29 Staatsrechtslehrer lehnen das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ab. LG Berlin verbietet grichtliche Verwertung von Encrochat-Daten. Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof hält Negativzinsen der EZB für verfassungswidrig.
Recht in der Welt
EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: 29 deutsche Staatsrechtslehrer wenden sich gegen das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission wegen des EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts gegen Deutschland eingeleitet hat. In einem Aufruf, der im FAZ-Einspruch erschienen ist, wird das Vorgehen der Kommission scharf kritisiert. Es lege die Axt an die Grundlagen der europäischen Integration, heißt es dort. Die EU-Kommission wird aufgefordert, das Vertragsverletzungsverfahren nicht zu betreiben. Halte die Kommission am Vertragsverletzungsverfahren fest, würden die Fliehkräfte der europäischen Integration in einer Zeit gestärkt, in der sich Europa gemeinsam bewähren müsse. Zu den Unterzeichnern gehören u.a. Christoph Degenhart, Otto Depenheuer, Josef Isensee, Stefan Korioth, Karl-Heinz Ladeur, Dietrich Murswiek, Martin Nettesheim, Christian Starck und Christian Waldhoff.
Rechtspolitik
NRW – Versammlungsgesetz: Mit dem geplanten neuen Versammlungsgesetz für Nordrhein-Westfalen setzt sich der wissenschaftliche Mitarbeiter Marius Kühne auf JuWissBlog kritisch auseinander. Die jetzt vorgeschlagenen Änderungen am ursprünglichen Vorschlag gingen zwar in die richtige Richtung, machten aus dem Entwurf, der zu Recht als "schärfer als in Bayern" betitelt worden sei, aber noch kein versammlungsfreundliches Gesetz.
Ökozid am IStGH: Mit dem Vorschlag, den Straftatenkatalog im Römischen Statut des Internationales Strafgerichtshofes um einen Tatbestand "Ökozid" zu erweitern, befasst sich kritisch Rechtsprofessor Kai Ambos im FAZ-Einspruch. Als "Ökozid" soll dabei die "Begehung von rechtswidrigen oder willkürlichen Handlungen in Kenntnis einer hohen Wahrscheinlichkeit dadurch verursachter ernsthafter und entweder weitverbreiteter oder langandauernder Umweltschäden" gelten. Ambos sieht begriffliche und dogmatische Schwächen in dem Vorstoß, der im Übrigen auch nur eine geringe Chance auf Annahme durch die IStGH-Vertragsstaaten haben dürfte. Wolle man gegen die Zerstörung der Umwelt mit den Mitteln auch des Völkerstrafrechts angehen, erschienen andere Wege erfolgsträchtiger.
Massentierhaltung: LTO berichtet über eine rechtliche Kurzstudie zur Massentierhaltung, die die Deutsche Umwelthilfe in Auftrag gegeben hat. Dabei wird festgestellt, dass die Entwicklung der rechtlichen Vorgaben in den letzten 15 Jahren eine einseitige Förderung der Massentierhaltung auf Kosten des Tier- und Umweltschutzes offenbare. Als Handlungsempfehlung aus der Studie fordert die DUH nun etwa eine Obergrenze von Tierbeständen in der Massentierhaltung. Hierdurch könnten Umwelt- und Tierschutzbelastungen und gesundheitliche Risiken deutlich gemindert werden.
Transsexuelle: Susan Vahabzadeh (Mo-SZ) schreibt im Feuilleton noch einmal über den Entwurf der Grünen für ein Selbstbestimmungsgesetz, das das bisherige Transsexuellengesetz ablösen soll. Der Vorschlag schieße über das Ziel hinaus, erklärt die Autorin: Er sehe vor, dass sich jeder und jede einfach als das eintragen dürfe, was er oder sie sein möchte, ohne Rückfragen. Der Vorschlag würde faktisch die Verknüpfung von Biologie und Geschlecht aufheben.
Justiz
LG Berlin zu Encrochat-Daten: Das Landgericht Berlin hat die gerichtliche Verwendung der gehackten Daten eines Encrochat-Handys untersagt und die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen 31-jährigen mutmaßlichen Drogendealer abgelehnt. Nach Ansicht des Gerichts sei die Polizei gegen den Beschuldigten nur vorgegangen, weil er ein Kryptohandy besaß, was aber noch keinen Tatverdacht auslöse. Nur auf dieser Grundlage hätten sie französische Fahnder mit dem Ausforschen des Encrochat-Nutzers beauftragt. Deshalb bestehe jetzt ein Verwertungsverbot für die so erlangten Daten. In Ermittlerkreisen sorge die Berliner Entscheidung für Fassungslosigkeit, weil sie weitreichende Folgen für eine Vielzahl weiterer Verfahren in Deutschland gegen mutmaßliche Mitglieder der organisierten Kriminalität haben könnte, heißt es auf spiegel.de (Jörg Diehl/Roman Lehberger).
OLG München – Rechtsterroristin Susanne G.: Im Strafprozess gegen die mutmaßlich rechtsterroristische Heilpraktikerin Susanne G. lädt das Gericht die verurteilten NSU-Helfer Ralf Wohlleben und André E. als Zeugen vor, berichtet spiegel.de. G. hatte beiden geschrieben und sie auch getroffen. In einem separaten Beitrag fasst spiegel.de (Wiebke Ramm) die Ermittlungsergebnisse und bisherigen Aussagen der Angeklagten zusammen.
KG Berlin – IS-Rückkehrerin Nadia B.: Die FAS (Julia Schaaf) widmet sich ausführlich der IS-Rückkehrerin Nadia B., deren Prozess derzeit vor dem Kammergericht Berlin läuft. Erstmals werde in diesem Verfahren auch das Schicksal der betroffenen Kinder verhandelt. Nadia B. hatte 2017 mit einem Baby, einem zweieinhalbjährigen Jungen und einer sechs Jahre alten Tochter das Herrschaftsgebiet der Terrormiliz Islamischer Staat verlassen.
OLG Celle zu Geschwindigkeits-Messgerät: Auch das Oberlandesgericht Celle hat laut LTO jetzt einen Bußgeldbescheid aufgehoben, weil eine Prüfung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt ergeben hat, dass das entsprechende Messgerät nicht hinreichend zuverlässig war. Die Sache wurde daher an das Amtsgericht Walsrode zurückverwiesen, wo jetzt mithilfe eines Sachverständigengutachtens genauer aufgeklärt werden muss, ob in diesem konkreten Einzelfall die ausgewiesene Geschwindigkeitsüberschreitung sicher festzustellen ist.
VGH BaWü zu Hausordnung in Asylheim: Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat die Normenkontrollklage von zwei Flüchtlingen gegen die Hausordnung der Landes-Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Freiburg teils als unzulässig beanstandet und im Übrigen eine einstweilige Anordnung abgelehnt. Die Eingriffe in die Privatsphäre seien vermutlich verhältnismäßig, weil sie auch dem Schutz der Flüchtlinge dienen, berichtet die Sa-BadZ (Christian Rath).
StA Regensburg – Missbrauchskomplex Münster: Im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal von Münster hat die Staatsanwaltschaft in Regensburg einen weiteren Tatverdächtigen festgenommen. Es liefen bislang Verfahren gegen etwa 50 Tatverdächtige, von denen rund 30 in Untersuchungshaft sitzen, teilt spiegel.de mit. Am Dienstag wolle das Landgericht Münster im Hauptprozess die Urteile verkünden.
LG Kiel – Wehrmachtspanzer et al.: Der Spiegel (Julia Jüttner/Sven Röbel u.a.) berichtet von dem Prozess vor dem Landgericht Kiel, in dem sich ein 84-jähriger Mann wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und weiterer waffenrechtlicher Verstöße verantworten muss. Ermittler hatten bei ihm unter anderem Maschinen- und Sturmgewehre, Pistolen, Handgranaten sowie mehr als 3500 Schuss Munition und in der Garage sogar einen Panzerkampfwagen der Wehrmacht gefunden. Wegen des Alters des Angeklagten strebe sein Anwalt eine einvernehmliche Lösung mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht an, heißt es im Text.
Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen: Weniger als ein Prozent der in der Bundesrepublik ergangenen Gerichtsentscheidungen werde veröffentlicht. Der wissenschaftlichen Mitarbeiter Hanjo Hamann fasst auf LTO eine entsprechende eigene Studie zusammen. Diese 99-prozentige Intransparenz der deutschen Rechtsprechung sei vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen: Zum einen behaupteten Gerichte häufig, dass sie Entscheidungen aus Datenschutzgründen nur anonymisiert herausgeben dürften – was prohibitiven Aufwand verursache und daneben beriefen sich Gerichte immer wieder auf eine fehlende "Veröffentlichungswürdigkeit.
Recht in der Welt
USA – Todesstrafe: Die Vollstreckung von Todesstrafen wird in den USA auf Bundesebene vorerst ausgesetzt. Das melden LTO und spiegel.de. Der amerikanische Justizminister Merrick Garland habe angeordnet, die von der Trump-Regierung durchgesetzten Veränderungen der Richtlinien für Hinrichtungen zu überprüfen. Der früheren Präsident hatte nach einer fast zwanzigjährigen Pause die Vollstreckung von Hinrichtungen auf Bundesebene wieder einführen lassen.
USA – Supreme Court: Durch die Neubesetzungen des früheren US-Präsidenten hat sich die ideologische Linie am US Supreme Court nach rechts verschoben, analysiert zeit.de (Rieke Havertz). Das oberste Gericht der USA könnte in den kommenden Jahren zu dem Ort werden, von dem aus die Gesellschaft viel stärker beeinflusst werde als aus dem Kapitol oder dem Weißen Haus. Jüngst beispielsweise habe das Gericht eine Wahlrechtsverschärfung in Arizona für zulässig erklärt.
USA – Sexualstraftaten beim Militär: Mutmaßliche Fälle sexueller Übergriffe, häuslicher Gewalt und von Kindesmissbrauch innerhalb des US-Militärs sollen künftig unabhängig untersucht und geahndet werden, schreibt spiegel.de (Lisa Duhm). Laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sollen die Ermittlungen außerhalb der regulären Befehlskette von neuen und spezialisierten Staatsanwaltschaften geführt werden.
Frankreich – Klimaklage: Erneut hat Frankreichs höchstes Verwaltungsgericht zugunsten einer Klimaklage entschieden. Der Doktorand Nathan de Arriba-Sellier analysiert im Verfassungsblog (in englischer Sprache) das Urteil.
Niederlande – Ridouan Taghi: Die Sa-FAZ (David Klaubert) berichtet in einem ganzseitigen Beitrag über einen der größten Prozesse zur organisierten Kriminalität in den Niederlanden. Ridouan Taghi muss sich gemeinsam mit 16 anderen Angeklagten u.a. für mehrere Morde und Drogenhandels rechtfertigen. Auf die Schliche sind die Ermittler den Verdächtigen u.a. auch dadurch gekommen, dass sie Kryptohandys und darauf befindliche Chats entschlüsselt hatte.
Chile – Verfassungskonvent: Über die neue chilenische verfassungsgebende Versammlung, die am Sonntag zum ersten Mal getagt hat, schreibt die Sa-taz (Sophia Boddenberg). Die neue Verfassung, die 2022 in einer Abstimmung bestätigt werden soll, will dem Erbe der Pinochet-Diktatur ein Ende setzen. Die 155 Sitze in dem Konvent teilen sich Männer und Frauen zu gleichen Teilen, 17 Sitze sind für die indigene Bevölkerung reserviert.
Sonstiges
Negativzinsen: Der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hält in einem Rechtgutachten für die Sparda-Banken die Negativzinsen der Europäischen Zentralbank für verfassungs- und europarechtswidrig. Mit dem Negativzins werde der Sparer enteignet, obwohl der Staat prinzipiell nicht auf Privateigentum zugreifen dürfe, sagt Kirchhof im Interview mit der Sa-Welt (Dagmar Rosenfeld/Dorothea Siems). Weil der EuGH nicht einschreite, müsse jetzt das Bundesverfassungsgericht ein Stoppschild aufstellen.
"Investigative Commons": In der Mo-SZ (Jörg Häntzschel) wird das Recherchezentrum "Investigative Commons" vorgestellt, eine Kooperation zwischen der Rechercheagentur "Forensic Architecture" und dem European Center für Constitutional and Human Rights (ECCHR), die künftig Menschenrechtsverletzungen weltweit aufdecken soll.
Munich Teen Court: Die Mo-SZ (Jochim Mölter) stellt das Projekt "Munich Teen Court" vor. Das Schülergericht tagt seit diesem Schuljahr in München, beteiligt sind die Jugendhilfe-Organisation "Brücke", die Staatsanwaltschaft München I und bislang vier Kooperationsschulen. Es sei nicht das geeignete Verfahren für schwere Straftaten, sagte Justizminister Georg Eisenreich (CSU) bei der Vorstellung des Projektes, sondern eher für jugendtypische Fälle wie Diebstahl, Schwarzfahren, Sachbeschädigungen, Beleidigungen oder Bedrohungen. Das erste bayerische Schülergericht wurde bereits vor 20 Jahren in Aschaffenburg eingerichtet, im Lauf der Zeit kamen elf weitere Städte in Bayern dazu.
Konzernjuristen und Homeoffice: Die Mo-FAZ (Marcus Jung) berichtet über eine Umfrage unter Konzernjuristen zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsorganisation. Mobiles Arbeiten und ein noch stärkerer Einsatz von Technologie werden den Arbeitsalltag bestimmen, erklärten laut FAZ die befragten Unternehmensjuristen. Mehr als 80 Prozent von ihnen seien davon überzeugt, dass das Gros ihrer Mitarbeiter nie wieder vollständig an den festen Büroarbeitsplatz in der Rechtsabteilung zurückkehren werde.
Preis für RAin Basay-Yildiz: Für ihren Umgang mit den rechtsterroristischen Drohungen nach ihrem Eintreten als Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess hat Seda Basay-Yildiz den Ludwig-Beck-Preis der Stadt Wiesbaden erhalten, berichtet LTO. Sie hatte im Münchner NSU-Prozess als Nebenklageanwältin Angehörige der Opfer der rechtsextremen Terrorzelle NSU vertreten und in der Folge vom selbstbenannten "NSU 2.0" Drohschreiben erhalten.
Berufsbild Notarin: Im Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) berichten Nina Hoischen, Hauptgeschäftsführerin der Bundesnotarkammer, und Lisa M. Sönnichsen, Notarin in Hamburg, vom Arbeitsalltag in einem Notariat und warum es wünschenswert wäre, dass sich mehr Frauen für den Beruf entscheiden.
Rechtsgeschichte – RG vor 100 Jahren: Mit mehreren Entscheidungen des Reichsgerichtes, in denen es um das damalige Frauenbild, um den damaligen Gotteslästerungsparagrafen und um einen Schadensersatzanspruch für geplünderte Waren geht, befasst sich Martin Rath auf LTO.
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lto/pf
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Die juristische Presseschau vom 3. bis 5. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45378 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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