Bundesverfassungsgericht zur Wahlrechtsreform: Ampel­ge­setz zur Ver­k­lei­ne­rung des Bun­des­tages hat in Karls­ruhe Bestand

von Dr. Felix W. Zimmermann

30.07.2024

Vor dem BVerfG ging es heute nicht nur um die künftige Größe des Deutschen Bundestags, aber auch um das Schicksal von Linkspartei und der CSU. Ergebnis: Der “kleinere” Bundestag kommt, die CSU kann aufatmen, die Linkspartei nicht unbedingt.

Die verfassungsrechtliche Entscheidung des Jahres wurde heute verkündet. Es ging um nicht weniger als die Frage, wie Demokratie in diesem Land funktioniert. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Anträge u.a. der CSU-Fraktion und Linksfraktion gegen das neue Wahlrecht waren zwei unterschiedliche Aspekte: zum einen das neue Zweitstimmendeckungsverfahren, zum anderen der Wegfall der Grundmandateklausel.

Kern der Ampel-Reform bleibt bestehen

Das von der Ampel eingeführte Zweitstimmendeckungsverfahren führt dazu, dass nicht mehr jeder Wahlkreissieger sicher in den Bundestag einzieht. Mit der Erststimme wird ein Wahlkreiskandidat gewählt wer die Mehrheit der Stimmen in einem Wahlkreis auf sich vereint, erhält das Direktmandat. Mit der Zweitstimme bestimmen die Bürger die prozentuale Verteilung der Sitze auf die Parteien im Bundestag.

Vor der Reform war es so, dass eine Partei, die mit der Erststimme mehr Mandate in den Wahlkreisen gewinnt, als ihr nach der Zweitstimme prozentual zustünden, gleichwohl alle direkt gewählten Kandidaten in den Bundestag schicken konnte. Dadurch entstanden Überhangmandate, der Bundestag wurde größer. Später schuf die Politik Ausgleichsmandate für andere Parteien, damit die Sitzverteilung insgesamt wieder den Zweitstimmen entspricht. Der Bundestag wurde noch größer.

Die Ampelreform hat damit Schluss gemacht. Nach aktueller Gesetzeslage ziehen nicht mehr alle Wahlkreisgewinner in den Bundestag ein, sondern nur so viele, wie die Zweitstimme maximal erlaubt. Die schlechtesten Wahlkreissieger gehen dann leer aus. Fiktives Beispiel: Kandidat A der Partei Y hat seinen Wahlkreis mit absoluter Mehrheit, stolzen 55 Prozent, gewonnen. Auch Kandidat B hat in dem Bundesland einen Wahlkreis gewonnen, aber nur mit 30 Prozent. Nach dem Zweitstimmenergebnis steht der Partei Y in dem betreffenden Bundesland aber nur ein Listenplatz zu. Diesen bekommt A. B darf, anders als zuvor, nicht mit einem Überhangmandant in den Bundestag. Die Folge: Ein Wahlkreis bleibt ohne “Vertreter”.

BVerfG: Gesetzgeber hat weiten Spielraum

Das BVerfG beanstandete diese sog. Zweitstimmendeckung nicht. Der Gesetzgeber könne Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Diese Veränderung möge zwar zunächst irritieren. Doch der Vorwurf der "Verwaisung" eines Wahlkreises mache die Neuregelung für sich genommen noch nicht verfassungswidrig.

So stelle das Zweitstimmendeckungsverfahren keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber habe sich weiterhin für eine Kombination zwischen Personenwahl (Erststimme) und Verhältniswahl (Zweitstimme) entschieden. Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl habe er nur neugestaltet. Dies sei zulässig.

BVerfG: CSU nicht Vertreterin Bayerns

Dabei verweist das Gericht darauf, dass der Gesetzgeber auch ein reines Verhältniswahlrecht einführen könne, wo nur die Zweitstimme gewertet würde. Der Zweite Senat ist der Auffassung, dass es "verfehlt" wäre, Wahlkreisabgeordnete als Delegierte ihres Wahlkreises anzusehen. Sie seien gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Vertreter des ganzen Volkes und allein ihrem Gewissen verantwortlich. 

An die CSU gerichtet formuliert das BVerfG, dass auch wenn sie nahezu alle Wahlkreismandate in einem Land gewinnt, sie nach der Konzeption des Grundgesetzes nicht zur Repräsentantin von Bayern im Bundestag werde. Die Forderung nach einer regionalen Repräsentanz könne nicht aus dem Bundesstaatsprinzip abgeleitet werden. Entsprechend ist es nach der Logik des Gerichts auch verfassungsrechtlich zu verkraften, dass aus bestimmten Wahlkreisen kein Abgeordneter direkt gewählt ins Parlament einzieht. 

Damit bleibt der Kern der Ampel-Reform unbeanstandet und damit auch das wesentliche Ziel, den Bundestag wieder kleiner zu machen, konkret ihn auf 630 Plätze zu beschränken.

Grundmandatsklausel vorerst wieder hergestellt

Über diese Kernänderung hinaus schaffte die Ampel kurz vor der Abstimmung in einer Hauruck-Aktion auch die sogenannte Grundmandateklausel ab. Von ihr profitierten Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde bundesweit mit der Zweitstimme nicht erreichen und daher eigentlich nicht in den Bundestag einziehen. Wenn diese aber mindestens drei Direktmandate erhielten, galt für sie diese Hürde nicht. Die Partei durfte vielmehr so viele Abgeordnete in den Bundestag schicken, wie ihr nach der Zweitstimme zustanden. Hiervon profitierte zuletzt die Linkspartei, die nur 4,9 Prozent der Stimmen erreichte und eigentlich nicht in den Bundestag hätte einziehen dürfen.

Das BVerfG beanstandete nun den ersatzlosen Wegfall der Grundmandateklausel. Die Sperrklausel von fünf Prozent sei an sich zulässig. Zwar liege eine Ungleichbehandlung von Parteien vor, diese könne aber zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages gerechtfertigt sein. Denn hiermit könnte ein zersplittertes Parlament verhindert werden, in dem die Mehrheitsbildung schwerfällt. Eine der vielbeschworenen "Lehren aus Weimar", die das Gericht hier nicht explizit erwähnt. 

Die Sperrklausel sei aber – ohne Grundmandateklausel – nicht erforderlich. Dabei argumentierte das Gericht am Beispiel der CSU: Es bestehe nach dem aktuellen Wahlrecht tatsächlich die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werde. Doch im Falle der CSU greife die Lehre aus Weimar der "Zersplitterung" nicht. Denn die CSU würde hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. 

CSU kann aufatmen, Linke vorerst auch 

Grundlage hierfür sei eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages sei es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen. Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichne sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden. 

Gute Nachrichten also für die CSU, deren Normenkontrollantrag teilweise Erfolg hatte. Den Antrag der Linkspartei hingegen lehnte das Gericht ab. Auch perspektivisch wird ihr das Urteil aus Karlsruhe wohl nicht helfen. Der Gesetzgeber darf nach dem Urteil eine neue Regelung statuieren, wonach die Linkspartei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, da sie aktuell eben keine solche Partnerpartei hat. Das BVerfG sagt ausdrücklich, dass er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren kann. Kurzfristig jedoch wird auch die Linkspartei vom Urteil profitieren: Das BVerfG ordnete an, dass die alte Sperrklausel mit Grundmandateklausel bis zu einer Neuregelung weiter gilt. Dass der Bundestag das Wahlrecht in dieser Legislaturperiode noch ändert, gilt wegen der knappen Zeit als ausgeschlossen. Die Linke könnte also bei der nächsten Bundestagswahl wieder einziehen, wenn sie drei Direktmandate erzielt. 

Zitiervorschlag

Bundesverfassungsgericht zur Wahlrechtsreform: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55103 (abgerufen am: 31.07.2024 )

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