Zwei Bundestagspräsidenten - Lammert und Schäuble - sind beim Thema Wahlrechtsreform bereits an der Sturheit der Fraktionen gescheitert. Nun soll es der Koalitionsausschuss richten. Doch selbst das wäre erst die halbe Miete.
Seit Jahren wird in Berlin über eine Wahlrechtsreform diskutiert, um ein weiteres Anwachsen des Bundestags zu verhindern. Mit 709 Abgeordneten ist er jetzt schon so groß wie nie zuvor. Passiert ist bislang allerdings so gut wie nichts. Selbst CDU/CSU und SPD konnten sich nicht auf ein gemeinsames Modell verständigen. Zeitlich wird es langsam eng. Sehr eng. Wenn die Spitzen von Union und SPD an diesem Dienstag im Koalitionsausschuss über die Wahlrechtsreform beraten, stehen sie unter hohem Einigungsdruck. Denn in ziemlich genau einem Jahr soll der nächste Bundestag gewählt werden. Und etwa ein Jahr davor sollten die Regeln für die Wahl feststehen. So hat es die Venedig-Kommission des Europarats in einem Verhaltenskodex festgelegt.
Vor den Beratungen der Koalitionsspitzen über eine Wahlrechtsreform hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine Einigung angemahnt. "Die Änderung des Wahlrechts ist noch möglich, und sie ist überfällig", sagte er der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Berlin. "Die Vorschläge liegen alle auf dem Tisch. Es liegt in der Verantwortung der Fraktionen, jetzt endlich einen Kompromiss zu finden, der dann auch von der vom Bundesverfassungsgericht geforderten breiten Mehrheit im Bundestag getragen wird." Der CDU-Politiker betonte: "Es geht hier um die Handlungsfähigkeit des Parlaments und damit um das Vertrauen der Bürger in unsere parlamentarische Demokratie."
Die Union geht nun wie die SPD mit einem eigenen Gesetzentwurf in die Verhandlungen. Die SPD hatte bereits früher einen Entwurf gegen eine weitere Vergrößerung der Zahl der Abgeordneten vorgelegt und bis zuletzt beklagt, CDU/CSU hätten ihrerseits keinen ausformulierten Vorschlag. Am vergangenen Wochenende übermittelte nunmehr die Union der SPD ihren Gesetzentwurf. Am Montag gab es weitere Beratungen auf Expertenebene. Die Vorschläge sind aber so verschieden, dass nicht ersichtlich ist, wo die Kompromisslinie verlaufen könnte. Jeder Koalitionspartner lehnt das Modell des anderen entschieden ab.
Modelle der Koalitionspartner grundlegend verschieden
Nach zähem Ringen einigte sich die Unionsfraktion auf ein Modell, das möglichst schon für die kommende Bundestagswahl eine leichte Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 280 vorsieht. Bis zu sieben Überhangmandate sollen nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Zudem soll es Einschnitte bei der abhängig von der Einwohnerzahl vorab festgelegten Mindestsitzzahl für die Bundesländer und die Parteien dort geben. Denn im Ergebnis führt diese Regelungen zu weiteren Ausgleichsmandaten. Die Union hält dies nach den Worten ihres Wahlrechtsexperten, Ansgar Heveling MdB, für einen "sehr ausgewogenen Vorschlag".
Die SPD sieht dies ganz anders. Sie lehnt das Unionsmodell ab und macht sich stattdessen für ein zweistufiges Vorgehen stark. Für die kommende Bundestagswahl soll die Zahl der Sitze bei 690 gedeckelt werden. Darüber hinaus gehende Überhangmandate sollen nicht mehr zugeteilt werden. Das würde Wahlkreissieger mit schwachem Erststimmergebnis treffen. Sie hätten dann zwar ein Direktmandat errungen, bekämen es aber nicht. Vorgesehen ist zudem, zur Wahl nur Parteien zuzulassen, deren Landeslisten paritätisch abwechselnd mit einer Frau und einem Mann besetzt sind. In einem zweiten Schritt will die SPD dann eine Kommission für eine grundlegende Reform des Wahlrechts einsetzen.
"Es ist ein Armutszeugnis, was Union und SPD beim Wahlrecht aufführen", beklagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der grünen Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann MdB, vor der Sitzung des Koalitionsausschusses gegenüber dpa. "Während uns für eine Reform die Zeit davonläuft, haben sie nichts Besseres zu tun als öffentlich weiterhin auf ihre eigenen Positionen zu beharren."
Was ist mit dem Vorschlag der Opposition?
Stattdessen sollten Union und SPD mit den demokratischen Oppositionsfraktionen eine Verständigung auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechts erzielen, forderte Haßelmann. "Falls CDU, CSU und SPD dazu die Kraft fehlt, sollten sie die Abstimmung über den vorliegenden Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken nicht länger blockieren und die Abstimmung darüber freigeben. Er ist verfassungskonform, fair und noch umsetzbar."
Die drei Oppositionsparteien hatten als Erste einen konkreten, gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser wurde bereits in erster Lesung im Bundestag beraten. Auch die erforderlichen Ausschussberatungen haben schon stattgefunden. Eine abschließende Beratung und Abstimmung im Plenum verhinderten Union und SPD in der letzten Sitzung des Bundestags vor der Sommerpause aber mit ihrer Mehrheit.
FDP, Grüne und Linke wollen die Zahl der Wahlkreise auf 250 reduzieren. Die Sollgröße des Parlaments soll sich von derzeit 598 Sitzen leicht auf 630 erhöhen. Das Mindestsitzzahlverfahren wollen sie abschaffen.
Wahlrecht sollte breite Mehrheit erreichen
Die AfD hingegen hat einen eigenen Vorschlag präsentiert. Sie will die Zahl der Wahlkreise bei 299 belassen. Die Regelgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten soll nicht überschritten werden. Es soll sichergestellt werden, dass eine Partei in einem Bundesland höchstens so viele Direktmandate erhält, wie es ihrem Zweitstimmenanteil in diesem Land entspricht.
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, verlangte eine schnelle Einigung in der Koalition, die dann auf die Opposition zugehen müsse. "Es reicht ja beim Wahlrecht nicht, dass sich die große Koalition auf irgendetwas einigt", sagte er der dpa. "Man kann natürlich eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit durchdrücken."
Aber: "Es war über Jahrzehnte immer gute Sitte und in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auch durch das Grundgesetz (GG) so gewünscht, das Wahlrecht mit möglichst breiten Mehrheiten zu verabschieden. Denn das ist ein Hinweis auf Wettbewerbsneutralität und Fairness."
Die Wahlrechtsreform soll verhindern, dass der Bundestag bei der Wahl im Herbst 2021 nochmals größer wird. Mit 709 Abgeordneten hat er schon jetzt ein Rekordausmaß erreicht. Die Normgröße sind 598 Abgeordnete. Ohne eine Reform wird ein weiteres Anwachsen auf möglicherweise mehr als 800 Abgeordnete befürchtet.
dpa/mgö/LTO-Redaktion
Koalitionsausschuss: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42593 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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