Kanada und die Niederlande brachten die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Syrien vor den IGH. Obwohl sich der Staat gar nicht dessen Gerichtsbarkeit unterworfen hat, muss er der Anordnung aus Den Haag nun Folge leisten.
Mit aller Macht geht der syrische Machthaber Baschar al-Assad gegen seine politischen Gegner und deren Familien vor: Mit willkürlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen will er sie einschüchtern und bestrafen. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind seit Kriegsbeginn vor zwölf Jahren mehr als 600.000 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 130.000 Menschen gelten als vermisst. Für diese Verbrechen musste sich Syrien jetzt erstmals vor einem internationalen Gericht verantworten.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am Donnerstag in einem Eilverfahren angeordnet, dass Syrien sofort alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um die systematische Staatsfolter, die willkürlichen Verhaftungen und schweren Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Außerdem dürfe Syrien keine Beweise für diese Taten vernichten, so der IGH. Die Entscheidung erging mit 13:2 Stimmen. Dagegen stimmten der russische Richter und IGH-Vizepräsident Kirill Gorazijewitsch Geworgjan und die chinesische Richterin Xue Hanqin.
Kanada und die Niederlande hatten das Verfahren angestrengt. Beide Staaten hatten an der mündlichen Verhandlung im Oktober teilgenommen – im Gegensatz zur syrischen Delegation. Ursprünglich sollte diese schon Ende Juli stattfinden, Syrien hatte jedoch kurzfristig um eine Verlegung gebeten. Der IGH kann jedoch auch völkerrechtlich verbindliche Entscheidungen treffen, wenn die beklagte Partei nicht erscheint.
Wieso der IGH zuständig ist
Der Gerichtshof stellte fest, dass er "prima facie", also auf den ersten Blick, zuständig ist, was im Eilverfahren ausreichend ist.
Syrien hat sich zwar nicht der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen, aber – wie auch Kanada und die Niederlande – die UN-Antifolterkonvention ratifiziert. Die klagenden Staaten rügen zahlreiche Verstöße gegen die Antifolterkonvention, darunter solche gegen Artikel 2, 7, 10 bis 16 und 19. Nach dem Streitbeilegungsmechanismus in Art. 30 Abs. 1 der Konvention ist der IGH für Streitigkeiten zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung des Übereinkommens zuständig. Voraussetzung ist allerdings, dass die klagende Partei zuvor erfolglos versucht hat, Verhandlungen und ein Schiedsverfahren durchzuführen.
Sämtliche diplomatischen Versuche Kanadas und der Niederlande sind gescheitert, deshalb haben sie sich mit der Klage und dem Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen an den IGH gewendet.
Wie es weitergeht
Nach Art. 41 Nr. 1 seines Statuts kann der IGH – "sofern es seines Erachtens die Umstände erfordern" – vorsorgliche Maßnahmen bezeichnen, "die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen". Eine Besonderheit ist hier, dass Kanada und die Niederlande nicht unmittelbar selbst in ihren eigenen Rechten verletzt sind, sondern zum Schutz der syrischen Bevölkerung handeln. Sie berufen sich auf einen Verstoß gegen elementare Pflichten, die "erga omnes" – gegenüber allen – gelten und deren Verletzung daher alle Staaten gerichtlich einklagen können.
"Mit seiner Entscheidung schreibt der IGH seine Rechtsprechung zu Erga-Omnes-Verpflichtungen konsequent fort", ordnet Völkerrechtler Prof. Dr. Andreas Zimmermann von der Universität Potsdam die Anordnung ein. In einem vergleichbaren Fall, den Gambia im Jahr 2020 gegen Myanmar angestrengt hatte, ordnete der IGH Sofortmaßnahmen zum Schutz der Rohingya-Minderheit in Myanmar an.
Anordnungen des IGH sind zwar für die Parteien bindend, allerdings kann der Gerichtshof sie nicht selbst durchsetzen. Er kann jedoch den UN-Sicherheitsrat anrufen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Russland dort – wie schon bei vergangenen Resolutionen zu Syrien – von seinem Vetorecht Gebrauch machen wird.
Wann der IGH über die Klage in der Hauptsache entscheiden wird, ist noch offen.
Eilverfahren vor dem IGH: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53194 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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