Der EGMR findet, dass sich das Wesen der Sicherungsverwahrung in Deutschland so sehr gewandelt hat, dass es je nach Einzelfall nicht als "Strafe" zu werten ist - und damit auch eine rückwirkend verlängerte Verwahrung rechtens sein kann.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Donnerstag entschieden, dass die deutschen Regelungen zur rückwirkend verlängerten Sicherheitsverwahrung nicht gegen Art. 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen (Urt. v. 07.01.2016*, Az. 23279/14). Der Fall betraf die Unterbringung eines Deutschen in der Sicherungsverwahrung, die rückwirkend über die zur Tatzeit und zum Zeitpunkt seiner Verurteilung zulässige Höchstdauer von zehn Jahren hinaus verlängert worden war.
Das Landgericht (LG) Hannover verurteilte den vorbestraften, heute 72-Jährigen im Jahr 1986 unter anderem wegen zweifachen Mordes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren. Daneben ordnete das Gericht die Sicherungsverwahrung an. Unter Berufung auf zwei medizinische Sachverständigengutachten befand das Gericht, dass er infolge einer sexuellen Devianz und Persönlichkeitsstörung einen Hang zur Begehung schwerer Straftaten habe und ein hohes Risiko bestehe, dass er im Falle seiner Entlassung unter Alkoholeinfluss weitere Gewaltstraftaten begehen würde.
Nach Verbüßung seiner gesamten Freiheitsstrafe wurde der Mann im Juni 2001 in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Nachdem die Dauer von zehn Jahren erreicht war, ordneten die für die Strafvollstreckung zuständigen Gerichte in regelmäßigen Abständen ihre Fortdauer an. So auch das Landgericht (LG) Lüneburg, das 2013 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung anordnete. Es bestehe weiterhin ein hohes Risiko, dass er im Falle einer Entlassung schwere sexuell motivierte Straftaten begehen würde.
Maßnahme ist keine "Strafe"
Der EGMR stellt in seinem Urteil fest, dass Deutschland damit nicht gegen die Art. 5 und 7 der EMRK verstößt. Die Art und Schwere der psychischen Störung des Verwahrten rechtfertige den Freiheitsentzug. Zudem biete die Einrichtung in Rosdorf, in der er untergebracht ist, ein angemessenes Therapieangebot. Seine Sicherheitsverwahrung sei auch nicht willkürlich angeordnet und immer wieder verlängert worden. Sie sei ein "rechtmäßig" und auf "gesetzlich vorgeschriebene Weise" vorgenommener Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 § 1 EMRK. Die deutschen Gerichte hatten sich nach Ansicht des EGMR auch ausreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob von dem Mann angesichts seines fortgeschrittenen Alters weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausging.
Ebenso wie im Urteil von 2009, mit dem der EGMR die deutschen Regelungen zur Sicherungsverwahrung kippte, war die Sicherungsverwahrung auch in diesem Fall rückwirkend verlängert worden. Damals entschied der Gerichtshof, dass Deutschland mit einer Sicherheitsverwahrung von mehr als 10 Jahren gegen Art. 7 EMRK verstößt.
Der EGMR beurteilte die Verlängerung der Sicherungsverwahrung in dem Fall von Donnerstag aber nicht als "Strafe". Durch die Gesetzesänderungen im Zuge der Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung von 2009 habe sich das Wesen der Sicherungsverwahrung in Deutschland grundlegend geändert. Prinzipiell stelle sie zwar auch nach der Neuregelung eine "Strafe" dar. Allerdings kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass sich Wesen und Zweck der Sicherungsverwahrung in Fällen wie dem vorliegenden – in denen die Maßnahme aufgrund der Notwendigkeit, eine psychische Störung zu behandeln, und mit dem Ziel dieser Behandlung, verlängert wurde – dergestalt ändere, dass sie nicht mehr als "Strafe" im Sinne von Artikel 7 § 1 EMRK zu qualifizieren sei. Folglich läge keine Verletzung von Artikel 7 vor.
acr/LTO-Redaktion
* Hier stand ein falsches Datum. Korrigiert am 15.04.16
EGMR zur Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 07.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18066 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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