Wohin mit den Zivilisten? Diese Frage stellte sich, als Israel seine Bodenoffensive im Norden Gazas begann. Nun stellt sie sich erneut im Süden, betroffen sind 1,3 Millionen Menschen. Südafrika will den geplanten Militäreinsatz verhindern.
In der Grenzstadt Rafah im Süden Gazas, in der sich auch ein Grenzübergang zu Ägypten befindet, wohnten vor Beginn des Krieges etwa 250.000 Menschen. Aktuell halten sich dort laut UN-Schätzungen 1,3 Millionen, also mehr als fünfmal so viele, auf. Trotz Warnungen aus dem Ausland will Israel seine Bodenoffensive auch hier fortsetzen, um verbliebene Hamas-Stellungen zu zerstören. Jedoch gibt es in Gaza kaum noch Zonen, in denen die Menschen vor den Kämpfen zwischen dem israelischen Militär und den Hamas-Terroristen sicher sind, und die Grenze nach Ägypten ist für die Palästinenser geschlossen.
"Militäroperationen in Rafah könnten zu einem Gemetzel in Gaza führen", sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Dienstag. Die internationale Gemeinschaft warne seit langem vor den "gefährlichen Konsequenzen jeglicher Bodenoffensive in Rafah". Die israelische Regierung könne diese Rufe nicht länger ignorieren, so Griffiths. Eindringliche Warnungen kamen in den letzten Tagen aus Washington. Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fand deutliche Worte: "Eine Offensive der israelischen Armee auf Rafah würde unter diesen Bedingungen die humanitäre Lage komplett zum Kippen bringen", sagte die Grünen-Politikerin am Mittwoch vor ihrer Abreise zu einem zweitägigen Besuch in Israel.
Südafrika reichen diplomatische Warnungen nicht, der Staat übermittelte dem Internationalen Gerichtshof (IGH) am Montag einen dringenden Antrag auf Erlass weiterer Sofortmaßnahmen zum Schutz der Palästinenser in Gaza. Das teilte der IGH am Dienstagabend mit.
Südafrika sieht Angelegenheit "von größter Dringlichkeit"
Um "weitere" Maßnahmen handelt es sich deshalb, weil der IGH Israel erst am 26. Januar zu Präventivmaßnahmen verpflichtet hatte. Diese Eilentscheidung erging im Rahmen des von Südafrika Ende Dezember vor dem IGH gegen Israel angestoßenen Völkermord-Verfahrens. In der Hauptsache wirft Südafrika Israel vor, mit dem am 7. Oktober 2023 begonnenen Militäreinsatz gegen die Völkermord-Konvention zu verstoßen. Im Eilverfahren verpflichtete der IGH Israel dazu, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um einen Völkermord an den Palästinensern in Gaza zu verhindern. Dem weitergehenden Antrag Südafrikas, einen sofortigen Stopp der Militärhandlungen anzuordnen, entsprachen die Richter in Den Haag nicht. Auch benannten sie keine konkreten Schutzmaßnahmen.
Die Netanjahu-Regierung betonte nach der Entscheidung, stets auf die Einhaltung des Völkerrechts zu achten. Inwiefern sie aufgrund der einstweiligen Anordnungen Bedarf sieht, die eigene Kriegsführung anzupassen, ist fraglich. Ende Februar wird Israel dies in einem Bericht an den IGH dokumentieren müssen. Auch das hatte der Gerichtshof Ende Januar angeordnet. Unklar sind die genauen Anforderungen an den Bericht. Dokumentiert Israel in den Augen der Richter nicht hinreichend, dass und wie es den Schutz von Zivilisten in Gaza gewährleistet, wäre denkbar, dass das Gericht weitere Maßnahmen erlässt. Dies gestattet Art. 75 Abs. 1 der IGH-Gerichtsordnung auch ohne einen entsprechenden Antrag. Gemäß Art. 76 sind auch nachträgliche Änderungen einstweiliger Anordnungen möglich, dann müsste Israel Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen.
Südafrika will sich offenbar nicht auf ein eigenständiges Einschreiten des IGH verlassen, sondern beantragt den Erlass weiterer Maßnahmen nach Art. 75 Abs. 1 nun selbst – wohl auch, um das Verfahren zu beschleunigen: Eine Anhörung schreibt Art. 75 nicht zwingend vor. Angesichts der Lage in Rafah muss es nach Ansicht von Südafrika schnell gehen, das Land sieht eine "Angelegenheit von größter Dringlichkeit". Konkrete Maßnahmen benennt Südafrika diesmal nicht. Der Antrag dürfte aber nicht weniger bezwecken als den Erlass eines Verbots, in Rafah eine Bodenoffensive durchzuführen.
Israel will 1,3 Millionen Menschen in Zeltlagern unterbringen
In diese Richtung gehen auch Forderungen der USA und Deutschlands, auch wenn beide Staaten versuchen, diplomatisch auf Netanjahu einzuwirken. Baerbock hielt die israelische Regierung an, einer Feuerpause zuzustimmen. Die Menschen in Rafah könnten sich "nicht einfach in Luft auflösen", so Baerbock. Sie bräuchten sichere Orte und sichere Korridore, um nicht noch weiter ins Kreuzfeuer zu geraten. Dafür wolle sie sich auf ihrer am Mittwoch angetretenen Israel-Reise einsetzen.
US-Präsident Joe Biden warnte Israels Ministerpräsidenten zuletzt eindringlich vor Kämpfen in Rafah. Ohne einen "glaubwürdigen Plan" zum Schutz der Zivilbevölkerung erhalte Israel von den USA keine Unterstützung für den Militäreinsatz, so Biden am Montag. Einen solchen Plan hat die Netanjahu-Regierung inzwischen ausgegeben, er sieht die Errichtung von Zeltlagern außerhalb von Rafah vor. Das berichtete am Montag das Wall Street Journal unter Berufung auf namentlich nicht genannte israelische und ägyptische Quellen. Die Rede ist von 15 Zeltlagern mit jeweils etwa 25.000 Zelten.
Auch Pläne für eine erneute Feuerpause werden konkreter: Ägypten, Katar und die USA bemühen sich derzeit darum. Im Rahmen eines Abkommens sollen in mehreren Phasen die noch immer im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gegen palästinensische Gefangene in Israel ausgetauscht werden. Während einer einwöchigen Feuerpause im vergangenen November waren 105 Geiseln freigelassen worden, im Gegenzug für 240 palästinensische Häftlinge. Schon bei dieser Feuerpause hatten Ägypten, Katar und die USA vermittelt.
Derzeit befinden sich noch 134 der beim Terrorangriff vom 7. Oktober entführten Menschen in der Gewalt der Hamas. Von denen dürften nach israelischer Schätzung mindestens 30 nicht mehr am Leben sein. Die Zahl der Getöteten könnte nach Medienberichten aber inzwischen auch schon bei 50 liegen. In der Nacht zum Montag hatte Israels Militär zwei Geiseln in Rafah im Süden des Gazastreifens gerettet.
Feuerpause oder IGH-Entscheidung – wie geht es weiter?
Sollte es zu einer Feuerpause kommen, würde das Südafrikas erneuten Eilantrag beim IGH zumindest vorerst obsolet machen. Falls nicht, müssten die Richter zeitnah darüber entscheiden. Dann müssten sie auch bewerten, ob sie die Evakuierung Rafahs und die Verbringung von 1,3 Millionen Palästinensern in Zeltlager als Schutzmaßnahme akzeptieren.
Schon Ende Oktober hatte das israelische Militär einen Evakuierungsaufruf gestartet, um eine Bodenoffensive zu ermöglichen, damals im Norden des Gazastreifens. Den Aufrufen waren laut UN-Angaben rund 1,9 Millionen Palästinenser gefolgt. Dieses Vorgehen stuften Völkerrechtler überwiegend als zulässig ein, da nicht die dauerhafte Umsiedlung, sondern der Schutz von Zivilisten im Vordergrund stehe. "Die Aufforderung ist der Versuch, in einem sehr komplexen Umfeld eine militärische Reaktion mit möglichster Schonung der Zivilbevölkerung zu verbinden", sagte etwa Prof. Dr. Matthias Herdegen (Uni Bonn) im Gespräch mit LTO.
Ob dies auch für die neuerliche Evakuierung gilt, muss gegebenenfalls der IGH bewerten. Zwar wird er im Rahmen des von Südafrika angestoßenen Verfahrens nicht prüfen, ob sämtliche militärische Handlungen Israels – und der Hamas – völkerrechtskonform sind. Auch Kriegsverbrechen werden in dem Verfahren nicht geprüft; vielmehr geht es nur um etwaige Verstöße des Staates Israel gegen die Völkermordkonvention. Dabei werden die Richter im Eilverfahren aber nicht umhinkommen, nach summarischer Prüfung zu bewerten, ob die Verbringung von 1,3 Millionen Menschen in Zeltlager möglich ist, ob dafür ausreichend Platz ist und ob diese Zonen vor Raketen-, Granaten und Gewehrbeschuss sicher sind.
Hinweise, wie er mit dem Antrag verfahren will, hat der IGH bislang nicht bekanntgegeben. Nach der Verfahrensordnung könnte er aber auch ohne Vorankündigung zeitnah entscheiden. Die Anordnung eines Stopps der Bodenoffensive wäre zwar völkerrechtlich bindend, vom IGH aber nicht eigenständig durchsetzbar.
Mit Material der dpa
Red. Hinweis: Aktualisierte Fassung vom 15.02.2024, 11:27 Uhr.
Südafrika ruft erneut Den Haag an: . In: Legal Tribune Online, 14.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53874 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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