Brustimplantate-Skandal: Fran­zö­si­sches Gericht ver­ur­teilt TÜV zu Scha­dens­er­satz

12.02.2021

Silikonkissen, die aufreißen: ein Horror-Szenario für Frauen mit Brustimplantaten. Seit Jahren schon kämpfen sich die Opfer durch alle Instanzen. Ein Hersteller hatte Billigsilikon verwendet. Im Fokus steht auch der TÜV Rheinland.

Im Skandal um minderwertige Brustimplantate hat ein französisches Berufungsgericht den TÜV Rheinland zur Zahlung von Schadensersatz in Millionenhöhe verurteilt. Der TÜV Rheinland habe bei der Zertifizierung der Produktion des Herstellers Poly Implant Prothèse (PIP) seine Pflichten verletzt, teilte das Berufungsgericht in Aix-en-Provence am Donnerstag mit. Damit bestätigt das Gericht vorangegangene Entscheidungen des Handelsgerichts von Toulon, wonach der TÜV haftbar ist. Der TÜV kündigte an, eine Berufung beim Kassationshof zu prüfen. Aus Sicht von Opfern ist das Urteil wegweisend.

Der inzwischen insolvente Hersteller PIP hatte jahrelang billiges Industriesilikon für seine Implantate verwendet. Die reißanfälligen Implantate könnten Schätzungen zufolge weltweit bei Hunderttausenden Frauen eingesetzt worden sein. Betroffen sind auch Frauen aus Deutschland. Die Opfer berichteten etwa von Silikonkissen, aus denen das Gel herausgesickert sei. Der TÜV Rheinland hatte das Qualitätssicherungsverfahren von PIP zertifiziert. Die Klägerinnen werfen ihm deshalb Schlamperei vor. Das Unternehmen sieht sich dagegen selbst als Opfer der Täuschung von PIP.

Das Handelsgericht in Toulon hatte 2017 den TÜV Rheinland zur Zahlung von etwa 60 Millionen Euro Schadensersatz an rund 20.000 Klägerinnen verurteilt. Gegen die Entscheidung ging der TÜV Rheinland in Berufung. Er musste den Frauen damals bereits vorläufig den Schadensersatz von etwa 3.000 Euro zahlen. Das Berufungsgericht erklärte nun allerdings 6.205 Klagen für unzulässig, da anhand der eingereichten Unterlagen nicht sichergestellt werden könne, dass die Klägerinnen das vom TÜV zertifizierte Modell trugen. Den anderen 13.456 Klägerinnen sprach das Gericht Schadensersatz zu.

TÜV hätte Materialien überprüfen müssen

Nach Angaben des Gerichts in Aix-en-Provence handelt es sich bei der aktuellen Entscheidung um die erste Anerkennung der Haftung des TÜV im PIP-Fall durch ein Berufungsgericht. Für Opferanwalt Olivier Aumaître ebnet diese Entscheidung den Weg zur Entschädigung für Opfer aus aller Welt. "Es ist ein entscheidender Sieg nach zehn Jahren juristischen Kampfs im Dienste der Opfer", hieß es in einer Mitteilung des Opferverbands PIPA World.

Das Berufungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass der TÜV Rheinland nach der europäischen Verordnung über Medizinprodukte verpflichtet gewesen wäre, die Herkunft der verwendeten Materialien zu überprüfen. Dazu hätten die Lagerbücher des Herstellers PIP untersucht werden müssen. Eine solche Kontrolle hätte es dem TÜV und seinem französischen Unterauftragnehmer ermöglicht, die Diskrepanz zwischen der Menge des vom einzigen zugelassenen Lieferanten bezogenen Gels und der Anzahl der hergestellten Brustprothesen festzustellen, so das Gericht. Diese Feststellung hätte unangekündigte Kontrollen zur Folge haben müssen. 

Der TÜV argumentiert hingegen, dass er den Anforderungen der entsprechenden EU-Verordnung nachgekommen sei. "TÜV Rheinland teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts Aix-en-Provence", reagierte die Anwältin von TÜV Rheinland, Christelle Coslin, laut Mitteilung. Der TÜV habe stets verantwortungsvoll und im Einklang mit allen geltenden Vorschriften gearbeitet. TÜV Rheinland ist ein unabhängiger Prüfdienstleister. Weltweit sind dort mehr als 20.000 Menschen beschäftigt.

Gegen den TÜV Rheinland laufen in Frankreich mehrere Verfahren – das aktuelle in Aix-en-Provence ist das größte. In einem anderen Verfahren mit rund 400 Klägerinnen hatte das Berufungsgericht von Versailles eine Haftung des TÜV zuletzt verneint, wie dieser mitgeteilt hatte. In einem weiteren Verfahren mit rund 2.000 Klägerinnen wird eine Entscheidung im Mai erwartet. Auch in Toulon läuft noch ein Verfahren, in dem im Sommer ein Urteil fallen soll.

Der PIP-Skandal beschäftigte auch schon deutsche Gerichte und den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte die Luxemburger Richter bereits 2015 befragt, ob der TÜV Rheinland, der für die Überwachung des französischen Implantate-Herstellers zuständig war, für die fehlerhaften Silikonimplantate haften könnte. Der EuGH bejahte das zwar im Grundsatz, später verneinte der BGH jedoch eine Pflichtverletzung des TÜV.

dpa/acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Brustimplantate-Skandal: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44254 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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