Die juristische Presseschau vom 6. bis 8. Juli 2019: Amts­ge­richt Kassel zu § 219a StGB / Neue Ände­rung der "Miet­p­reis­b­remse"? / Ab­schie­bungen und Fami­li­en­zu­sam­men­halt

08.07.2019

AG Kassel stellt Verfahren zu § 219a StGB ein. Außerdem in der Presseschau: Neue Bundesjustizministerin will die Mietpreisregulierung erneut ändern und laut BVerwG muss bei Abschiebungen auch die Familiensituation berücksichtigt werden.

Thema des Tages

AG Kassel zu § 219a StGB: Ein Verfahren vor dem Amtsgericht Kassel gegen zwei Kasseler Ärztinnen, denen der Verstoß gegen das Verbot, für Abtreibungen zu werben, vorgeworfen wurde, wurde nach § 206b Strafprozessordnung (StPO) eingestellt. Das berichtet die Mo-taz (Patricia Hecht). Zwar sei die den Angeklagten zur Last gelegte Tat "nach bisherigem Recht" strafbar gewesen, so das Amtsgericht Kassel. Nach neuem Recht sei aber "keine Strafbarkeit mehr gegeben".

In ihrem separaten Kommentar kritisiert Patricia Hecht (Mo-taz) trotz des Verfahrensendes die Neuregelung des § 219a Strafgesetzbuch (StGB), die im Februar verabschiedet wurde. Die Reform habe weder dazu geführt, dass Ärzte verstünden, ob und in welcher Form sie auf ihren Websites darüber informieren dürften, dass sie Abbrüche anböten. Noch habe sie dazu geführt, dass Gerichte einheitlich über diesen Umstand urteilten. Weiterhin habe nicht sie dazu geführt, dass Frauen Zugang zu Informationen erhielten, die in Notlagen, wie ungewollten Schwangerschaften, dringend nötig seien.

Rechtspolitik

Mietrecht u.a. – Interview mit Bundesjustizministerin Lambrecht: In einem Interview mit der Berliner Morgenpost (Tim Braune/Jochen Gaugele) spricht die neue Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) u.a über ihre Pläne, die sogenannte Mietpreisbremse zu verschärfen. Bis Ende des Sommers will sie einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen, nach dem beispielsweise Mieter, die seit Mietbeginn zu viel gezahlte Miete zurückverlangen können. Sie meint auch, dass, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien, eine Enteignung privater Wohnungsgesellschaften ein geeignetes Mittel sein könne. Außerdem äußert sich Lambrecht über die jüngst verabschiedeten Neuregelungen zum Asyl- und Zuwanderungsrecht.

Cyberkriminalität: Gegen die Pläne von Bundeinnenminister Horst Seehofer (CSU), jene zu bestrafen, die den Zugang zum Darknet ermöglichen, wendet sich der Geschäftsführer des Vereins Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, in der Mo-taz. Er meint, dass Seehofer, statt auf diese Weise Organisationen wie Reporter ohne Grenzen zu kriminalisieren, im Zeitalter zunehmender Überwachung Angebote wie das Tor-Project stärken sollte.

Unternehmenssanktionsrecht: Die Sa-FAZ (Hendrik Wieduwilt) widmet sich dem vom Bundesjustizministerium seit langem angekündigtem Entwurf für ein Unternehmenssanktionsrecht. An die Stelle des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht solle einerseits das Legalitätsprinzip treten, auf der anderen Seite sollten Unternehmen für interne Aufklärung eines Skandals belohnt und insoweit Regeln geschaffen werden.

Staatsbürgerschaftsrecht: Bettina Gaus (Sa-taz) kritisiert die unlängst verabschiedeten Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht, die erlauben, dass Mitgliedern von terroristischen Vereinigungen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, wenn sie noch über eine weitere verfügen. Außerdem wird eine Einbürgerung von einer "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" abhängig gemacht. Viele Abgeordnete aus den Koalitionsfraktionen hätten, vermutet Gaus, die kommenden Landtagswahlen fest im Blick gehabt, als sie die Neuregelungen durchwinkten, und ärgert sich, dass sich wohl immer noch nicht herumgesprochen habe, dass ein Augenzwinkern hin zum rechten Rand diesen allenfalls stärke und nicht etwa schwäche.

EU – Spitzenkandidatenmodell: Auf verfassungsblog.de erklärt der Sozialwissenschaftler Klaus Bachmann, warum das Spitzenkandidatenmodell die großen Mitgliedstaaten bevorteilt und das europäische verfassungsrechtliche Gleichgewicht untergräbt.

Justiz

BGH zur Deutschen Umwelthilfe: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Abmahnpraxis der Deutschen Umwelthilfe (DUH) nicht rechtsmissbräuchlich ist. Die Sa-SZ (Anika Blatz/Jan Bielicki) beantwortet Fragen zur DUH und deren Befugnis, gegen bestimmte Rechtsverstöße vorzugehen. Die FAS (Corinna Budras) erläutert, wie die DUH erfolgreich geworden ist und wie die Kritiker, denen es eigentlich um die Fahrverbote geht, die der Verband durchsetzt, dagegen vorgehen.

BGH zu Besetzung von Notarstellen: Der Bundesgerichtshof hat laut lto.de (Maximilian Amos) dem Land Baden-Württemberg recht gegeben, das einen Bewerber um eine Notarstelle mit Hinweis auf seine zu schlechten Examensnoten abgelehnt hatte. Das gilt auch, wenn ein Auswahlverfahren abgebrochen und zwei der ursprünglich ausgeschriebenen Stellen nicht besetzt wurden. Die Examensnote des Kandidaten sei ein sachlicher Grund gewesen, die Stelle nicht mit ihm zu besetzen, befand der Senat.

BVerwG zur Abschiebung von Familienmitgliedern: Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass bei einer Abschiebung auch die familiäre Situation zu berücksichtigen ist. Im zugrunde liegenden Fall sollte ein afghanischer Familienvater abgeschoben werden, während für Frau und Kinder ein Abschiebestopp festgestellt wurde. Der Rechtswissenschaftler Constantin Hruschka erläutert die Entscheidung auf lto.

BGH zur Haftung bei Bombenexplosion: Der Bundesgerichtshof hat laut einer Meldung von lto.de entschieden, dass ein Recyclingunternehmen nicht für die Schäden haften muss, die durch die Explosion einer Weltkriegsbombe beim Zerkleinern von Bauschutt entstanden sind. Geklagt hatten Versicherer der Nachbargebäude des betroffenen Recyclinghofes. Sie hatten Regress in Höhe von mehr als einer Million Euro verlangt. Bei ganz normalem Bauschutt müsse aber nicht damit gerechnet werden, dass ein größeres Betonstück eine Bombe enthalte, meinte der BGH.

BGH – Bäume auf Nachbargrundstück: Der Bundesgerichtshof befasst sich derzeit mit der Forderung eines Grundstückseigentümers, der drei Birken vom Nachbargrundstück entfernt haben will. Die Sa-SZ (Wolfgang Janisch) stellt den Sachverhalt dar und schaut sich einige weitere Fälle an, in denen Gerichte sich mit unerwünschtem Baumwuchs befasst haben.

OLG Stuttgart zu IS-Rückkehrerin: Das Oberlandesgericht Stuttgart hat laut Sa-SZ eine Deutsche, die vier Jahre im Irak und in Syrien lebte, mit einem IS-Kämpfer verheiratet war und im Internet auch für die Terrormiliz geworben hatte, wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Auch die Sa-Welt (Ibrahim Naber) berichtet über den Prozess und das Urteil.

OLG München – Verfahren Jennifer W.: Vor dem Oberlandesgericht München muss sich die 28-jährige Jennifer W. verantworten, der vorgeworfen wird, sie habe als Ehefrau eines IS-Kämpfers ein fünfjähriges Mädchen verdursten lassen. Insgesamt wird gegen Jennifer W. wegen Mordes durch Unterlassen, Beteiligung an Kriegsverbrechen und Sklavenhaltung verhandelt. Über den Prozess berichten die Sa-SZ (Annette Ramelsberger) und spiegel.de.

OVG Niedersachsen zum Streckenradar: Für das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bietet das neue Landespolizeigesetz jetzt eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Geschwindigkeitsüberwachung mittels Streckenradaranlage. Der Testbetrieb des Streckenradars hatte im Januar begonnen und wurde dann im März vom Verwaltungsgericht zunächst gestoppt. Auf lto.de heißt es, dass es jetzt allerdings nur um eine vorläufige Entscheidung gehe. Endgültig wird über die Rechtmäßigkeit des Messverfahrens erst im anhängigen Hauptsacheverfahren befunden.

LG München I zu Twittersperrungen: lto.de meldet, dass das Landgericht München I im Juni in einer einstweiligen Verfügung dem Kurznachrichtendienst Twitter untersagt hat, einen satirischen Tweet zur Europawahl zu löschen und den Urheber zu sperren. Es handelte sich um einen Tweet des Romanautors und Kolumnisten Tom Hillenbrand. Twitter müsse bei Zuwiderhandlung gegen die Verfügung ein Ordnungsgeld von einer Viertelmillion Euro zahlen.

LG Bonn zum Mord in Obdachlosenunterkunft: Das Landgericht Bonn hat den Mörder der 17-jährigen Elma C., die im vergangenen Jahr tot in einer Obdachlosenunterkunft aufgefunden wurde, zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt. Erst im Laufe des Verfahrens habe sich überraschend herausgestellt, dass der Verdächtige zur Tatzeit nicht, wie ursprünglich angegeben, 19 Jahre, sondern erst 17 Jahre alt war. Die Sa-SZ (Jana Stegemann) berichtet über das Verfahren und die Entscheidung.

LG Göttingen – Mordprozess Holger S.: Der Spiegel (Julia Jüttner) berichtet ausführlich über den Prozess gegen Holger S., dem vorgeworfen wird, seine Mutter im Streit erschlagen und dann einbetoniert zu haben.

Recht in der Welt

USA – Roe vs. Wade: Mit der Wahrscheinlichkeit, dass das Recht auf Abtreibung, das sich auf die Entscheidung Roe vs. Wade aus dem Jahr 1973 stützt, durch einen konservativ besetzten Obersten Gerichtshof außer Geltung gesetzt werden könnte, befasst sich der Rechtswissenschaftler Davide Paris auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache).

Juristenausbildung

Erfolg als Rechtsanwalt: Rechtsanwalt Tobias Witte gibt auf lto.de Tipps für den Erfolg als Rechtsanwalt. Das Studium sei nicht auf diesen Beruf zugeschnitten, obwohl die meisten Absolventen später in der Anwaltschaft arbeiteten. Es gelte, die eigene Anwaltspersönlichkeit herauszuarbeiten und stets weiter zu wachsen.

Sonstiges

Cannabisanbau: Wie sich das vor zwei Jahren verabschiedete Cannabis-Gesetz in der Praxis auswirkt, beleuchten die Rechtsanwälte Gunnar Sachs und Ann-Cathrin Bergstedt auf lto.de. Cannabishaltige Gesundheitsprodukte erfreuten sich immer größerer Beliebtheit. Derzeit bestünden für die Anbieter aber erhebliche rechtliche Unsicherheiten. Aufgrund der wachsenden Nachfrage werde deshalb bald sowohl mit gesetzgeberischen Reaktionen als auch mit behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen zu rechnen sein, die mehr Klarheit bringen dürften.

Pressearbeit der AfD: Die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven stellt im FAZ-Einspruch ihre gemeinsam mit dem Medienrechtler Thomas Hestermann veröffentlichte Studie zur Pressearbeit der AfD vor. Dafür wurden 242 Pressemitteilungen der AfD, die sich im Jahr 2018 mit Kriminalität beschäftigten, analysiert. Hoven und Hestermann sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschen, die sich in den Kommunikationsblasen der AfD bewegten, den Eindruck bekommen müssten, dass Deutschland von kriminellen Zuwanderern überrannt werde. Dass in einem solchen Klima Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit entstünden, sei wenig verwunderlich. Medien, Politik und Wissenschaft müssten hier vermitteln, dass die von der AfD thematisierten Kriminalitätsprobleme zwar im Ansatz existierten, die Partei sie allerdings aus politisch-taktischen Gründen verzerre und dramatisiere.

Staatsschutz vs. Grundrechtsschutz: Heribert Prantl (Sa-SZ) plädiert für einen Prioritätenwechsel zwischen dem Schutz des Staates und der öffentlichen Ordnung einerseits und dem Schutz der individuellen Grundrechte andererseits im Strafgesetzbuch. Der Staat sei dafür da, die Grundrechte der Menschen zu schützen und mit diesem Obersatz gehöre das Strafgesetzbuch entrümpelt, so Prantl.

Kampf gegen Internethetze: Wie Hessen seine Anstrengungen bei der Aufklärung von Hasskommentaren im Zusammenhang mit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verstärken will, beschreibt die Sa-FAZ (Julian Staib). So soll innerhalb der Sonderkommission des Landeskriminalamts eine Arbeitsgruppe zu dem Fall entsprechende Kommentare im Netz sichten und auf strafrechtliche Relevanz prüfen.

Reinhard Müller (Sa-FAZ) begrüßt, dass immer mehr Bundesländer endlich das Legalitätsprinzip durchsetzten, also Straftaten verfolgten. Der Staat müsse hier schlicht sein Versprechen einlösen, dass das Recht überall und für jeden gelte. Johannes Boie (WamS) hofft, dass die Aufstockung in Hessen nur der erste Schritt ist. Gehe es weiter in diese Richtung, könnte der Staat die Regulierung des öffentlichen Raums von Facebook und anderen Plattformen zurückerobern.

Postkolonialismus und Völkerrecht: Martin Rath stellt auf lto.de die 2018 erschienene Dissertation von Anna Krueger "Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht" vor.

 

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lto/pf

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 6. bis 8. Juli 2019: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36339 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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