Gibt es eine völkerrechtliche Pflicht zur Beendigung des Ukrainekriegs? Die Reform des Betreuungsrechts ist in Kraft getreten. Rechtsprofessorin Rostalski betreibt ein Projekt für mehr Transparenz und Gerechtigkeit bei der Strafzumessung.
Thema des Tages
Ukraine – russischer Angriffskrieg: Rechtsprofessor Helmut Philipp Aust antwortet in der Mo-FAZ auf die von Rechtsprofessor Reinhard Merkel aufgeworfene Frage, inwieweit die Ukraine völkerrechtlich verpflichtet sein könnte, einen diplomatischen Weg zur Beendigung des Krieges zu suchen. Aust widerspricht der von Merkel aufgestellten These, dass die Annexion der Krim von der Ukraine anerkannt werden müsse, weil hier aus einer "ehedem rechtswidrigen Okkupation" "der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden" sei. Aust verweist vielmehr auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Unabhängig davon, dass von einer befriedeten Situation auf der Krim angesichts der vielfachen und gut dokumentierten Menschenrechtsverletzungen Russlands etwa gegen die Bevölkerungsgruppe der Krim-Tataren keine Rede sein könne, habe Russland mit der massiven Invasion des übrigen ukrainischen Staatsgebiets seit dem 24. Februar 2022 jeden denkbaren Vertrauenstatbestand in ein Fortdauern der von ihm geschaffenen Fakten auf der Krim verspielt.
Rechtspolitik
Betreuung: Die am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Betreuungsrechtsreform kommentiert Heribert Prantl (Sa-SZ). Nach dem neuen Recht soll der Wille des betreuten Menschen stärker als bisher berücksichtigt werden, und zwar auch dann, wenn dessen Wünsche dem Betreuer nicht unbedingt vernünftig erscheinen. So soll es eine "Wunschbefolgungspflicht" geben, die erst dort ende, wenn der Betreute sich oder sein Vermögen erheblich gefährde. Dieses Recht auf Selbstbestimmung der Alten sei "wirklich schön und gut", aber die Zustände in der Pflege seien es nicht, so Prantl. Die Selbstbestimmung verlange nicht nur Paragrafen, sie verlange auch Zustände, in denen sich die Selbstbestimmung realisieren lasse.
Angriffe auf Einsatzkräfte: Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin forderte ein "Böllerverbot", nachdem an Silvester mehrfach Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei mit Feuerwerksartikeln angegriffen wurden. Politiker von CDU und FDP sprachen sich gegen ein allgemeines Böllerverbot aus. deutschlandfunk.de berichtet.
Kim Björn Becker (Mo-FAZ) sprach sich gegen höhere Strafen für Angriffe auf Einsatzkräfte aus. Das Strafrecht sei bereits mehrfach verschärft worden, ohne dass dies Wirkung zeige. Wichtiger sei, dass es überhaupt zu Verurteilungen komme. "Es braucht mehr Polizisten, die Straftäter ermitteln, und mehr Staatsanwälte, die sie vor Gericht bringen. Und damit Urteile auch zügig fallen, müssen überlastete Gerichte mit mehr Personal ausgestattet werden."
Containern: Landwirtschaftminister Cem Özdemir (Grüne) kritisierte, dass das Containern – also das Herausnehmen von weggeworfenen Lebensmitteln aus Supermarktabfallcontainern – strafbar ist; dies sei "absurd". Er will Lebensmittelspenden von Unternehmen erleichtern, zum Beispiel indem er zivilrechtliche Haftungsrisiken reduziert. zeit.de berichtet.
Lieferketten und Menschenrechte: Nun beschreibt auch spiegel.de, was auf deutsche Unternehmen mit dem zum Jahresbeginn in Kraft getretenen Lieferkettengesetz zukommt. Die Neuregelung gilt für Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die nun eine Risikoanalyse durchführen, ein Risikomanagement sowie einen Beschwerdemechanismus aufsetzen und öffentlich darüber berichten müssen. Das Gesetz sehe für große Unternehmen Bußgelder von bis zu zwei Prozent des jährlichen Umsatzes vor, wenn sie nicht gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße bei ihren weltweiten Zulieferern vorgingen.
Transparenzgesetz Sachsen: Die sächsische Datenschutzbeauftragte Juliane Hundert stellt im Interview mit netzpolitik.org (Ingo Dachwitz) das neue sächsische Transparenzgesetz vor, das ein Zugangsrecht zu behördlicher Information schafft und das zum 1. Januar in Kraft getreten ist. Sie erläutert, warum es so lange dauerte, bis auch Sachsen ein Informationsfreiheitsgesetz verabschiedet hat. Kritisch sieht sie die zahlreichen Ausnahmen im neuen Gesetz, hier hinke Sachsen im Vergleich zu anderen Bundesländern hinterher.
Justiz
Strafzumessung und KI: Über ein Projekt der Kölner Rechtsprofessorin Frauke Rostalski, mit dem der als ungerecht empfundenen lokalen Divergenz bei der gerichtlichen Strafzumessung unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz begegnet werden soll, berichtet die Sa-SZ (Wolfgang Janisch). Gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme soll eine Datenbasis aus möglichst vielen Urteilen so aufbereitet werden, dass nachvollziehbar und transparent wird, welche Strafen die Gerichte in bestimmten Fallkonstellationen verhängen. Derzeit stocke das Projekt allerdings, auch weil aus der Politik bisher wenig Rückenwind komme. Ein Problem sei dabei die nach wie vor mangelnde Digitalisierung – wobei größtes Hindernis für eine Veröffentlichung von Urteilen auf breiter Basis die Anonymisierung sei.
EGMR in 2022: Sieben wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem abgelaufenen Jahr fasst LTO (Franziska Kring) zusammen. So ging es in Straßburg in einer der letzten Entscheidungen gegen Russland um den Krieg gegen die Ukraine und außerdem um das Schicksal geflüchteter Menschen. Diverse Fälle aus Deutschland standen ebenfalls auf der Agenda des EGMR, so LTO. So scheiterten unter anderem mehrere Gewerkschaften mit ihrer Beschwerde gegen das deutsche Tarifeinheitsgesetz. Außerdem habe Deutschland einen Vorwurf des Racial Profilings nicht ausreichend geprüft.
EuGH in 2022: Einen Rückblick auf sieben wichtige EuGH-Entscheidungen des vergangenen Jahres gibt LTO (Pauline Dietrich). Das Luxemburger Gericht hatte sich unter anderem mit Thermofenstern in KFZ, der deutschen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung, der Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen und mit den in der Urheberrechts-Richtlinie enthaltenen Uploadfiltern zu befassen.
BGH zu "sale and rent back"-Praxis: Mitte November hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Geschäftsmodell "Pfando's Cash and Drive", bei dem Kund:innen ihr KFZ verkaufen und dann zurückmieten, in einem Fall sittenwidrig war. wdr.de (Philip Raillon) geht davon aus, dass auch in vielen anderen Fällen sittenwidrige Verträge geschlossen wurden.
OVG B-BB - Klimaschutz: Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg wird im ersten Halbjahr 2023 über die Klagen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen Klimaschutzprogramme der Bundesregierung verhandeln. Die Mo-taz (Christian Rath) schildert, warum die aktuelle Klimaschutzpolitik wohl nicht gegen das Grundgesetz, aber möglicherweise gegen das Klimaschutzgesetz verstößt.
OLG Düsseldorf zu Gewehr-Patent: Wie LTO berichtet, hat der thüringische Waffenhersteller Haenel erneut eine Niederlage im Patenstreit gegen seinen Konkurrenten Heckler & Koch einstecken müssen. Das Gewehr "Haenel CR 223" verletze die Rechte von Heckler & Koch und dürfe deshalb derzeit in Deutschland weder hergestellt noch vertrieben werden, so das Oberlandesgericht Düsseldorf, das damit eine entsprechende erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts bestätigte.
OLG München zu islamistischer Attacke im ICE: Der Mann, der 2021 in einem ICE mehrere Männer mit einem Messer angegriffen hatte und dafür vom OLG München wegen versuchten Mordes und Körperverletzung zu einer 14-jährigen Hftstrafe verurteilt wurde, hat gegen die Entscheidung Revision eingelegt, wie LTO berichtet. Bereits im Verfahren hatte die Verteidigung auf einen Freispruch plädiert, weil der Angeklagte paranoid schizophren und damit schuldunfähig sei.
LG Itzehoe zu KZ-Sekretärin Stutthof: Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de) kommentiert die von Irmgard Furchner eingelegte Revision gegen ihre Bewährungsstrafe wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord im KZ Stutthof. Auch mit dem Perspektivwechsel der Rechtsprechung – weg von einzelnen Taten und Tätern, hin zur systemischen Dimension des Verbrechens in den Vernichtungslagern – erübrige es sich nicht, bei jedem Fall genau hinzusehen. Ein sorgfältig begründetes Urteil des Bundesgerichtshofs gegen Furchner könnte zeigen, dass man dies verstanden habe, so Müller-Neuhof.
LG München zu Maskendeal: In der Auseinandersetzung um einen geplatzten Maskendeal hat das Landgericht München jetzt dem Freistaat Bayern recht gegeben und die erhobene Schadensersatzforderung von 1,58 Millionen Euro zurückgewiesen. Die Masken-Importeurin habe das Gericht letztlich nicht hinreichend davon überzeugen können, so LTO, dass es überhaupt zum Vertragsschluss gekommen sei. Im Prozess hatte der Freistaat zudem ausgeführt, die in Rede stehenden Masken hätten ohnehin nicht den Anforderungen genügt.
Recht in der Welt
IGH - Palästina: Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag soll die israelische Besatzung des palästinensischen Westjordanlands untersuchen, fordert die UN-Generalversammlung in einer Resolution, die von den Mitgliedstaaten in der Nacht auf Samstag verabschiedet wurde. Dabei gehe es nicht um israelische Siedlungen, deren Völkerrechtswidrigkeit bereits festgestellt sei, sondern um die über 55-jährige militärische Besatzung. Die nun eingeforderte Stellungnahme sei zwar nicht bindend, so die Mo-taz (Jannis Hagmann), werde aber laut Expert:innen bei der Auslegung des Völkerrechts Autorität genießen. Deutschland wie auch Großbritannien und die USA hatten gegen die Resolution gestimmt.
Sondertribunal zum Ukrainekrieg: Mit der Diskussion um ein Sondertribunal für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen während des Ukrainekrieges beschäftigt sich Rechtsprofessor Kai Ambos im Verfassungsblog. Hauptproblem sei dabei die Legitimität eines solchen Sondertribunals, die nur durch die Einbindung der UNO, insbesondere der Generalversammlung erreicht werden könne, so der Autor. Eine entsprechende Abstimmung in der Generalversammlung müsste allerdings schon ähnlich überzeugend ausfallen wie bei der Verurteilung der russischen Aggression im März 2022 und bei der Verurteilung der sog. Annexionen im Oktober, mit jeweils mehr als 140 Ja-Stimmen. Die Befürworter eines Sondertribunals müssten auch erklären, fordert Ambos, wie sich dieses zum IStGH verhalten soll.
Israel – Justizreform: LTO (Hasso Suliak) beleuchtet die neue israelische Regierung und deren Pläne zum Umbau des Justizsystems, die "wohl ein stückweit das Ende der Gewaltenteilung in Israel bedeuten" würden. Unter anderem sei die Einführung einer so genannten Überwindungklausel geplant. Danach könnte die Mehrheit im Parlament ein Gesetz verabschieden, auch wenn es nach Ansicht des Höchsten Gerichts gegen eines der israelischen Grundgesetze (Basic Laws) verstößt.
Rechtsprofessorin Rivka Weil erläutert im Verfassungsblog (in englischer Sprache) ihre Theorie für eine entsprechende Begrenzung der staatlichen Aufhebungsbefugnis. Sie geht davon aus, dass die Verletzung der grundlegendsten Werte der Verfassungsordnung durch Vorranggesetze de facto eine Verfassungsänderung ist und daher nicht durch den Beschluss eines einfachen Gesetzes mit einer Vorrangklausel erreicht werden könne.
Italien – Seenotrettung: Nun berichtete auch die Sa-SZ (Oliver Meiler) über den "Verhaltenskodex" für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer, den die italienische Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli) vorige Woche per Gesetzesdekret beschlossen hat.
Sonstiges
Recht und Gefühle: Dass die Abstraktion des Rechts nicht nur widerstreitende Interessen ausgleichen kann, sondern auch ein unersetzliches gesellschaftliches Ordnungssystem ist, das Emotion und Regel, Gleichförmigkeit und Ausnahme, Empathie und Distanz in einen Ausgleich bringt, erklärt Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in seiner Kolumne auf spiegel.de.
Rechtsgeschichte – Frauen und Straftaten: Ronen Steinke (Sa-SZ) präsentiert in seiner Kolumne "Vor Gericht" drei Erklärungen frühere Kriminologen, warum Frauen deutlich weniger Straftaten begehen als Männer. Erstens sei die Prostitution die weibliche Entsprechung zur Kriminalität der Männer. Zweitens seien Frauen vor allem während ihrer Menstruation kriminell, also nur einmal im Monat. Drittens seien Frauen gar nicht weniger kriminell als Männer, die Wachtmeister seien aber Kavaliere und drückten öfters ein Auge zu.
Rechtsgeschichte – Kranzgeld: Dem bis 1998 im BGB enthaltenen "Kranzgeld" als Anspruch auf Schadensersatz einer "unbescholtenen Verlobten", wenn sie "die Beiwohnung gestattet" hatte und die Ehe später nicht zustande kam, widmet sich Sebastian Felz vom Forum Justizgeschichte auf LTO. Vor dreißig Jahren hatte eine Richterin des Amtsgrichts Münster Rechtsgeschichte geschrieben, indem sie einen entsprechenden Anspruch ablehnte und damit die spätere Abschaffung des entsprechenden Paragrafen auslöste.
Rechtsgeschichte – 1923: Martin Rath hat für LTO einige Entscheidungen deutscher Gerichte aus dem Jahre 1923 ausgegraben.
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LTO/pf/chr
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Die juristische Presseschau vom 31. Dezember 2022 bis 2. Januar 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50628 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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