Wo hört die Meinungsfreiheit auf und wo fängt die Beleidigung an? Das BVerfG hat diese Frage anhand von vier Verfassungsbeschwerden gegen die Verurteilung wegen Beleidigung noch einmal klarstellend beantwortet.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat seine Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen anhand von vier am Freitag veröffentlichten Beschlüssen klarstellend zusammengefasst. Von vier Verfassungsbeschwerden, die sich jeweils gegen die strafgerichtlichen Verurteilungen wegen Beleidigung richteten, nahm das Gericht zwei nicht zur Entscheidung an (Beschl. v. 19.05.2020, Az. 1 BvR 2459/19 und 1 BvR 2397/19). Die anderen beiden hatten dagegen Erfolg (Beschl. v. 19.05.2020, Az. 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18).
In den beiden Verfahren, in denen das BVerfG die Verurteilung als verfassungsgemäß ansah, hatten die Gerichte die Abwägung zugunsten des Ehrschutzes vorgenommen. Im Verfahren 1 BvR 2397/19 hatte ein Mann auf einem Internetblog die Namen und Fotos von Richtern und anderen Personen, die an einer für ihn nachteiligen Entscheidung zum Umgangsrecht mit seiner Tochter beteiligt waren, veröffentlicht und diese mehrfach als "asoziale Justizverbrecher", "Provinzverbrecher" und "Kindesentfremder" bezeichnet, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Sie hätten auf Geheiß des namentlich genannten "rechtsradikalen" Präsidenten des Oberlandesgerichts offenkundig massiv rechtsbeugend agiert. Die Strafgerichte werteten das wegen des vorhandenen Sachbezugs noch nicht als Schmähkritik, werteten das Gewicht des Persönlichkeitsrechts der Betroffenen aber höher als das Gewicht der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers.
Abwägung zugunsten des Persönlichkeitsrechts
Dem Verfahren 1 BvR 2459/19 lag ein Streit zwischen einem Mann und der Leiterin eines Rechtsamts zugrunde. Diese hatte Strafanzeige gegen ihn gestellt, aufgrund derer ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung gegen ihn eingeleitet worden war. In diesem Verfahren hatte der Mann die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens über ihren Geisteszustand beantragt.
Noch ehe über diesen Antrag entschieden wurde, erhob der Beschwerdeführer wegen eines weiteren Streits Klage vor dem Verwaltungsgericht. In der Klageschrift äußerte er, "unter Berücksichtigung, … dass in der Sache die Leiterin des Rechtsamtes R., eine in stabiler und persönlichkeitsgebundener Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten befindlichen Persönlichkeit, deren geistig seelische Absonderlichkeiten und ein Gutachten zu deren Geisteskrankheit Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind, involviert ist", behalte er sich vor, "ein Ordnungsgeld in angemessener Höhe zu beantragen". Aufgrund dieser Äußerung verurteilten ihn die Strafgerichte wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Zwar handele es sich nicht um einen Fall der Schmähkritik, da ein Sachbezug nicht völlig fehle. Die gebotene Abwägung falle jedoch zugunsten des Persönlichkeitsrechts aus.
Abstrakter Wortlaut genügt nicht
In den anderen beiden Verfahren hielt das BVerfG die Verurteilung wegen Beleidigung aber für verfassungswidrig. Im Verfahren 1 BvR 362/18 ging es um Äußerungen eines Rechtsanwalts, der eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen Abteilungsleiter beim Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt erhoben hatte. Dabei ging es um Verfahrenskosten, um deren Bezahlung sich die Behörde aus Sicht des Rechtsanwalts drücken wollte. Das Verhalten des Abteilungsleiters, so der Anwalt, "sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an".
Die Strafgerichte verurteilten ihn daraufhin wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Durch die verwendete Formulierung "persönlich", "hinterhältig" und "asozial" sei es nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei.
Das BVerfG hielt dies aber für eine Verletzung der Meinungsfreiheit. Es handele sich bei der Äußerung um eine persönlich formulierte Ehrkränkung in Anknüpfung und unter Bezug auf eine fortdauernde Auseinandersetzung mit einem sachlichen Kern. Zu einer Verurteilung könne dies nur nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers führen. Die Gerichte hätten zwar das Erfordernis einer "Interessenabwägung" erwähnt, die Abwägung in der Sache aber nicht vorgenommen, sondern stellen allein abstrakt auf den Wortlaut der ehrverletzenden Äußerungen abgestellt. Verfassungsrechtlich geboten wäre aber eine Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen ist.
Schließlich könne sich auch die Verurteilung im Verfahren 1 BvR 1094/19 nicht auf den Gesichtspunkt der Schmähkritik oder der Formalbeleidigung stützen. Die Gerichte hatten einen Mann wegen Äußerungen über den damaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) verurteilt.
Äußerung über früheren NRW-Finanzminister Walter-Borjans zulässig
Hintergrund ist ein Streit um die Abzugsfähigkeit der Kosten eines Gerichtsverfahrens gegen den Rundfunkbeitrag. Der Mann erhielt mit dem Schriftverkehr auch ein Rundschreiben des Finanzministers, in dem es unter anderem hieß: "Steuern machen keinen Spaß, aber Sinn". Der Mann schrieb daraufhin im März 2017 an die Finanzbehörden: "Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzminister dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen (...) behandelt." Dafür wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Er habe den Finanzminister in seiner Person und Ehre gezielt herabgewürdigt.
Das BVerfG entschied jedoch auch in diesem Fall, dass die Entscheidung nicht von einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Abwägung getragen sei. Sie ließe keine hinreichende Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen ist, erkennen und zeigen nach Auffassung des Karlsruher Gerichts nicht auf, weshalb das Interesse an einem Schutz des Persönlichkeitsrechts des damaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers die erheblichen, für die Zulässigkeit der Äußerung sprechenden Gesichtspunkte überwiegt.
Außerdem berücksichtige die Entscheidung nicht, dass die Fähigkeit einer Person zur sachgemäßen Führung höchster öffentlicher oder politischer Ämter nicht Teil des grundlegenden sozialen Achtungsanspruchs sei. Das Gewicht der Meinungsfreiheit sei umso größer, je mehr die Äußerung darauf ziele, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten. Auch die Position einer Person in der Öffentlichkeit spiele eine Rolle. So könnten etwa einem Bundesminister härtere Äußerungen zuzumuten sein als einem Lokalpolitiker.
acr/LTO-Redaktion
BVerfG zur Verurteilung wegen Beleidigung: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41950 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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