EuGH zur Zukunft der Vorratsdatenspeicherung: Sch­nell ein­frieren und wieder auf­tauen

Erneut landete die Vorratsdatenspeicherung beim EuGH. Dieser verweist stoisch auf seine bisherige Rechtsprechung. Einige Klarstellungen auch für Deutschland liefert er dennoch. Wird "Quick Freeze" zur Lösung?

Viele deutsche Rechtspolitiker und Strafverfolger dürften sich den 5. April eigentlich im Kalender vorgemerkt haben. Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) sollte ein ganzes Paket an Vorlagen aus Frankreich, Irland und auch Deutschland entscheiden. Für die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung, bei der private Telekommunikationsunternehmen Daten ihrer Kunden auf Vorrat speichern und die von Strafverfolgungsbehörden für Ermittlungen abgerufen werden können, eine entscheidende Wegmarke.

Das Bundesjustizministerium (BMJ) hatte zu verstehen gegeben, dass die zur Zeit auf Eis gelegte deutsche Version der Vorratsdatenspeicherung, erst dann reformiert wird, wenn Luxemburg eine Entscheidung gefällt hat. Der EuGH-Generalanwalt hatte Ende 2021 die deutsche Version als unionsrechtswidrig eingestuft

Der EuGH hat das deutsche Verfahren abgetrennt

Die Verfahren aus den drei Staaten waren eigentlich gebündelt, wurden zusammen mündlich verhandelt und vom EuGH-Generalanwalt gemeinsam begutachtet. Am Dienstag entschied der EuGH aber erst einmal nur über das Verfahren aus Irland (Urt. v. 05.04.2022, Rs. C-140/20). Wenig überraschend hat er vor allem auf seine bereits ausbuchstabierte Grundlinie verwiesen: Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität ist nicht mit Unionsrecht vereinbar, aber es gibt enge Spielräume für Ausnahmen. Dabei verwiesen die Richterinnen und Richter ausdrücklich auf die Urteile vom Oktober 2020 und auf die Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2016

Hintergrund der Vorlage aus Irland ist ein Fall der Schlagzeilen machte, ein grausamer Sexualmord aus dem Jahr 2012. Bei der Verurteilung des Täters zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes spielten seine bei einer Vorratsdatenspeicherung gesammelten Handydaten eine bedeutende Rolle. Im Berufungsverfahren in Irland warf der Angeklagte allerdings dem erstinstanzlichen Gericht unter anderem vor, dass es zu Unrecht Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit Telefonanrufen als Beweismittel zugelassen habe. Daher leitete er parallel zum Strafverfahren ein Zivilverfahren beim Hohen Gerichtshof Irlands ein, um die Ungültigkeit bestimmter irischer Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung feststellen zu lassen. Der Fall landete dann vor dem Supreme Court.

EuGH verweist stoisch auf seine Rechtsprechung

Dieser wollte vom EuGH wissen, welche Anforderungen das Unionsrecht an die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Bekämpfung der schweren Kriminalität stellt und ebenso an die notwendigen Garantien, die den Zugang zu den Daten regulieren müssen.

Wie zuvor der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen bekräftigte der EuGH fast schon stoisch seine ständige Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung, - sprich: Das Unionsrecht steht einer präventiven, allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsdatenspeicherung von elektronischen Kommunikation zum Zwecke der Bekämpfung schwerer Straftaten entgegen. Die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation enthalte im Grundsatz das Verbot der Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten.

Zwar gestatte die Datenschutzrichtlinie den Mitgliedstaaten, das zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten zu beschränken – allerdings nur in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Es müsse zumindest ein mittelbarer Zusammenhang zwischen der Speicherung der Daten und dem damit verfolgten Ziel bestehen. Eine ausgewogene Gewichtung aller betroffenen Interessen und Rechte sei erforderlich.

In der Folge werden die Richter:innen des EuGH konkret und listen – wieder unter Berufung auf das Urteil aus dem Jahr 2020 – die Voraussetzungen auf, bei denen die Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zulässig ist. Allerdings lieferten sie noch einige Klarstellungen dazu.

Klarstellungen, wann "Vorratsdatenspeicherung" erlaubt

Die Speicherung muss gezielt erfolgen, so anhand von Kategorien betroffener Personen oder eines geografischen Kriteriums. Hier stellt der EuGH anhand von einigen Beispielen klar, was genau er damit meint. So reiche als geografisches Kriterium die durchschnittliche Kriminalitätsrate in einem Gebiet aus, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für schwere Straftaten dort vorliegen müssen. Zudem sei eine Vorratsspeicherung zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität an Orten und Infrastrukturen möglich, wo sich regelmäßig viele Personen aufhalten, zum Beispiel Flughäfen oder Bahnhöfe.

In Bezug auf die IP-Adressen wiederholen die Luxemburger Richterinnen und Richter, dass sie allgemein und unterschiedslos zur Bekämpfung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit gespeichert werden können, wenn sie zeitlich auf das absolut Notwendigste begrenzt wird.

Außerdem dürfen ebenfalls zu diesen Zwecken allgemein und unterschiedslos Daten zur Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel gespeichert werden. So können die Mitgliedstaaten regeln, dass Verkäufer:innen von SIM-Karten vorab die Identität der Käufer:innen überprüfen und die erfassten Infomationen ggf. an die zuständigen nationalen Behörden weiter geben müssen.

"Quick Freeze" als Vorbild für eine Vorratsdatenspeicherung light?

Besonders aufmerksam dürften Rechtspolitikerinnen und Strafverfolger in Deutschland die Randnummer 67 des Urteils lesen. Dort wird ein Modell erwähnt, das auch in Deutschland schon länger in der Diskussion ist. Das sogenannte "Quick Freeze" könnte einen Kompromiss bedeuten zwischen dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung und einer Schonung von Grundrechten. Wenn Strafverfolgungsbehörden bei privaten Telekommunikationsunternehmen gespeicherte Daten erlangen wollen, brauchen sie dafür den Beschluss eines Richters. Ist der nicht rechtzeitig zu erhalten, löscht das Unternehmen die Daten. Bei "Quick Freeze" können die Strafverfolger im Alleingang eine Speicheranordnung im Einzelfall treffen, die den Löschprozess erst einmal aufhält. Die Daten werden eingefroren. Ist dann erfolgreich ein richterlicher Beschluss dazu eingeholt, dürfen sie sozusagen aufgetaut und genutzt werden.

Der EuGH hat dieses Modell nun noch einmal ausdrücklich gebilligt. Dabei dürften dann auch die Daten anderer, unverdächtiger Personen gespeichert werden, sofern diese zur Aufdeckung beitragen können. Dazu gehören laut EuGH auch Daten des Opfers einer Straftat sowie seines Umfelds.

Wann kommt das Urteil zu Deutschland?

Der FDP-Justizminister Marco Buschmann könnte sogar auf einen Vorschlag seiner Vor-Vor-Vor-Vorgängerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zurückgreifen. Die hatte bereits 2011 einen Gesetzentwurf zu "Quick-Freeze" vorgelegt. Ihr Vorschlag scheiterte damals aber am Koalitionspartner CDU/CSU. 

"Der EuGH hat heute erneut die Bedeutung der Grundrechte im digitalen Raum bekräftigt und uferlosen Datenspeicherungen eine klare Absage erteilt", kommentierte Buschmann das Urteil am Dienstag. "Das heutige Urteil bekräftigt die bisher ergangene Rechtsprechung und enthält wichtige rechtliche Vorgaben für die Umsetzung dieses Vorhabens."

Bereits im Koalitionsvertrag der Ampel wird deutlich, dass eine Vorratsdatenspeicherung in seiner bisherigen Form - massenhaft, anlasslos - nicht weiter verfolgt werden wird. Zugleich will man aber "Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können." Eine Formulierung, in die man ohne Mühe "Quick Freeze" hineinlesen kann.

Bei den an den deutschen Vorlageverfahren beteiligten Unternehmen weiß man derzeit noch nichts von einem Termin für ein Urteil zu Deutschland. Warum der EuGH das irische Verfahren erst einmal vorausgeschickt hat, darüber lässt sich nur mutmaßen. Wer für die Strafverfolgung auf die Einräumung eines großzügigeren Spielraums im Detail - etwa bei der Speicherung von IP-Adressen - hofft, dessen Zuversicht könnte durch die Verzögung gewachsen sein.

Zitiervorschlag

EuGH zur Zukunft der Vorratsdatenspeicherung: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48046 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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