädikatexamina ist um knapp zwei Prozent auf 20,4 Prozent gestiegen. LTO-Karriere (Franziska Kring) berichtet.

Jura-Studium: Über die Online-Umfrage des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften, aus der unter anderem hervorgeht, dass nur ein Drittel der Absolvent:innen des ersten Staatsexamens ihre Studienwahl weiterempfehlen würde, berichtet nun auch beck-aktuell (Joachim Jahn).

Sonstiges

Ronen Steinke: Die FAZ (Jochen Zenthöfer) kritisiert die Berichterstattung des Rechtsjournalisten Ronen Steinke (SZ) und wirft ihm vor, Gerichtsurteile, die nicht auf Linie mit seiner These und dem Titel seines Buches "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" lägen, passend zu machen. Steinke lasse mitunter relevante Hintergründe von einzelnen Urteilen unbeachtet und rekurriere punktuell auch auf veraltete und nicht mehr relevante Studien. Es werden neun Beispiele samt Stellungnahme von Steinke angeführt.

Schönbohm vs. BMI/ZDF: Die SZ (Ronen Steinke) beleuchtet mit einem Frage-Antwort-Format, in welchen Fällen Minister:innen in Bundestags-Ausschüssen erscheinen müssen und wann dies nur freiwillig ist. Anlass ist die zweimalige Absage von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) an den Innenausschuss des Bundestags, der sie zum von ihr geschassten Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, befragen wollte. Nur wenn der Ausschuss mit einer Mehrheit sein Zitierrecht geltend gemacht hätte, hätte sie erscheinen müssen, was bei Minister:innen aber selten der Fall sei, weil hierfür auch Stimmen aus dem Regierungslager benötigt werden. Faeser habe also rechtmäßig gehandelt, wenngleich ihr Fernbleiben gegen die demokratische Kultur verstoßen habe. Faeser hat nun eine Aussage für den 20. September zugesagt. 

Markus Balser (SZ) kommentiert, dass es legitim und vertretbar war, Schönbohm auf einen anderen Posten zu versetzen und eine neue BSI-Führung zu berufen. Es sei nur Faesers intransparenter Umgang damit, der dies zur Affäre mache. Reinhard Müller (FAZ) schreibt, dass die Art, "in der Nancy Faeser dem Innenausschuss einen Korb gab", Zweifel an ihrer Regierungsfähigkeit erkennen lasse.

Das Letzte zum Schluss

Verstopfung auf der Liberty: Die Wasserschutzpolizei hatte einen besonderen Einsatz auf der Ostsee: Sie eskortierte das Bundestagspräsidium rund um Kapitän Wolfgang Kubicki (FDP), der seine Kolleg:innen zu einem Ausflug auf sein elf Meter langes Motorboot "Liberty" eingeladen hatte. Und tatsächlich kam es zu einem Rettungseinsatz: Wegen eines verstopften Wasserfilters musste das ganze Präsidium auf offener See auf das Polizeiboot umsteigen. spiegel.de berichtet.  


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LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. September 2023: . In: Legal Tribune Online, 14.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52699 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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