Laut BVerwG müssen bei der Entscheidung über den Verlust des Aufenthaltsrechts auch Nachteile unter der Schwelle des Abschiebungsverbots geprüft werden. Darunter auch die mehrjährige Trennung von der Familie.
Eine Ausländerbehörde hat bei der Aberkennung des Aufenthaltsrechts eines Türken nicht hinreichend berücksichtigt, dass diesem bei Rückkehr in das Herkunftsland eine mehrjährige Haft droht – und damit eine lange Trennung von seiner Frau mit Unionsbürgerschaft und den Kindern. Die Behörde hätte aber auch derartige Nachteile, die unterhalb der Schwelle des Abschiebeverbots liegen, berücksichtigen müssen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einem Fall aus Bremen entschieden (Urt. v. 16.12.2021, Az. 1 C 60.20).
Das BVerwG hat sich mit dem Fall eines türkischen Staatsangehörigen befasst, der 2003 oder 2004 nach Deutschland einreiste und erfolglos ein Asylverfahren durchlief. 2013 heiratete er eine rumänische Frau, mit der er drei Kinder hat. Im Januar 2014 erhielt er eine Aufenthaltskarte als Familienangehöriger von Unionsbürger:innen. In den Jahren 2007 und 2017 wurde der Mann wegen Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz jeweils zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Im Jahr 2018 erließ der Bremer Senator des Inneren als zuständige Ausländerbehörde eine Verfügung, die den Verlust des Rechts des Mannes auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer von vier Jahren feststellte und drohte die Abschiebung in die Türkei an. Ebenfalls 2018 wurde die Ehefrau unter Beibehaltung der rumänischen Staatsangehörigkeit eingebürgert.
BVerwG: Nachteile haben auch Gewicht
Der türkische Mann ging in der Folge vor der Bremer Gerichtsbarkeit gegen die Verfügung vor und machte geltend, dass ihm in der Türkei eine erneute Strafverfolgung und Haftstrafe für die in Deutschland bereits abgeurteilten Delikte drohten – und zwar unter unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen. Sowohl das Verwaltungsgericht (VG) als auch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen wiesen die Klage ab (OVG Bremen, Urt. v. 30.09.2020, Az. OVG 2 LC 166/20).
Das persönliche Verhalten des Klägers lasse erwarten, dass er weiter schwere Betäubungsmitteldelikte begehen wird. Für die Feststellung und Bewertung asylrechtlich erheblicher Abschiebungsverbote sei allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuständig. Die nach dem Vorbringen des Klägers drohende Beeinträchtigung von Belangen unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots führe hier nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung. Die Gerichte sahen keine Fehler in der Ermessensausübung.
Das sah das BVerwG nun anders und hob die Verfügung wegen eines Ermessensfehlers auf. Zwar könne grundsätzlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung das Aufenthaltsrecht aberkannt werden. Allerdings müssen laut BVerwG bei der Ermessensentscheidung über eine Verlustfeststellung neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Gesichtspunkten auch Nachteile berücksichtigt werden, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten, insbesondere im Hinblick auf das Recht auf Familienleben nach Art. 7 Grundrechtecharta (GrCh) und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Denn eine etwaig drohende erneute langjährige Haftstrafe in der Türkei erschwerte nicht nur die Aufrechterhaltung von Kontakten zu der in Deutschland lebenden Familie. Sie könnte vielmehr die Trennung von der Familie faktisch erheblich verlängern. Die Nichtberücksichtigung eines derartigen, im Rahmen des Möglichen aufzuklärenden Nachteils durch die Beklagte in den (ergänzenden) Ermessenserwägungen erweist sich deshalb als ermessensfehlerhaft, so das BVerwG.
pdi/LTO-Redaktion
BVerwG zur Aberkennung des Aufenthaltsrechts: . In: Legal Tribune Online, 16.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46967 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag