Die Abschiebung eines alleinstehenden, arbeitsfähigen Mannes afghanischer Nationalität nach Kabul ist nicht allein schon wegen der Risiken verboten, die sich für ihn aus der dortigen Sicherheits- und Versorgungslage ergeben. Bei Fahnenflucht aus einem Ausbildungslager der Taliban könne aber die konkrete Gefahr unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung bestehen und ein Abschiebungsverbot begründen, entschied der VGH in am Mittwoch bekannt gewordenen Urteilen.
Die Entscheidungen betrafen zwei Asylverfahren afghanischer Staatsangehöriger. Damit hatten Berufungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gegen Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, die die Behörde zur Feststellung von Abschiebungsverboten verpflichteten, teilweise Erfolg (Urt. v. 06.03.2012, Az. A 11 S 3177/11 und A 11 S 3070/11).
Der VGH stellt im Verfahren des ersten, aus Kabul stammenden Klägers fest, dass derzeit weder EU-Recht noch nationales Recht seine Abschiebung nach Kabul allein wegen der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan verbieten. Leben und Unversehrtheit einer Zivilperson seien in Kabul nicht im Sinne des EU-Rechts infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ernsthaft individuell bedroht. Die Sicherheitslage in Kabul werde, abgesehen von einigen spektakulären, primär auf "prominente Ziele" gerichteten Anschlägen, relativ einheitlich als stabil und deutlich ruhiger als noch vor etwa zwei Jahren bewertet.
Jedenfalls resultiere aus solchen Anschlägen für Rückkehrer keine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben infolge willkürlicher Gewalt. Für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige bestehe bei einer Rückkehr nach Kabul aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan auch kein Abschiebungsverbot nach nationalem Recht. Dies erfordere nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine extreme Gefahr für Leib und Leben dergestalt, dass der Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde.
Das sei trotz der äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan nicht der Fall. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass gesunde, ledige Männer afghanischer Herkunft ohne eigenes Vermögen oder lokale Familien- bzw. Stammesstrukturen nach einer Abschiebung in Kabul alsbald dem Tod oder schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt wären. Der Senat schließe sich insoweit der Rechtsprechung anderer Obergerichte an.
Beim zweiten Kläger, einem aus der Provinz Ghazni stammenden afghanischen Staatsangehörigen, bestehe dagegen ein Abschiebungsverbot nach EU-Recht. Dieser Kläger sei wegen seiner glaubhaften Flucht aus einem Ausbildungslager der Taliban bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung durch die Taliban bedroht. Die Taliban seien als nichtstaatlicher Akteur im Sinne der europarechtlichen Vorschriften zum Abschiebungsschutz anzusehen, gegen den weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen in der Lage seien, hinreichenden Schutz zu bieten. Wie spektakuläre Anschläge der letzten Zeit illustrierten, reiche der offenbar gut organisierte und bis in staatliche Strukturen hineinreichende Arm der Taliban auch heute bis nach Kabul.
tko/LTO-Redaktion
VGH Baden-Württemberg zu Asylverfahren: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5829 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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