Das Verhältnis der zivilen Opfer zur Gesamtbevölkerung ist nicht das alleinige Kriterium zur Bewertung der Situation in einem Konfliktgebiet. Wird subsidiärer Schutz beantragt, müssen laut EuGH weitere Umstände betrachtet werden.
Deutsche Behörden dürfen schutzsuchende Migranten nicht allein auf Grundlage einer vergleichsweise niedrigen Zahl von zivilen Opfern in Konfliktgebieten abweisen. Wenn Behörden systematisch nur ein einziges quantitatives Kriterium anwendeten, könnten Personen ausgeschlossen werden, die tatsächlich Schutz benötigen, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag in Luxemburg (Urt. v. 10.06.2021, Az. C-901/19).
Hintergrund der Entscheidung ist ein Fall vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, bei dem es darum geht, ob zwei Personen aus der afghanischen Provinz Nangarhar sogenannten subsidiären Schutz bekommen. Dieser steht in Deutschland Betroffenen zu, denen zwar weder Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden kann, denen aber im Herkunftsland Folter, die Todesstrafe oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit "infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" droht.
Der VGH verwies in seiner Vorlage an den EuGH auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Beurteilung der ernsthaften individuellen Bedrohung. Das BVerwG setze für diese Beurteilung eine quantitative Bewertung des "Tötungs- und Verletzungsrisikos" voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis an Opfern zur Gesamtzahl der Bevölkerung in dem betreffenden Gebiet. Das ermittelte Verhältnis müsse einen bestimmten Mindestwert erreichen.
Begriff muss weit ausgelegt werden
Wenn diese Schwelle nicht überschritten werde, liege auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung vor. Sofern diese Bedrohung in erster Linie von der Zahl ziviler Opfer abhängig wäre, müssten die Anträge der Personen auf subsidiären Schutz daher nach Auffassung des VGH abgelehnt werden. Der VGH wollte vom EuGH wissen, ob für die Beurteilung der Bedrohung neben der Zahl der zivilen Opfer weitere Umstände berücksichtigt werden müssen.
Der EuGH bestätigte am Donnerstag die Auffassung des Generalanwalts und entschied, dass der Begriff "ernsthafte individuelle Bedrohung" weit auszulegen sei. Es sei eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands kennzeichnen, erforderlich. Die ernsthafte individuelle Bedrohung könne dagegen nicht davon abhängig gemacht werden, dass das Verhältnis der Zahl ziviler Opfer zur Gesamtzahl der Bevölkerung in einem Konfliktgebiet eine bestimmte Schwelle erreicht, so das Luxemburger Gericht.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
EuGH zu subsidiärem Schutz: . In: Legal Tribune Online, 10.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45172 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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