Auch in der Justiz finden sich Coronaskeptiker, wie Joachim Wagner recherchiert hat. Das BVerfG will Dienstag erste Hauptsacheentscheidungen zur Bundesnotbremse veröffentlichen und die Schweiz bestätigt das Covid-19-Gesetz.
Thema des Tages
Querdenker in der Justiz: Dass es auch in der Justiz Zweifel an den Corona-Schutzmaßnahmen gibt, weiß man spätestens seit der Entscheidung eines Weimarer Familienrichters gegen die Maskenpflicht an Thüringer Schulen. Der Journalist Joachim Wagner berichtet nun auf LTO über das "Netzwerk Kritischer Richter und Staatsanwälte", eine Anfang 2021 gegründete "Widerstandszelle in der Justiz gegen die staatlichen Corona-Beschränkungen". Das Netzwerk "versteht sich als Ansprechpartner und Stimme von Kollegen und Kolleginnen in der Justiz, deren Arbeit und Unabhängigkeit durch anderslautende politische Vorgaben unter Druck ist." Wegen der zunehmenden Radikalisierung des Netzwerks traten im September mehrere bisher führende Mitglieder aus.
Rechtspolitik
Rechtspolitik: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert die Vereinbarungen der Ampelkoalitionen im Bereich Rechtspolitik und geht insbesondere auf die vorgesehene Streichung von § 219a StGB und die notwendige Neuregelung der Suizidhilfe und auch die geplante Herabsetzung des Wahlalters ein. Die Pläne seien erfreulich, meint er, aber Konflikte werden bleiben. So schön das Koalitionsprogramm aussehe, stehe doch fest, dass sich Modernisierung nicht verordnen lasse, sondern verhandelt werden müsse.
Arbeitsrecht: LTO (Tanja Podolski) fasst jene Passagen im Koalitionsvertrag zusammen, die das Arbeitsrecht betreffen. So soll unter anderem die Möglichkeit, Sitzungen des Betriebsrates und Betriebsversammlungen virtuell durchzuführen, dauerhaft verlängert werden. Zudem will sich die Koalition für die Weiterentwicklung der Unternehmensmitbestimmung einsetzen und die Tarifflucht bekämpfen. Künftig soll die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden sein.
Cannabis: Die Diskussion um die von der Ampelkoalition angekündigte Cannabislegalisierung wird auf LTO dargestellt. Während entsprechende Unternehmen auf künftige Gewinne hoffen, warnt beispielsweise die Polizeigewerkschaft, dass der illegale Handel dann erst recht aufblühen könnte.
§ 219a StGB: SPD, Grüne und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag auch darauf geeinigt, § 219a StGB, der die Werbung für Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt, abzuschaffen. Im Interview mit der Sa-SZ (Laura Hertreiter/Nele Pollatschek) erläutert die Gießener Ärztin Kristina Hänel, die seit Jahren gegen diese Regelung kämpft, warum das notwendig ist.
Aarhus-Verordnung: Die Doktorandin Saskia Münster stellt auf LTO die im Oktober in Kraft getretene Änderung der so genannten Aarhus-Verordnung der EU vor. Die Staaten der europäischen Region hatten 1998 die Aarhus-Konvention beschlossen, um die Beteiligungsrechte der Zivilgesellschaft im Bereich des Umweltschutzes zu stärken. Durch die jetzt von Rat und EU-Parlament beschlossene Änderung der Anwendungsverordnung wird unter anderem die Klagebefugnis über NGOs hinaus ausgeweitet, so dass von nun an auch andere "Mitglieder der Öffentlichkeit" unter bestimmten Voraussetzungen eine interne Überprüfung von Verwaltungsakten beantragen können.
Catcalling: Die Kriminologin Laura-Romina Goede berichtet im Interview mit spiegel.de (Birte Bredow) über die von ihr durchgeführte Studie zum so genannten Catcalling. Dabei geht es um sexuelle Belästigung ohne Körperkontakt im öffentlichen Raum, wie beispielsweise Pfiffe, Kussgeräusche oder anzügliche Bemerkungen. Teilweise wird dafür eine Strafbarkeit gefordert, Goede regt jedoch zunächst erst einmal eine "Verbotsnorm" ohne Strafandrohung an. Der Gesetzgeber könne damit zeigen, dass ein solches Verhalten rechtswidrig ist, um so ein Problembewusstsein zu schaffen. Bei einer Strafbarkeit von Catcalling wäre problematisch, dass die psychische Belastung der Betroffenen nicht durch eine isolierte Handlung, sondern durch die Summe der Handlungen einer Vielzahl unverbundener Täter ausgelöst wird.
Justiz
BVerfG – Bundesnotbremse: Das Bundesverfassungsgericht hat angekündigt, am Dienstag erste Beschlüsse zur so genannten Bundesnotbremse zu veröffentlichen. Die zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die im Frühjahr beschlossene bundesgesetzliche Anordnung von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schulschließungen bei bestimmten Inzidenzwerten. Diese ersten zwei großen Entscheidungen des BVerfG zu den Corona-Maßnahmen dürften Leitcharakter haben, schreibt LTO.
BVerfG – Triage: Dem beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung von Triage-Entscheidungen widmet sich die Sa-SZ (Wolfgang Janisch). Es geht dabei um die Frage, nach welchen Kriterien ausgewählt wird, wer noch intensivbehandelt wird, wenn die Kapazitäten nicht mehr für alle Bedürftigen reichen. Bisher gibt es nur Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften, die in Details auch umstritten sind.
BVerfG zu Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Vorlage des Bundesfinanzhofes von 2011 zum Solidaritätszuschlag bei Körperschaftsteuerguthaben für unzulässig erklärt. Die Begründungsanforderungen seien nicht erfüllt, so das Gericht laut LTO.
BVerwG zu Familienflüchtlingsschutz: Das Bundesverwaltungsgericht hat einer syrischen Familie, die bisher nur subsidiären Schutz genoss, Anspruch auf den Flüchtlingsstatus zuerkannt, weil eine Tochter, die zwischenzeitlich volljährig geworden war, als Flüchtling anerkannt wurde und nun als Stammberechtigte gilt. Das BAMF wurde nunmehr, so LTO, verpflichtet, der klagenden Familie ebenfalls den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.
BAG zu AGG/Schwerbehinderung: Wie nun auch LTO berichtet, hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass Verstöße von öffentlichen Arbeitgebern gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung begründen, dass eine Benachteiligung vorliege. Im zugrundeliegenden Fall hatte es die ausschreibende Behörde unterlassen, eine zu besetzende Stelle der zuständigen Agentur für Arbeit zu melden.
OLG Düsseldorf zu IS-Rückkehrer Nils G.: Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat am Freitag Nils G., ehemaliges Mitglied der salafistischen "Lohberger Brigade", wegen Mordes und Kriegsverbrechen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Es ist die zweite Verurteilung des IS-Rückkehrers – 2016 wurde er bereits wegen seiner IS-Mitgliedschaft und seiner Tätigkeit als Mitarbeiter einer IS-Einheit, die "Verräter" und "Deserteure" aufspürte, zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Sa-FAZ (Reiner Burger) berichtet.
OLG Frankfurt/M. – syrischer Folterarzt: Die FAS (Eva Schläfer) schreibt über den Strafprozess gegen den syrischen Mediziner Alaa M. vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M., der im Januar beginnen soll. Der heute 36jährige soll laut Bundesanwaltschaft in den Jahren 2011 und 2012 in zwei syrischen Militärkrankenhäusern sowie in einem Gefängnis Menschen gefoltert und einen dieser Menschen anschließend auch getötet haben. Die FAS beleuchtet in ihrem Text über den konkreten Fall hinaus die Mitwirkung von Ärzten an Folter. Zum einen seien Ärzte am Entwickeln von Foltermethoden beteiligt, die keine offensichtlichen Spuren hinterließen, zum anderen übersähen sie absichtlich Spuren, die Folterungen an den Gepeinigten hinterlassen hätten.
LG Hamburg zu Reichelt-Artikel: Das Landgericht Hamburg hat dem Spiegel untersagt, einen Artikel aus dem März über den früheren Bild-Chefredakteur Julian Reichelt weiterhin online zugänglich zu machen. In dem Text ging es um dessen Verhalten am Arbeitsplatz und gegenüber Kolleginnen und Kollegen. Reichelt hatte im Mai eine einstweilige Verfügung gegen den Spiegel erwirkt, weil ihn die Spiegel-Anfrage für eine Stellungnahme nicht erreicht hatte. Der Spiegel hatte den Text anschließend nur um die Aussage ergänzt, dass Reichelt die inzwischen eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme nicht genutzt habe. Laut Sa-FAZ (Axel Weidemann) und Sa-SZ (Claudia Tieschky) hat der Spiegel Beschwerde gegen die Entscheidung des LG eingelegt.
Recht in der Welt
USA – Abtreibungsrecht: Am 1. Dezember verhandelt der US Supreme Court in der Sache Dobbs gegen Jackson Women’s Health Organization. Es geht um die Verfassungsmäßigkeit eines 2018 im Bundesstaat Mississippi verabschiedeten Gesetzes, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Abtreibungsgegner hoffen, dass mit der jetzt anstehenden Entscheidung das wegweisende Gerichtsurteil "Roe vs. Wade" von 1973 gekippt wird. Der Spiegel (Daniel C. Schmidt) berichtet in einer Reportage aus Jackson/Mississippi, in der sowohl Pro-Life-Aktivisten als auch Befürworter eines Selbstbestimmungsrechtes schwangerer Frauen zu Wort kommen.
Schweiz – Wahl von Richter:innen: In der Schweiz hat am Sonntag eine Volksabstimmung u.a. über das Verfahren der Richterwahl zum Bundesgericht stattgefunden. Rechtsprofessorin Anne Sander und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Elisabeth Faltinat haben sich für den Verfassungsblog die Vorschläge der "Justiz-Initiative" angeschaut. Zum einen sollen danach die Richter und Richterinnen künftig auf Lebenszeit gewählt und nur in wenigen Ausnahmefällen abberufen werden können, zum anderen soll die Wahl per Losverfahren aus einem zuvor gebildeten Pool von fachlich qualifizierten und persönlich geeigneten Richterinnen und Richtern erfolgen.
Die Sa-FAZ (Johannes Ritter) stellt den Unternehmer Adrian Gasser vor, der hinter der "Justiz-Initiative" steht und sich als einsamen Kämpfer gegen das Establishment sieht. Die Initiative hat ihn rund 5 Millionen Franken gekostet.
Schweiz – Covid-Gesetz: Die Schweizer haben mit deutlicher Mehrheit für die von Regierung und Parlament beschlossenen Änderungen am nationalen Covid-19-Gesetz gestimmt. Es ging um die gesetzliche Grundlage für den Einsatz des Covid-Zertifikates, das man in der Schweiz für den Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Restaurants und größeren Veranstaltungen benötigt, um nachzuweisen, geimpft, genesen oder getestet zu sein. Mo-FAZ (Johannes Ritter), Mo-taz (Anina Ritscher) und spiegel.de berichten über die Volksabstimmung.
Polen – Justizreform: Die FAS (Reinhard Veser) stellt den polnischen Richter Igor Tuleya vor, der zu einem der wichtigsten Gesichter beim Protest gegen die von der PiS-Partei eingeleitete Justizreform geworden ist. Er wurde wegen einer für die PiS ungünstigen Entscheidung vor einem Jahr vom Dienst suspendiert, seine Bezüge wurden gekürzt und es wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet.
EuGH/Ungarn – Vorlagen an den EuGH: Rechtsprofessorin Petra Bárd analysiert im Verfassungsblog die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zur Blockade einer Richtervorlage durch ein oberstes nationales Gericht. Die Luxemburger Richter hatten in einem Fall aus Ungarn entschieden, dass ein Vorabentscheidungsersuchen einer unteren Instanz nicht mit der Begründung für rechtswidrig erklärt werden kann, dass die vorgelegten Fragen für den Ausgangsfall unerheblich und unnötig sind. Außerdem stellte der EuGH fest, dass eine Einleitung von Disziplinarverfahren gegen nationale Richter wegen eines Vorabentscheidungsersuchen gegen EU-Recht verstößt.
Türkei – Osman Kavala: Ein Istanbuler Strafgericht hat entschieden, dass der türkische Kulturmäzen Osman Kavala weiter in Haft bleibt, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2019 seine Freilassung gefordert hatte. Die Türkei müsse nun mit einem Verfahren auf Ausscluss aus dem Europarat rechnen. Es berichten Mo-FAZ (Rainer Herrmann) und Sa-SZ (Tomas Avenarius) weiter in Haft.
Die türkische Entscheidung strafe jeden Anspruch von Rechtsstaatlichkeit Lüge, so Thomas Avenarius (Sa-SZ) in einem separaten Kommentar. Doch die Türkei, als Mitglied des Europarats an die Urteile des EGMR gebunden, schere sich darum nicht. Der Fall um Osman Kavala, der seit vier Jahren ohne Urteil im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri sitze, sei schon längst keine innertürkische Angelegenheit mehr, meint Karen Krüger (Sa-FAZ). Er sei eine beispiellose Missachtung von Rechtsstaatlichkeit, mit der Staatspräsident Erdogan der ganzen Welt wieder einmal zeige, dass sein Wille in der Türkei über allem stehe.
Sonstiges
Bayerische Verfassung: Heribert Prantl (Sa-SZ) würdigt die Bayerische Verfassung, die dieser Tage 75 Jahre alt wird. Sie sei eine offensiv-demokratische Verfassung, sie traue dem Volk viel zu, auch plebiszitäre Gesetzgebung, schreibt Prantl begeistert. Diese Bayerische Verfassung spreche zwar teilweise eine etwas altbackene Sprache; sie sei aber keine Schuhplattler- und Lederhosen-Verfassung – sie habe Substanz und sie habe einen Gehalt, den die Politik allerdings zu wenig achte.
Höflichkeit vor Gericht: Dass Höflichkeit nicht nur eine Zier ist, wie eine Redewendung besagt, belegen die Gerichtsentscheidungen, die Martin Rath für LTO zusammengetragen hat und in denen es um Ansprüche auf höfliche Anrede zwischen Tradition und Moderne geht, beispielsweise bei der Bundeswehr.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/pf
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 27. bis 29. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 29.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46775 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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