Die juristische Presseschau vom 8. bis 10. Oktober 2022: § 184b StGB trifft oft die Fal­schen / Infra­struktur ins Grund­ge­setz? / Abge­schot­tete Staats­rechts­lehrer

10.10.2022

Weil Kinderpornographie nun ein Verbrechen ist, können Ermittlungen nicht mehr eingestellt werden. Verkehrsminister Wissing fordert Staatsziel Infrastruktur. Max Steinbeis rüffelt die fehlende Öffentlichkeit von Staatsrechtslehrer-Treffen.

Thema des Tages

Kinderpornografie: Die vor einem Jahr in Kraft getretene Verschärfung der Strafbarkeit von Kinderpornografie  in § 184b Strafgesetzbuch trifft häufig die Falschen, berichtet ausführlich die Sa-SZ (Annette Ramelsberger). Weil jetzt der Besitz und die Verbreitung kinderpornografischen Materials ausnahmslos als Verbrechen gilt, ist die Einstellung von Verfahren ausgeschlossen, auch wenn die Staatsanwaltschaft den konkreten Fall nicht für strafwürdig hält. Betroffen sind beispielsweise Eltern, wenn sie Fotos, die sie auf den Handys ihrer Kinder gefunden haben, an andere Eltern der Schulklasse versenden. Auch Lehrer, die strafbare Bilder bei einem Schüler finden und sie sichern, müssen mit Strafverfolgung rechnen, wenn sie nicht am gleichen Tag zur Polizei gehen. Auch ein früheres Vergewaltigungsopfer geriet in den Fokus der Ermittlungsbehörden, weil die Frau auf ihrem Handy noch Fotos gespeichert hatte, die ihr der Täter einst geschickt hatte und sie diese der Polizei als Beweismaterial für die sexuellen Übergriffe übergab. Der Münchener Amtsrichter Robert Grain hält die Neuregelung für verfassungswidrig und hat deshalb ein konkretes Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht angestrengt.

Rechtspolitik

Infrastruktur im Grundgesetz: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat laut Sa-FAZ (Katja Gelinsky) vorgeschlagen, ein Staatsziel Infrastruktur in die Verfassung aufzunehmen. "Infrastruktur ist von so entscheidender Bedeutung, dass sie eine hervorgehobene Stellung in unserem Rechtssystem braucht", so Wissing. Das Ziel dabei ist eine Beschleunigung der Planung und des Ausbaus von Infrastrukturprojekten. Die Verwaltungs- und Umweltrechtsprofessorin Sabine Schlacke von der Universität Greifswald befürchtet dagegen Nachteile für den Klimaschutz.

Katja Gelinsky (Sa-FAZ) meint in einem separaten Kommentar, der Minister solle sich eher auf andere Baustellen konzentrieren: Für die Beschleunigung von Infrastrukturprojekten brauche es klare gesetzliche Vorhaben und qualifizierte Behördenmitarbeiter und auch bei der Straffung der Verfahren sei noch Luft nach oben.

Europäisches Einheitspatent: Voraussichtlich Anfang Oktober 2023 könnten die Regelungen zum europäischen Einheitspatent in Kraft treten. Konkret geht es um zwei EU-Verordnungen und das Abkommen über ein Einheitliches Patentgericht. Rechtsanwältin Anette Gärtner stellt auf LTO die bisherige Entwicklung dar, erläutert das Verfahren und die rechtlichen Wirkungen.

Nebentätigkeiten von Richter:innen: Mangelnde Transparenz über die wirtschaftliche (Neben)-Tätigkeit von Richter:innen beklagt Constantin von Lijnden (welt.de). Ein Pendant zum Lobbyregistergesetz, das zur Veröffentlichung von Kontakten zwischen Bundestagesabgeordneten und Regierungsmitgliedern mit Interessenvertretern verpflichtet, suche man für die Justiz vergebens. Ein entsprechender Beschlussvorschlag ist kürzlich beim Juristentag gescheitert.

Blockade von Richterernennungen: Die Rechtsprofessorin und frühere Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff überlegt im Verfassungsblog (in englischer Sprache), wie einer Blockade von Richterernennungen (wie derzeit in Spanien) begegnet werden kann. Die institutionelle Struktur müsse so beschaffen sein, dass die Auswirkungen einer Blockade so unvorhersehbar wie nur irgend möglich sind. Deshalb müssten die Ernennungen dem bzw. den normalerweise zuständigen Organen entzogen werden, wenn die Ernennung oder Benennung nicht rechtzeitig erfolgt, und ein alternativer Mechanismus müsse einspringen.

Justiz

BVerfG – Data-Mining: Nun berichtet auch netzpolitik.org (Julien Schat) über die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützte Verfassungseschwerde gegen eine Regelung im Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen, mit der die Verknüpfung und Auswertung zahlreicher Datenbestände zur Durchleuchtung von Personen erlaubt wird. Das so genannte Data-Mining ermögliche die Erstellung umfassender Persönlichkeitsprofile durch die automatisierte Auswertung von zahlreichen Datenbeständen und verstoße damit gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Mit der Verfassungsbeschwerde werden strengere Voraussetzungen und eine zureichende Verfahrenssicherung für den Grundrechtseingriff gefordert.

BSG zu Unterkunftskosten: Das Bundessozialgericht hat ein Verfahren, in dem es um die von den Behörden zu erstattenden Unterkunftskosten für eine unter Epilepsie leidende Frau und ihren geistig behinderten Ehemann ging, an die Vorinstanz zurückverwiesen, wie beck-aktuell (Joachim Jahn) berichtet. Es fehlten hinreichende Feststellungen zu den Beeinträchtigungen der Eheleute. Das BSG habe aber angemahnt, dass berücksichtigt werden müsste, ob eine individuelle Beeinträchtigung den Zugang zum Wohnungsmarkt beschränke. Ggf. sei eine individuelle Hilfestellung des Leistungsträgers geboten, um eine angemessene Unterkunft zu finden.

LG Berlin zu Mord an 15-jährigem Mädchen: Nachdem der Bundesgerichtshof eine erste Verurteilung aufgehoben hatte, hat das Landgericht Berlin den Angeklagten Bakim H. erneut schuldig gesprochen, eine 15-jährige Schülerin im August 2020 vergewaltigt und erwürgt zu haben. Ein früheres Gutachten hatte bei H. eine hirnorganische Persönlichkeitsstörung festgestellt, weshalb der BGH dem Landgericht eine erneute Prüfung der Schuldfähigkeit aufgab. Das Berliner Gericht konnte auf Basis eines neuen Gutachtens jedoch keine Hinweise auf eine Persönlichkeitsstörung finden, wie spiegel.de schreibt.

LG Hamburg zu Mord wegen 250 Euro: Wegen Mordes und Raubes mit Todesfolge ist ein 47-jähriger Konditor vom Landgericht Hamburg verurteilt worden. Er hatte einen 62-Jährigen, den er erst am Abend zuvor kennengelernt hatte, nach einem gemeinsamen Barbesuch erstochen und dann dessen Portemonnaie an sich genommen. spiegel.de berichtet.

LAG Düsseldorf zu gefälschten Impfausweisen: Das LAG Düsseldorf hat in zwei Entscheidungen festgestellt, dass das Fälschen eines Impfpasses eine fristlose Kündigung grundsätzlich rechtfertigen kann. In einem der Fälle müsse aber noch geklärt werden, ob der Impfausweis wirklich gefälscht war, im anderen Fall scheiterte die außerordentliche Kündigung an der Interessenabwägung und die ordentliche Kündigung aus formalen Gründen. LTO fasst die Entscheidungen zusammen.

LG Frankfurt/M. – bestechlicher Staatsanwalt: Im Verfahren gegen den wegen Bestechlichkeit beschuldigten Frankfurter Staatsanwalt Alexander Badle hat das Landgericht Frankfurt/M. einen Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen den Vorsitzenden Richter Werner Gröschel abgelehnt, schreibt LTO (Katharina Uharek). Die Verteidigung machte geltend, dass Gröschel früher mit dem Angeklagten regelmäßig essen war. Außerdem sei Gröschel mit der Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft verheiratet, deren Pressearbeit in der Strafzumessung möglicherweise strafmildernd zu berücksichtigen ist. 

OLG Zweibrücken zu Dauer der Untersuchungshaft: Nun berichtet auch spiegel.de, dass das Oberlandesgericht Zweibrücken die vorläufige Freilassung eines wegen Mordes und Vergewaltigung (noch nicht rechtskräftig) verurteilten 19-jährigen Mannes angeordnet hat. Das Hauptverfahren vor dem Landgericht Frankenthal hatte im September 2020 begonnen, die Verurteilung erfolgte erst im August 2022. In der mehr als 22 Monate dauernden Hauptverhandlung sei lediglich an 57 Tagen verhandelt worden, kritisierte das Oberlandesgericht Zweibrücken jetzt auf die Haftbeschwerde des Mannes hin. 

VG Koblenz zu veralteten Dienstbeurteilungen: Auch wenn die dienstlichen Beurteilungen in einem Bewerberverfahren für Beamte nicht mehr aktuell seien, reiche das allein nicht dafür aus, ein Bewerbungsverfahren endgültig abzubrechen, hat laut LTO das Verwaltungsgericht Koblenz in einem Fall bei der Telekom entschieden. Der Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens stelle sich als willkürlich dar, so das Gericht. Der Dienstherr müsse darlegen, aus welchem personalwirtschaftlichen bzw. organisationsrechtlichen Gründen von einer Besetzung der Stelle endgültig abgesehen werde.

Promis vor Gericht: Die Sa-SZ (René Hofmann/Annette Ramelsberger/Susi Wimmer) hat sich im Lokalteil einige Verfahren angeschaut, in denen sich Prominente vor Münchener Gerichten verantworten mussten, darunter Uli Hoeneß, Boris Becker und aktuell Alfons Schuhbeck. Die Justiz sei von Prominenten meist nicht besonders beeindruckt, heißt es im Text, Münchner Richter seien relativ cool, wenn sie es mit bekannten Angeklagten zu tun hätten.

Das letzte Wort des Angeklagten: Verena Mayer (Sa-SZ) hat sich in ihrer Kolumne "Vor Gericht" mit den letzten Worten von Angeklagten befasst und erinnert sich dabei an einen verurteilten Bankräuber, der dafür ganze fünf Prozesstage gebraucht hatte, bevor ihm die Richterin das Mikro abdrehte.

Recht in der Welt

USA – Datenschutz/Datentransfers: US-Präsident Joe Biden hat ein Dekret zum Schutz von Daten aus der EU erlassen, mit dem er eine Vereinbarung mit der EU vom März umsetzt. Die Zugriffsrechte von US-Geheimdiensten würden reduziert und es gebe neue Ombudsstellen, berichtet die Sa-SZ (Christoph Koopmann). Der österreichische Datenschützer Max Schrems, der mit seinen EuGH-Klagen die Vorgänger-Abkommen Safe Harbour und Privacy Shield zu Fall brachte, geht davon aus, dass auch dieses Abkommen am EuGH scheitern werde.

Russland – Völkerrecht: Im Interview mit der Mo-Welt (Andrea Seibel) erklärt der Völkerrechtler Gerd Hankel, warum der Angriff auf die Ukraine für Russland rechtliche Konsequenzen haben müsse. Eklatante Verletzungen des humanitären Völkerrechts hinzunehmen, heiße, das Völkerrecht immens zu schwächen, so Hankel. Um eine größtmögliche Objektivität zu erreichen, sollten die in der Ukraine begangenen Verbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden, nicht aber vor einem ein Ukraine-Sondertribunal, das von den unerklärten Kriegsgegnern Russlands etabliert und sich sofort den Vorwurf der Parteilichkeit einhandeln würde.

Polen – Reparationsforderungen: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Andreas Buser erläutert im Verfassungsblog die Reparationsforderungen, die Polen jüngst gegenüber Deutschland erneut erhoben hat, und untersucht die Erfolgsaussichten. Zwar habe die polnische Regierung bereits 1991 erklärt, keine weiteren Ansprüche polnischer Bürger:innen mehr geltend machen zu wollen, aber ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof, das die entsprechenden Rechtsfragen abschließend klärt, könnte, so Buser, zur Konsolidierung des Völkerrechts beitragen und letztlich die "Rule of International Law" stärken.

USA – Cannabis: Wie nun auch LTO berichtet, will US-Präsident Biden die Cannabis-Entkriminalisierung vorantreiben und hat das Justiz- und das Gesundheitsministerium angewiesen, die Einordnung von Cannabis, das derzeit noch mit Heroin gleichgesetzt wird, beschleunigt zu prüfen. Außerdem ist eine Begnadigung für alle vorgesehen, die in den USA auf Bundesebene wegen des Besitzes von Marihuana verurteilt worden sind. Nach Rechnung der Behörden geht es dabei wohl um rund 6.500 Personen von 1992 bis 2021. Die meisten Verurteilungen wegen Cannabis-Besitzes erfolgten jedoch nicht auf Bundesebene, sondern nach den Gesetzen der Bundesstaaten.

Bosnien-Herzegowina – Wahlrecht: Rechtsprofessor Jens Woelk befasst sich im Verfassungsblog (in englischer Sprache) mit dem Wahlrecht in Bosnien-Herzegowina, das der Hohe Repräsentant Christian Schmidt kürzlich per Dekret reformiert hatte.

Sonstiges

Staatsrechtslehrertagung: Kritisch kommentiert Maximilian Steinbeis (Verfassungsblog) die sich abschottende Institution der Staatsrechtslehrertagung. Nicht nur sei die Öffentlichkeit ausgeschlossen, auch der wissenschaftliche Nachwuchs erhalte keinen Zugang. Es sei nicht das Interesse an möglichst hohem wissenschaftlichem Ertrag, das diese Grenzziehungen motiviere, so Steinbeis. Ausgerechnet an Forscher:innen, die sich im Zweifel in der innovativsten und intensivsten und womöglich auch produktivsten Arbeitsphase ihres Lebens befinden, habe die Vereinigung kein Interesse und sperre sie buchstäblich aus.

Migrationsquote in der Verwaltung: Warum eine Quote, die bei der Stellenbesetzung einen bestimmten Anteil von Personen mit Migrationshintergrund vorsieht, aus seiner Sicht rechtswidrig ist, erklärt Rechtsprofessor Arnd Diringer in der WamS und bezieht sich dabei auf entsprechende Überlegungen der Stadt Hannover. Art. 33 Abs. 2 GG gewähre jedem Deutschen ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, die Berücksichtigung anderer Kriterien sei danach ausgeschlossen. Das Grundgesetz untersagt daher auch jede Bevorzugung wegen der ethnischen Herkunft.

Barbara Salesch: Die TV-Richterin Barbara Salesch, die vor kurzem ihr Comeback feiern konnte, kehrt jetzt auch auf den früheren Sendeplatz am Nachmittag zurück, berichtet LTO. Nach fünf Wochen mit guten Quoten um 11 Uhr vormittags befördere RTL nun die Sendung "Barbara Salesch - Das Strafgericht" montags bis freitags auf den Sendeplatz um 15 Uhr, wie der Kölner Privatsender ankündigte.

Rechtsgeschichte – Streit um Brennholz: Urteile zu Auseinandersetzungen um Brennholz fasst Martin Rath für LTO zusammen.

 

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LTO/pf

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 8. bis 10. Oktober 2022: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49829 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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