Auch in Deutschland müssen minderjährige unbegleitete Flüchtlinge ihre Familien nachholen können, selbst wenn sie während des Verfahrens volljährig werden. Die bisherige Praxis hierzulande ist europarechtswidrig, so der EuGH.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen ihre Familien in die EU nachholen, selbst wenn die einstigen Minderjährigen im Laufe des Verfahrens volljährig werden. Die anderslautende deutsche Praxis ist europarechtswidrig, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 01.08.2022, Az. C-273/20 und C-355/20) auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschl. v. 23.04.2020, Az. 1 C 9.19) entschieden.
In den zugrunde liegenden Fällen hatten syrische Staatsangehörige, deren Kinder als unbegleitete Minderjährige in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt wurden, bei deutschen Auslandsvertretungen Visa zur Familienzusammenführung beantragt. Sie wurden wegen zwischenzeitlichen Eintritts der Volljährigkeit der ehemals Minderjährigen jedoch abgelehnt.
Auf die Klagen der Eltern hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin dem Antrag auf Familiennachzug stattgegeben (Urt. v. 01.02.2019, Az. 15 K 936.17 V). Das VG bezog sich auf ein EuGH-Urteil, wonach es für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt ankommt, zum dem der Betreffende internationalen Schutz beantragt hat (EuGH, Urt. v. 12.04.2018, Az. C-550/16). Die Bundesrepublik machte daraufhin im Wege von Sprungrevisionen vor dem BVerwG geltend, dass diese EuGH-Rechtsprechung auf die vorliegenden Fälle nicht übertragbar und an der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG zum deutschen Aufenthaltsgesetz festzuhalten sei, wonach es beim Elternnachzug auf die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Visumantrag ankomme.
In einem zweiten Fall geht es um die Frage, wie mit dem Antrag eines anerkannten Schutzberechtigten umzugehen ist, der sein Kind nachholen möchte, das wiederum nach Antragstellung volljährig wurde (Az. C-279/20). Auch diese Konstellation war nach einem entsprechenden Fall aus Belgien bereits entschieden.
EuGH: Deutschland verstößt gegen EU-Recht
Der EuGH stellte nun klar, dass es bei diesen Fragen nur auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankommen kann. Maßgeblich sei die Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. Deren Ziel sei eben diese und der Schutz Minderjähriger, die Achtung des Privat- und Familienlebens und das Kindeswohl.
In solchen Fällen nur auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, sei mit den Grundsätzen der Richtlinie und der Charta der Grundrechte vereinbar. Ansonsten werde den nationalen Behörden die Dringlichkeit der vorrangingen und schnellen Entscheidung der Fälle der Minderjährigen nicht bewusst gemacht. Zudem sei nur bei diesem Zeitpunkt sichergestellt, dass die Antragsteller nicht von der Geschwindigkeit der Behörden abhängig seien und alle Minderjährigen in der Entscheidung über den Familiennachzug gleich behandelt werden.
Die Richtlinie steht damit, so sagt es der EuGH, der "nationalen Regelung entgegen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet", also dem deutschen § 36 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Ein als Flüchtling anerkannter Elternteil müsse den Antrag auf Familienzusammenführung allerdings in einer angemessenen Frist gestellt haben. Das sind in der Regel drei Monate ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling, so der EuGH.
Vorliegen muss dabei nicht allein die Verwandtschaft, sondern eine tatsächliche familiäre Bindung zum Kind. Dafür müsse man aber nicht unter einem Dach leben, betonte der EuGH. Auch "gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen". Und er stellt in diesem Kontext klar, dass "nicht jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird".
"Längst überfällige Korrektur"
Die Rechtsfrage, auf welchen Zeitpunkt bei solchen Anträgen abzustellen ist, hatte der EuGH für einen Fall aus den Niederlanden längst entscheiden, das VG hatte sich in seiner Entscheidung darauf berufen. Die deutschen Behörden allerdings meinten, auf Deutschland sei das Urteil von 2018 nicht übertragbar. Das Auswärtige Amt, zuständig für die Visumsangelegenheiten, verhinderte so seit vielen Jahren den Nachzug der Familienangehörigen.
"Die Urteile stellen die überfällige Korrektur der sehr restriktiven deutschen Praxis beim Familien- und beim Elternnachzug dar, indem sie für alle Konstellationen klarstellen, dass auf den Asylantragszeitpunkt abzustellen ist, damit die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit haben, durch Verfahrensverzögerung die Rechtsverwirklichung unmöglich zu machen", sagt Dr. Constantin Hruschka, Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik.
Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit, das BVerwG muss nun unter Berücksichtigung der EuGH-Entscheidung die Fälle national entscheiden. Mit der Entscheidung vom Montag dürfte feststehen: "Eltern volljähriger Kinder und volljährig gewordene Kinder werden nach dieser Entscheidung ein Recht auf einen Aufenthaltstitel von mindestens einjähriger Dauer haben", so Hruschka. Und weiter: "Inwieweit sich daraus auch ein vom Einreisegrund unabhängiges, selbständiges Aufenthaltsrecht für die nachziehenden Eltern bzw. Kinder ergibt, könnten die nächsten Fragen werden, die das BVerwG an den EuGH stellt. Es spricht viel dafür, dass der EuGH dann erneut restriktive Tendenzen der deutschen Praxis wird korrigieren müssen."
EuGH zum Familiennachzug: . In: Legal Tribune Online, 01.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49203 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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