Das LG Frankfurt/M. verurteilte den NSU 2.0-Drohbriefschreiber. Das VG Stuttgart hat die Klage der Landesjustizministerin zu Kompetenzen des Präsidialrats abgewiesen. In den Niederlanden wurden drei Männer für den MH17-Abschuss verurteilt.
Thema des Tages
LG Frankfurt/M. – NSU 2.0-Drohschreiben: Das Landgericht Frankfurt/M. hat im Prozess um die "NSU 2.0"-Drohschreiben den aus Berlin stammenden Alexander M. zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Das Gericht befand ihn wegen der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, Störung des öffentlichen Friedens, Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, Bedrohung, Beleidigung und wegen des tätlichen Angriffs auf einen Vollstreckungsbeamten für schuldig. Er habe eine ganze Reihe von hasserfüllten und rassistischen Drohschreiben an Rechtsanwält:innen, Politiker:innen, Journalist:innen und Vertreter:innen des öffentlichen Lebens geschickt und dabei zT nicht öffentlich bekannte Informationen benutzt. Zu den Opfern gehörten die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, der Satiriker Jan Böhmermann und die Moderatorin Maybritt Illner. Der Angeklagte hatte in seinem selbst vorgetragenen Plädoyer einen Freispruch gefordert und "das Projekt NSU 2.0" als "Herumtrollerei auf hohem Niveau" bezeichnet. Es berichten die SZ (Annette Ramelsberger) mit einer Seite-Drei-Reportage, FAZ (Timo Steppat), taz (Konrad Litschko), spiegel.de, zeit.de und LTO.
Jasper von Altenbockum (FAZ) kommentiert, dass die um sich greifende Hasskultur zu lange nur als "Herumtollerei" behandelt wurde und es gut sei, "dass jemand, der Existenzen zerstören will, seine gerechte Strafe bekommt und lange Zeit hinter Gitter muss." Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert, dass die Forderung nach rückhaltloser Aufklärung bis hinein in Polizeidienststellen, wo Tippgeber für den Täter vermutet werden, so berechtigt sei, wie es verständlich sei, dass ein Strafprozess ohne kooperativen Angeklagten dies nicht leisten könne. Der Fall zeige, wie schwer es sei, Opfer vor solchen Taten zu schützen.
Im Interview mit zeit.de (Martín Steinhagen) begrüßt die betroffene Anwältin Seda Başay-Yıldız das Urteil. Zugleich kritisiert sie aber die Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten S. vom 1. Revier in der Frankfurter Innenstadt, dem sie vorwirft, ihre Daten abgefragt und weitergegeben zu haben. Die StA habe sogar versucht, jeden Verdacht von ihm abzulenken.
Rechtspolitik
Cannabis: Bei der EU-Kommission ist von deutscher Seite immer noch keine förmliche Notifizierung zur geplanten Legalisierung von Cannabis eingereicht worden. Allerdings laufen bereits inoffizielle Gespräche in Brüssel, so Carmen Wegge, Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für die Legalisierung von Cannabis. Wegge äußerte zudem, dass perspektivisch eine Änderung des EU-Rahmenbeschlusses von 2004 zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels erforderlich sei. Das steht laut LTO (Hasso Suliak) aber im Widerspruch zur Argumentation der Bundesregierung, dass das vorgestellte Legalisierungskonzept europarechtskonform sei.
Gesetzgebung: Auf beck-aktuell kritisiert Rechtsanwalt Christian Zumpf die Bundesregierung und den Bundestag für eine zu hastige und fehlerhafte Gesetzgebung, die der Normenkontrollrat bereits Ende September moniert habe. So sei den Verbänden etwa beim Sanktionsdurchsetzungsgesetz II im Vorfeld nur eine Stellungnahmefrist von 1,5 Tagen gewährt worden.
Justiz
VG Stuttgart zu Ministerium gegen Präsidialrat: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat eine Klage der baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU) gegen den Präsidialrat der ordentlichen Justiz in Baden-Württemberg als unzulässig abgewiesen. Gentges wollte verhindern, dass aufgrund einer ablehnenden Stellungnahme des Präsidialrats zu ihrer Kandidatin für die Besetzung der Präsidentenstelle am Oberlandesgerichts Stuttgart der Richterwahlausschuss des Landes angerufen werden muss. Sie hatte daher u.a. die Feststellung beantragt, dass der Präsidialrat mit dieser Stellungnahme seine Kompetenzen überschritten hatte, weil er kein Auswahlermessen habe, sondern nur eine Rechtmäßigkeitskontrolle vornehmen könne. Das VG befand jedoch, dass es nach dem Landes-Richter-und-Staatsanwälte-Gesetzes (LRiStAG) in diesem Stand des Verfahrens "nicht statthaft" sei, ein Gericht einzuschalten. Vielmehr sei der Richterwahlausschuss für alle Konflikte zwischen Ministerium und Präsidialrat zuständig, also auch für den Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung. Die Kompetenzfrage bleibt damit zunächst ungeklärt. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Rüdiger Soldt), StZ (Christian Gottschalk) und LTO (Christian Rath).
BVerfG zu Corona-Maßnahmen/Divergenzvorlage: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Divergenzvorlage des Verfassungsgerichtshofs Thüringen nach Art. 100 Abs. 3 Grundgesetz in einem Verfahren um die Verfassungsmäßigkeit einer Thüringer Corona-Verordnung aus dem Herbst 2020 für unzulässig erklärt. Es ging um die Frage, ob Corona-Verordnungen der Länder auf die unbestimmte Generalklausel in § 28 Abs. 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützt werden konnten oder ob dafür eine (erst im November 2020 geschaffene) spezielle Rechtsgrundlage erforderlich gewesen wäre. Der VerfGH Thüringen hält die Generalklausel in unvorhergesehenen Gefahrensituationen für eine Übergangszeit für eine zulässige Rechtsgrundlage und hatte den Eindruck, hier eine andere Auffassung zu vertreten als das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt. Das BVerfG konnte jedoch in der Entscheidung aus Sachsen-Anhalt keinen abweichenden Rechtssatz erkennen. Dort habe man die Frage vielmehr ausdrücklich offengelassen, weil ein Übergangszeitraum bei Erlass der dort angegriffenen Landesverordnung jedenfalls bereits abgelaufen war. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), spiegel.de, Welt, zeit.de und LTO.
VerfGH Berlin zu Wahlen in Berlin: Rechtsprofessor Heiko Sauer kritisiert auf dem Verfassungsblog die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Berlin zur vollumfänglichen Ungültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Wahlwiederholungen sollten nur dort stattfinden, wo Wahlfehler wirklich mandatsrelevant waren. Es gebe zwar Argumente gegen gespaltene Wahlen. Letztlich spreche gegen eine Wiederholung der gesamten Wahl aber die Rechtsposition der Abgeordneten, die ihr Mandat in einem rechtmäßigen Wahlakt errungen haben und das Interesse der Wähler:innen, die an einem rechtmäßigen Wahlakt teilgenommen haben.
Im Interview mit taz-Berlin (Anna Klöpper) verteidigt Rechtsprofessor Christian Waldhoff die Entscheidung zur Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl, weil die Kumulation der Wahlfehler evident und mandatsrelevant sei. Das systemische Organisationsversagen habe die demokratische Integrität der Wahlen beschädigt, sodass eine komplette Wiederholung verhältnismäßig sei. Die Erfolgsaussichten für einen Rechtsschutz gegen diese Entscheidung vor dem BVerfG stuft er als sehr gering ein.
Die FAZ (Markus Wehner) portraitiert den neuen Wahlleiter für die Wiederholungswahl des Abgeordnetenhauses und der zwölf Bezirksparlamente am 12. Februar, Stephan Bröchler. Der 60-Jährige ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften und hat in der Expertenkommission mitgearbeitet, die die Pannen der Wahl aufarbeitete.
BAG zu Mehrarbeitszuschlägen: Nun berichtet auch beck-community (Markus Stoffels) über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom Mittwoch, wonach für den Schwellenwert bei Mehrarbeitszuschlägen nicht nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zählen, sondern auch bezahlte Urlaubsstunden.
KG Berlin zu AfD-Parteimitgliedschaft/Andreas Kalbitz: Das Kammergericht Berlin hat im schriftlichen Verfahren eine Berufung des ehemaligen AfD-Bundesvorstandsmitglieds Andreas Kalbitz gegen eine Entscheidung des Landgerichts Berlin aus dem April abgewiesen und damit bestätigt, dass er kein AfD-Mitglied mehr ist. Kalbitz wollte Gegenteiliges feststellen lassen, nachdem der AfD-Bundesvorstand seine Mitgliedschaft im Sommer 2020 für nichtig erklärt hatte, weil er bei seinem Eintritt im Jahr 2013 frühere Mitgliedschaften in rechtsextremen Organisationen verschwiegen hatte. Das KG schloss sich dem LG an, die einstige Zustimmung der Partei zur Aufnahme von Kalbitz sei wegen arglistiger Täuschung anfechtbar gewesen. Es berichten taz (Gareth Joswig), spiegel.de und LTO.
LG Augsburg zu Tötung durch Raser: Das Landgericht Augsburg hat einen 28-Jährigen wegen eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Er war mit 200 Stundenkilometern gefahren, verlor die Kontrolle und traf auf der Gegenfahrbahn das Fahrzeug einer 54-Jährigen. Die vierfache Mutter war sofort tot. spiegel.de berichtet.
StA Stuttgart – Dieselskandal: Der Deutschen Umwelthilfe (DUH) liegen Dokumente vor, die nach eigener Deutung beweisen sollen, dass die Manipulation der Abgasreinigung bei Dieselmotoren das Ergebnis einer Auftragsarbeit der führenden deutschen Automobilhersteller an den Zulieferer Bosch gewesen sei. Bosch habe die illegalen Wünsche technisch umgesetzt. Die DUH überreichte die Dokumente der Staatsanwaltschaft Stuttgart, die aber erklärte, dass die Dokumente schon in dem 2019 abgeschlossenen Dieselbußgeldverfahren gegen Bosch berücksichtigt worden seien. Es berichten FAZ (Corinna Budras/Gustav Theile), taz (Björn Hartmann) und spiegel.de (Gerald Traufetter).
Recht in der Welt
Niederlande/Ukraine/Russland – Abschuss Flug MH17: Ein niederländisches Strafgericht hat drei ehemalige hochrangige pro-russische Separatisten (Igor Girkin, Sergej Dubinskij und Leonid Chartschenko) wegen des Abschusses der Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine im Jahr 2014, der 298 Todesopfer forderte, schuldig gesprochen und sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein vierter Angeklagter (Oleg Pulatow) wurde freigesprochen. Russland erkennt das Urteil jedoch nicht an und behauptet, die Verhandlung habe einen politischen Auftrag gehabt. Da die Verurteilten sich zudem in Russland aufhalten, ist eine Verbüßung der Haftstrafe unwahrscheinlich. Es berichten FAZ (Thomas Gutschker), taz (Tobias Müller), spiegel.de und LTO.
Für Reinhard Veser (FAZ) ist das Urteil eine Erinnerung daran, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht erst am 24. Februar diesen Jahres begonnen habe, sondern vor gut acht Jahren. Angesichts der langjährigen Verfahren solle jetzt schon mit der juristischen Aufarbeitung der neuen Kriegsverbrechen begonnen werden. Thomas Kirchner (SZ) kommentiert, dass das Urteil für den Rechtsstaat und den liberalen Westen ein Triumph sei, weil die Wahrheit trotz russischer "alternativer Fakten" gesiegt habe.
Myanmar – Massenamnestie: In Myanmar hat die Militärjunta im Zuge einer Massenamnestie mit der Entlassung von fast 6000 Gefangenen begonnen. Darunter sollen auch prominente Ausländer:innen wie der australische Ökonom Sean Turnell und die ehemalige britische Botschafterin Vicky Bowman sein. Es berichten SZ, FAZ (Christoph Hein) und spiegel.de.
Russland – Brittney Griner: Die in Russland zu neun Jahren Haft verurteilte US-Basketballerin Brittney Griner ist nach Angaben ihrer Anwälte in ein Frauenstraflager in der russischen Teilrepublik Mordwinien in der Großregion Wolga verlegt worden. Eine Verlegung war bereits vergangene Woche bekannt geworden, der Aufenthaltsort war aber bisher unbekannt. zeit.de berichtet.
Schweden – Versammlungsfreiheit: Das schwedische Parlament hat am Mittwoch mehrere Verfassungsänderungen beschlossen, darunter eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit für Vereinigungen, die an Terrorismus beteiligt sind oder ihn unterstützen. Bei einem Türkeibesuch in der vergangenen Woche hatte Ministerpräsident Ulf Kristersson die anstehende Verfassungsänderung als einen "großen Schritt" in der Verbrechensbekämpfung bezeichnet. Die SZ (Alex Rühle) berichtet.
Sonstiges
Parlamentarismus: Die FAZ (Philip Manow) rezensiert das neue Buch des Rechtsprofessors Christoph Schönberger: "Auf der Bank – Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments". Darin unternehme er einen internationalen und historischen Vergleich von parlamentarischen Plenarsälen. Das Buch könne von allen Kenner:innen und Nicht-Kenner:innen mit Genuss und Gewinn gelesen werden.
Klimaproteste: Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sieht die Klima-Aktivisten-Gruppe "Letzte Generation" nicht als Fall für eine Beobachtung durch seine Behörde. Die Warnung des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt vor der Entstehung einer "Klima-RAF" bezeichnete Haldenwang als "Nonsens." Es berichten taz (Shoko Bethke), spiegel.de und LTO.
Reinhard Müller (FAZ) kommentiert, dass Haldenwang mit seiner Kritik zwar auf der Zeitgeistwelle schwimme. Die "offizielle Ermutigung" einer Bewegung, die schon jetzt Straftaten zu ihrem Programm gemacht habe, sei jedoch fatal.
Auf dem Verfassungsblog stellt Rechtsprofessorin Katrin Hoeffler kriminalitätstheoretische Überlegungen zur Letzten Generation an und kommt zu dem Ergebnis, dass man diese Gruppe keinesfalls mit Extremisten gleichsetzen könne. "Klima-RAF"-Rufe seien keine bloße Polemik, sondern eine gefährliche Zuschreibung, die zudem zu einer Vertiefung der empfundenen Exklusion führen könnte.
Präventivhaft in Bayern: tagesschau.de (Max Bauer) stellt die im bayerischen Polizeiaufgabengesetz seit 2017 erweiterte Präventivhaft vor und lässt Rechtsprofessor Markus Krajewski, der vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof gegen die Neuregelung klagt, verfassungsrechtliche Bedenken anführen. Problematisch sei nicht die Präventivhaft an und für sich, sondern ihre "extreme" Länge von maximal zwei Monaten.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/tr
(Hinweis für Journalist:innen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 18. November 2022: . In: Legal Tribune Online, 18.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50210 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag