Die juristische Presseschau vom 29. April bis 2. Mai 2023: Asyl­ver­fahren an den EU-Außen­g­renzen? / Mani­pu­lierte Beweise vor Gericht / EGMR zu Geor­gien-Krieg

02.05.2023

Bundesregierung einigt sich auf Position zu EU-Asylreform. Gerichte werden zunehmend mit KI-manipulierten digitalen Beweisen konfrontiert sein. Russland muss 130 Mio. Euro an Georgien zahlen. 

Thema des Tages

Asyl: In der bereits seit Jahren laufenden Debatte um eine Reform des EU-Asylrechts hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorgeschlagen, Asylverfahren künftig bereits an der EU-Außengrenze durchzuführen. Auf diese Position habe sich jetzt die Ampel-Koalition verständigt. Di-SZ (Roland Preuß) und spiegel.de berichten.

Roland Preuß (Di-SZ) wertet dies in einem separaten Kommentar als bemerkenswerten Kurswechsel der Grünen, die solche Einrichtungen am Rande Europas immer kritisiert hätten. Sie würden damit dem Druck aus Städten und Gemeinden nachgeben, die immer lauter unter ihren Pflichten zur Unterbringung von Geflüchteten ächzten. Auch Christian Rath (Di-taz) sieht in dem Vorstoß in erster Linie den symbolischen Versuch einer Besänftigung der Kommunen, der aber praktisch "keinerlei Relevanz" habe. Das Instrumentarium, das die Bundesregierung einführen wolle, sei im EU-Recht schon weitgehend enthalten. Für das Zustandekommen eines neuen EU-Asylsystems sei ein überzeugender Verteilungsmechanismus erforderlich. Der Versuch, Asylverfahren wieder an die EU-Außengrenzen zu verlagern, werde bei der Einigung mit den Staaten an den EU-Außengrenzen sicher nicht helfen.

Rechtspolitik

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Dass sich der Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz jetzt in der Ressortabstimmung der Bundesregierung befindet, berichten nun auch Sa-SZ (Karoline Meta Beisel), Di-Welt (Constantin van Lijnden/Sabine Menkens) und LTO. Der Entwurf und seine Vorgeschichte werden vorgestellt.

Das Hausrecht gelte selbstverständlich auch für Frauensaunen, und zwar schon heute, betont Nina Monecke (zeit.de). Wer sich nicht an Regeln halte oder andere belästige– egal, ob cis oder trans Frau –, müsse des Ortes verwiesen werden können. Letztlich müssten Gerichte entscheiden, was im Einzelfall zulässig sei.

Cannabis: Am Freitag wurde laut LTO (Hasso Suliak) der erste Gesetzentwurf zur Teil-Entkriminalisierung von Cannabis in die Ressortabstimmung gegeben. In Säule 1 der geplanten Reform soll der Besitz von maximal 25 Gramm zum Eigenkonsum straffrei werden. Außerden soll ein gemeinschaftlicher Cannabis-Anbau in Vereinen möglich sein und der private Anbau von maximal drei weiblichen blühenden Pflanzen erlaubt werden. Nach der Sommerpause soll ein weiterer Gesetzentwurf Modellregionen für eine weitergehende Entkriminalisierung festlegen (Säule 2).

Unfallflucht: Zu den Überlegungen von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), die Unfallflucht von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herunterzustufen, meint Alexander Haneke (FAS), dass der Gedanke zwar auf den ersten Blick "charmant" erscheine, aber nur bedingt trage. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass der Staat dadurch zwingend entlastet werde. Auch bei Ordnungswidrigkeiten müsse die Polizei den Sachverhalt ermitteln. Staatsanwälte würden zwar entlastet, allerdings könnten die Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid klagen. Im Übrigen dürfe, was Recht und was Unrecht sei, nicht an Effizienzgesichtspunkten ausgerichtet werden. Das müsse vielmehr die Gesellschaft – und für sie der Gesetzgeber – frei von fiskalischen Zwängen entscheiden.

E-Privacy: Die mit der E-Privacy-Verordnung geplante Datenschutzreform stehe vor dem Aus, hat netzpolitik.org (Alexander Fanta) erfahren. Seit Jahren verhandeln das Parlament und die Mitgliedstaaten über die Neuregelung, mit der u.a. der Schutz vor so genannten Cookie-Trackern verbessert werden sollte. Wegen ausbleibender Fortschritte könnte die EU-Kommission nun jedoch ihren Vorschlag für die Verordnung zurückziehen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband fordert angesichts der verfahrenen Situation einen Neuanfang. Ein neuer Rechtsakt "solle neue technologische Entwicklungen, wie Profilbildung auf den Endgeräten der Nutzer:innen, aber auch die Vielzahl der negativen Auswirkungen von auf Profilbildung basierender Werbung" regeln.

Justiz

KI und manipulierte Beweise vor Gericht: Mit Künstlicher Intelligenz lassen sich Bilder und Töne herstellen, die für menschliche Augen und Ohren täuschend echt wirken. Welche Auswirkungen die damit verbundene schwindende Beweiskraft von Bildern und Tonaufnahmen bei Gerichtsverfahren haben könnte, untersucht Felix W. Zimmermann (LTO). Er prophezeit einen Mehraufwand für die Gerichte. Angesichts fortschreitender Digitalisierung in der Gesellschaft würden auch die digitalen Beweismittel immer wichtiger, gleichzeitig nähmen die Möglichkeiten zu, diese zu manipulieren. Die Justiz müsse daher auch in diesem Bereich aufrüsten.

EuGH – DSGVO/"Deutsche Wohnen": Im Verfahren um mögliche DSGVO-Verstöße des Immobilienunternehmens "Deutsche Wohnen" hat laut LTO der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes Manuel Campos Sánchez-Bordon seine Schlussanträge vorgelegt. Die Deutsche Wohnen hatte sich gegen einen Bußgeldbescheid der Berliner Datenschutzbehörde gewandt, das Kammergericht hatte die Sache dem EuGH vorgelegt, um zu klären, ob eine Geldbuße auch gegen eine juristische Person verhängt werden könne, wenn der Verstoß nicht einer natürlichen Person zugerechnet werden kann. Mit der zweiten Frage wollte das KG wissen, ob der Verstoß gegen die DSGVO schuldhaft begangen worden sein muss oder ob das Unternehmen – so die Ansicht der Datenschutzbehörde – verschuldensunabhängig haften muss. Der Generalanwalt kommt nun zu dem Ergebnis, dass der Nachweis eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Handelns eines Mitarbeiters Voraussetzung für eine Sanktion ist und eine verschuldensunabhängige Haftung nach EU-Recht in solchen Fällen nicht bestehe.

BGH zu "Fahrt ins Blaue": Sobald der Veranstalter einer als "Fahrt in Blaue" angekündigten Reise ein konkretes Programm ankündigt, liegt die Konkretisierung einer Gattungsschuld gemäß § 243 II BGB vor. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden, wie LTO mitteilt. Im Fall hatte der Veranstalter zu Beginn der Tour einen Reiseplan verteilt, in dem als Höhepunkt der Besuch eines Musicals in Hamburg angekündigt wurde, der allerdings pandemiebedingt ausfiel. Die ersatzweise durchgeführt dreistündige Stadtrundfahrt sei allerdings nicht gleichwertig, wie die Vorinstanz, jetzt bestätigt durch den BGH, feststellte. Der Wegfall des Musical-Besuchs sei ein Reisemangel, der eine Minderung des Reisepreises rechtfertige.

LG München I – "Badewannenmord": Auch die WamS (Gisela Friedrichsen) widmet sich jetzt dem Verfahren vor dem Landgericht München I, in dem der so genannte Badewannenmordfall wiederaufgerollt wird. Unabhängig davon, wie das dritte Urteil am Ende lauten werde, reihe sich der Fall Genditzki in eine Serie missglückter Strafverfahren ein, die in den letzten Jahren Zweifel an der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der bayerischen Justiz weckten.

LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Über die Ermittlungen zum Einbruch in das Dresdner Grüne Gewölbe berichtet ausführlich die WamS (Per Hinrichs) und lässt dabei den leitenden Ermittler Torsten Schmortte zu Wort kommen. In gut zwei Wochen soll im Prozess ein Urteil fallen, vier der Angeklagten haben ihre Beteiligung gestanden.

VG Frankfurt/M. zu Roger Waters/Konzertabsage: Jost Müller-Neuhoff (tagesspiegel.de) begrüßt die Eil-Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt/M. von vergangener Woche, die Stadt Frankfurt zu verpflichten, den mit dem britischen Sängers Roger Waters geschlossenen Nutzungsvertrag für die Frankfurter Festhalle zu erfüllen. Die Bühnenshow des Musikers Waters sei das krude Arrangement eines Freaks, das niemandem gefallen müsse, aber es sei keine Volksverhetzung, weil sie – unter anderem – als politische Kritik gelesen werden könne. Der Kampf, den die Behörden der Stadt Frankfurt hier geführt hätten, sei "also kein ehrenwerter Kampf", er indiziere Freiheitsverluste und die offenkundige Bereitschaft, sie hinzunehmen. Bisher korrigierten die Gerichte das noch.

StA Karlsruhe – Pyrotechnik im Fußballstadion: Die Sa-taz-Beilage Kontext (Florian Kaufmann) berichtet über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Karlsruhe zu einer aus dem Ruder gelaufenen Pyroaktion von Ultra-Fans im Stadion des Karlsruher SC, die zu 12 Verletzten führte. Weil sich die beteiligten Ultras anschließend in einem Wiedergutmachungsgespräch bei den Geschädigten entschuldigten, sollen nun Mitarbeiter:innen des Fanprojektes vorgeladen werden, um über das Gespräch zu berichten. Der Leiter des Karlsruher Fanprojekts, der Sozialarbeiter Volker Körenzig, sieht dadurch das Vertrauensverhältnis zu den Fans und die Arbeit des Projektes gefährdet.

Kriminalgericht Berlin: In ihrer Kolumne "Vor Gericht" blickt Verena Mayer (Sa-SZ) auf die Historie des Berliner Kriminalgerichtes zurück. An wenigen Orten habe sich Geschichte so sehr verdichtet wie in den dortigen Sälen 500 und 700, schreibt sie. Anfang der Neunzigerjahre habe Erich Honecker auf der Anklagebank gesessen, hier wurde über die Schüsse an der Berliner Mauer verhandelt und hier sei es um den Bombenanschlag auf amerikanische Soldaten 1986 in der Diskothek La Belle gegangen. Auch der Hauptmann von Köpenick habe sich hier verantworten, ebenso der Kaufhauserpresser "Dagobert" oder der Kommunarde Rainer Langhans.

Recht in der Welt

EGMR/Russland – Georgien-Krieg: Fast 15 Jahre nach dem Krieg im Südkaukasus muss Russland rund 130 Millionen Euro Entschädigung an Georgien zahlen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Freitag in Straßburg. Hintergrund sei, so LTO, ein Urteil des Gerichts von 2021. Damals befanden die Richter, dass Russland nach Ende der Kämpfe, die fünf Tage im August 2008 dauerten, für "unmenschliche" Handlungen gegen georgische Bürgerinnen und Bürger verantwortlich gewesen sei. Ausführlich fasst tagesschau.de (Gigi Deppe) die Entscheidung zusammen. Es sei allerdings unwahrscheinlich, dass die Betroffenen tatsächlich jemals Geld von Russland erhielten, heißt es dort unter anderem.

EGMR/Griechenland zu Asylsuchender auf Samos: Maximilian Steinbeis (Verfassungsblog) lobt im Editorial ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als einzigen Hoffnungsschimmer in der allgemeinen organisierten Rechtlosigkeit beim Umgang mit Flüchtlingen. Dabei wurde Griechenland kürzlich verurteilt, einer schwangeren Asylsuchenden 5000 Euro Schadensersatz zu zahlen für die unmenschliche Behandlung, die ihr im Aufnahmecamp auf der griechischen Insel Samos zuteil wurde. Es sei das erste EGMR-Urteil zur Situation auf den griechischen Inseln gewesen. Dabei habe der EGMR trotz direkter Klage in Straßburg die Zulässigkeit bejaht. Wegen solcher Urteile könnte Großbritannien, das Asylverfahren nur noch in Ruanda zulassen will, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen. Dagegen sei der EuGH ein Mitarchitekt des Rechtlosigkeits-System.

Frankreich – Gesetzesfolgenabschätzung: Mit der Justitiabilität von Gesetzesfolgenabschätzungen nach französischem Recht befasst sich der wissenschaftliche Mitarbeiter Alexander Kratz im Verfassungsblog. Anlass ist eine Entscheidung des Conseil Constitutionnel zum Gesetzentwurf über die Militärfinanzierung. Das Potential der in der Verfassung festgelegten Pflicht zu einer Folgenabschätzung habe der Conseil d'Etat dabei nicht ausgeschöpft, bedauert der Autor, er habe lediglich geprüft, ob überhaupt eine solche "étude d’impact" mit den Kategorien Wirtschaft, Finanzen, Soziales und Umwelt angefertigt wurde.

Juristische Ausbildung

Examensnoten: Kölner Examenskandidat:innen können sich über die Bereitstellung der Prüfungsergebnisse künftig per Pushnachricht auf das Smartphone informieren lassen. Das hat LTO-Karriere erfahren. Das Unternehmen Legal Tech Labs Cologne hat den kostenlosen Benachrichtigungsservice JPA-Alert.me programmiert, der über den Messengerdienst Telegram läuft.

Sonstiges

KI und Anwaltschaft: Auf LTO befassen sich die Rechtsanwält:innen Stephan Bücker, Nadine Lilienthal und Christian Herles mit der Frage, ob ChatGPT eines Tages Richter:innen oder Anwält:innen ersetzen könnte. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass KI zu einer Disruption in der Anwaltschaft führen werde, die aber weniger Verdrängung, als vielmehr Veränderung bedeute. Als Hilfsmittel werde KI die anwaltliche Praxis ergänzen und prägen, Juristinnen und Juristen müssten ihre Fähigkeiten und Kompetenzen stärken, die sie über KI als Subsumtionsautomat stellten.

List für Juristen: Martin Rath stellt auf LTO das Buch "36 Strategeme für Juristen" des Sinologen und Juristen Jarro von Senger vor, in dem Kenntnisse zum chinesischen Verständnis der List vermittelt werden sollen.

Rechtsgeschichte – Sonn- und Feiertagsruhe: Martin Rath erläutert auf LTO die historische Entwicklung des Arbeitsverbotes an Sonn- und Feiertagen. Aus aktuellem Anlass widmet er sich dabei insbesondere dem 1. Mai.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/pf/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 29. April bis 2. Mai 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51666 (abgerufen am: 23.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen