Die Massenüberwachung durch den britischen Geheimdienst verletzt europäische Menschenrechte, so der EGMR. Zwar hat sich seit den Snowden-Enthüllungen die Rechtslage teils geändert, wichtige Anhaltspunkte bietet die Entscheidung dennoch.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Donnerstag entschieden, dass Teile des Überwachungsprogramms des Geheimdienstes GCHQ des Vereinigten Königreichs gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen (Urt. v. 13.09.2018, Beschw.-Nr. 58170/13 u.a.).
Geklagt hatten mehrere NGOs von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten nach den Enthüllungen des ehemaligen Mitarbeiters des US-Geheimdienstes NSA Edward Snowden im Jahr 2013. Er hatte die Existenz eines umfangreichen Überwachungsnetzwerks aufgedeckt, betrieben von den USA und Großbritannien. Dazu zapfte der britische Geheimdienst in großem Stil Unterseekabel an, über die Kommunikation zwischen den USA und der Insel läuft. Die Kläger aus Großbritannien befürchteten, selbst überwacht zu werden.
In dem Verfahren vor dem EGMR in Straßburg ging es um drei Themenkomplexe: Erstens um das massenhafte Abfangen von Kommunikation durch die Geheimdienste. Zweitens um die Datenabschöpfung bei privaten Service Providern, also z.B. Internet- oder Telefonanbietern. Und drittens um den Informationsaustausch mit anderen befreundeten Staaten.
Fehlende demokratische Kontrolle bei der Überwachung
Die Kammer des EGMR hat entschieden, dass die massenhafte Kommunikationsüberwachung, für die es eine gesetzliche Grundlage im britischen Recht gibt, Art. 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Zwar betonte die Kammer, dass nicht schon das Institut der Massenüberwachung selbst einen Verstoß darstelle. Die Überwachung sei aber mit unzureichenden Aufsichtselementen versehen - und zwar sowohl bei der Auswahl der Quellen als auch für die anschließende Auswertung der abgefangenen Kommunikation.
Die gesetzliche Grundlage im britischen Recht bildete der Regulation of Powers Act aus dem Jahr 2000. Der EGMR maß diese Regelungen an seinen in der Entscheidung Weber und Saravia v. Germany im Jahr 2006 aufgestellten Maßstäben. So vermissen die Straßburger Richter in der Ausgestaltung der britischen Massenüberwachung, dass sie keine unabhängige Kontrolle der eingesetzten Selektoren und Suchfilter vorsieht. Auch gebe es keine Vorkehrungen für die das Abschöpfen von "verwandten Kommunikationsdaten", also solchen, die in Verbindung mit einer abgefangenen Kommunikation stehen. Das sei besonders schwerwiegend, betonte der EGMR, "weil diese Daten weitreichende Informationen über die Gewohnheiten und Kontakte einer Person verraten."
Austausch mit anderen Staaten nicht zu beanstanden
Der EGMR beanstandete auch die Regelungen zur Datenabschöpfung bei privaten Providern. Auch hierfür sieht das britische Recht gesetzliche Regelungen vor. Der EGMR bezog sich bei seiner Bewertung am Donnerstag interessanterweise auf eine aktuelle Entscheidung des britischen High Courts. Der hatte entschieden, dass ein Verfahren der Datenabschöpfung bei privaten Betreiber gegen Vorgaben des europäischen Rechts verstoße.
Nach Auffassung der britischen Richterkollegen hat es beim Zugriff auf Daten bei den Providern vor allem an einer Zweckbegrenzung auf "schwerwiegende Verbrechen" gefehlt sowie einer vorgelagerten Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Behörde. Das veranlasste den EGMR am Donnerstag in seiner eigenen Entscheidung zu der Schlussfolgerung, dass auch dieser Mechanismus gegen Art. 8 der EMRK verstoße.
Auch rügten die Straßburger Richter, dass sowohl die Massenüberwachung als auch die Abschöpfung bei privaten Providern keine ausreichenden Schutzvorkehrungen für vertrauliches journalistisches Material vorsähen. Hieraus ergebe sich ein Verstoß gegen Art. 10 EMRK, die Freiheit der Meinungsäußerung, worin auch das Recht der Pressefreiheit aufgehoben ist.
Keine Einwände zeigte der EGMR dagegen an der Praxis des Informationsaustausches von Geheimdiensterkenntnissen mit anderen Regierungen.
NGO: "Wichtiger Schritt, um Millionen von Bürgern vor Eingriffen in Privatleben zu schützen"
Beschwert hatten sich Bürgerrechtler, Datenschützer und Journalisten, darunter die britische Bürgerrechtsorganisation Big Brother Watch. Deren Direktorin Silkie Carlo scheint mit dem Richterspruch zufrieden: "Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung hat das Vereinigte Königreich eines der autoritärsten Überwachungssysteme der westlichen Staaten eingeführt", sagte sie in einer Pressemitteilung. "Dieses Urteil ist ein wichtiger Schritt, um Millionen von rechtschaffenen Bürgern vor ungerechtfertigten Eingriffen in ihr Privatleben zu schützen."
Der EGMR betont in einer eigenen Stellungnahme die Bedeutung seiner Entscheidung: Zwar kann er auf eine lange Geschichte der Überprüfung von staatlichen Überwachungsmaßnahmen zurückblicken, die bis in die 1980er Jahre reicht. Zum ersten Mal hat er aber darüber entschieden, in welcher Weise das Abfangen und Auswerten von Kommunikationsdaten, in Abgrenzung zu Inhaltsdaten, den einzelnen Bürger in seiner Freiheitssphäre beeinträchtigen kann.
Kommt die EGMR-Entscheidung zu spät?
Allerdings fühlt sich die Entscheidung des EGMR eher wie eine nachträgliche Feststellung an: Als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen und die nachfolgende Kritik hat Großbritannien ein neues Überwachungsgesetz auf den Weg gebracht, den Investigatory Powers Act 2016. Der ist zwar noch nicht vollständig in Kraft gesetzt, der EGMR überprüfte jetzt aber noch die alte Rechtslage in der Post-Snowden-Zeit. Zu der neuen und damit veränderten Rechtslage trifft die Entscheidung keine Aussagen.
Trotzdem dürften sich auch aus dieser Entscheidung Anhaltspunkte gewinnen lassen, an welchen Voraussetzungen auch die neuen Überwachungsregeln der europäischen Geheimdienste zu messen sind. Zum Beispiel wenn es um die Datenabschöpfung bei privaten Betreibern geht. Auch die Vorratsdatenspeicherung liegt aus ganz ähnlichen Kritikpunkten derzeit in Deutschland auf Eis.
Die Enthüllungen Snowdens haben zudem nicht nur in Deutschland dafür gesorgt, dass die bislang unregulierte Überwachungspraxis gesetzlich erschlossen wurde. So wurde etwa das Abzapfen von Daten an einem privaten Internetknotenpunkt in Frankfurt am Main legalisiert, was zuletzt das BVerwG bestätigt hat. Die genaue Ausgestaltung und Kontrolle der Überwachung bleibt aber weiterhin umstritten.
Die Entscheidung des EGMR zu Großbritannien ist noch nicht rechtskräftig. Gegen die Kammerentscheidung kann innerhalb von drei Monaten vor der Großen Kammer in Straßburg vorgegangen werden.
EGMR erklärt britische Massenüberwachung für rechtswidrig: . In: Legal Tribune Online, 13.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30915 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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