Eine Frau spritzt ihrem sterbewilligen Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Überdosis Insulin. Der BGH hält das nicht für strafbar und spricht die Frau frei. Nicht sie, sondern ihr Mann habe das zum Tod führende Geschehen beherrscht.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer am Donnerstag veröffentlichten Entscheidung die Kriterien zur Abgrenzung einer strafbaren Tötung auf Verlangen von einer straflosen Beihilfe zum Suizid in einer Leitsatzentscheidung konkretisiert. Die Abgrenzung erfordere eine normative Betrachtung, so der Senat. Außerdem führe ein erklärter Sterbewille, der ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit gefasst wurde, zur situationsbezogenen Suspendierung der Einstandspflicht für das Leben des Ehegatten (Beschl. v. 28.06.2022, Az. 6 StR 68/21).
Hintergrund der Entscheidung ist der Fall einer ehemaligen Krankenschwester, die ihrem schwerkranken und bettlägerigem Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hatte. Sie hatte ihren Mann seit 2016 gepflegt, wobei dieser immer wieder den Wunsch geäußert hatte, sterben zu wollen. Das Paar kam darüber überein, dass kein Arzt geholt werden solle, wenn er seinem Leben ein Ende setzten wolle. Im Frühjahr 2019 wurde seine Schmerzen stärker und sein Zustand verschlechterte sich weiter. Nahezu wöchentlich sagte er, "gehen" zu wollen.
Im August 2019 litt der Mann erneut unter starken Schmerzen. Auch hochdosierte Schmerzmittel halfen nicht. Im Laufe des Abends forderte er seine Frau auf, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Sie fragte ihn, ob er keinen Abschiedsbrief schreiben wolle, weil sonst "noch alle denken" würden, dass sie ihn umgebracht habe. Er hielt dies zunächst nicht für nötig, schrieb dann aber mit zitternden Händen in ein Notizbuch, dass er unter den großen Schmerzen nicht weiterleben wolle, seiner Frau verboten habe, einen Arzt einzuschalten, und hoffe, dass sein Tablettenvorrat ausreiche, um von seinen großen Schmerzen erlöst zu werden. Seine Frau reichte ihm daraufhin die Tabletten, die er selbstständig einnahm und herunterschluckte.
BGH: Trotz aktivem Tun nur Beihilfe zum Suizid
Daraufhin forderte er sie auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen. Dies tat sie auch und verabreichte ihm eine tödliche Dosis von sechs Spritzen. Nachdem sie ihm die Spritzen verabreichte, fragte er sie noch, ob das auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, "nicht, dass er noch als Zombie" zurückkehre. Der Mann schlief daraufhin ein. Die Frau vergewisserte sich immer wieder, ob er noch atme, und stellte in der Nacht den Tod fest. Einen Arzt informierte sie aufgrund der Absprache mit ihrem Ehemann nicht. Er starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Die eingenommenen Medikamente wären auch tödlich gewesen, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Das Landgericht (LG) Stendal sah darin eine strafbare Tötung auf Verlangen gemäß § 216 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). Sie habe ihrem Mann aktiv handelnd die Insulinspritzen gesetzt. Obwohl er bei vollem Bewusstsein gewesen sei, habe er nicht bis zum Eintritt des Todes die Möglichkeit gehabt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sondern habe sein Leben in die Hand seine Frau gelegt.
Der BGH sah das anders. Die Frau habe "sich unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht". Ihr Verhalten stelle sich als straflose Beihilfe zum Suizid dar. Die aktive Verabreichung der Spritzen stehe dem nicht entgegen. Vielmehr komme es bei der Abgrenzung von einer strafbarer Tötung auf Verlangen von einer straflosen Beihilfe zum Suizid auf eine normative Betrachtung an. Eine Abgrenzung nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln sei dagegen nicht sinnvoll.
Fall liegt anders als "Gisela-Fall"
Nach Ansicht des BGH habe nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen beherrscht, sondern ihr Ehemann. Bei wertender Betrachtung hätten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt gebildet, über dessen Ausführung allein der Ehemann bestimmte. Dieser habe sich in erster Linie durch die selbst eingenommenen Medikamente umbringen wollen. Die Insulinspritzen seien lediglich zur "Sicherstellung des Todeseintritts“ gedacht gewesen. Beides zusammen sei „Gesamtplan“ eines einheitlichen Akts gewesen, den der Verstorbene selbst bestimmt habe. Auch sei es letztlich Zufall gewesen, dass das Insulin den Tod verursacht habe. Auch die zuvor geschluckten Tabletten seien dazu auch geeignet gewesen, hätten aber erst später wirken können.
Der BGH rekurrierte in der Entscheidungsbegründung auch auf den bekannten "Gisela-Fall" zum einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizid (Urt. v. 14.08.1963, Az. 2 StR 181/63). Damals hatte sich der Angeklagte mit der später verstorbenen und ebenfalls sterbewilligen Geschädigten in ein Auto gesetzt und mittels eines an das Auspuffrohr angeschlossenen Schlauchs Abgas in das Wageninnere strömen lassen. Er drückte dabei so lange aufs Gasbpedal, bis er die Besinnung verlor, überlebte aber. In diesem Fall hatte der BGH einen Freispruch vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen aufgehoben. Der Fall liege aber anders als der jetzt entschiedene Fall. Denn im Gisela-Fall sei der aktive Beitrag, also das Durchdrücken des Gaspedals, während des Zeitraums noch nicht abgeschlossen, in dem die Geschädigte sich noch hätte retten können. In dem nun entschiedenen Fall erschöpfe sich der aktive Beitrag der Angeklagten nach dem Gesamtplan demgegenüber darin, ihrem Mann die Insulinspritzen zu verabreichen. "Bis zuletzt" sollte sie das gesamte Geschehen dementsprechend nicht in der Hand haben.
BGH sieht Bedarf für verfassungskonforme Auslegung
Auch wenn es im Falle nicht mehr darauf ankam, verlor der Senat auch einige Worte zur Verfassungsmäßigkeit des § 216 Abs. 1 StGB. Der Senat "neigt zu der Auffassung", dass die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten Grundsätze zu § 217 Abs. 1 StGB auf § 216 Abs. 1 StGB übertragbar seien. Das BVerfG hatte 2020 erstmals entschieden, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben erwächst und § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbttötung unter Strafe stellte, für nichtig erklärt. Der BGH hält es deshalb für naheliegend, dass § 216 Abs. 1 StGB einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Suizidentscheidung selbst umzusetzen und darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.
Auch keine Strafbarkeit wegen Unterlassen
Raum für eine Unterlassungsstrafbarkeit sah der BGH ebenfalls nicht. Aus ihrer Garantenstellung als Ehefrau folge für das konkrete Geschehen keine Pflicht zur Abwendung des Todes. Ihr Mann habe ihr verboten, einen Arzt zu rufen. Der freie Sterbewille ihres Mannes habe zu einer situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben geführt, so der Senat.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz ist nach dem Urteil alarmiert. Vorstand Eugen Brysch sieht die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe verschwimmen. "Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben", sagte er der dpa. Damit sei "der Damm zur aktiven Sterbehilfe gebrochen". Er forderte den Bundestag auf, für Klarstellung zu sorgen. "Das Töten durch andere muss weiterhin verboten bleiben. Sonst nimmt der gesellschaftliche Druck auf alte, pflegebedürftige, schwerstkranke und behinderte Menschen zu."
Derzeit ringen die Abgeordneten noch um eine Nachfolgeregelung für den gekippten § 217 StGB. Im Raum stehen drei fraktionsübergreifende Entwürfe, die im Juni erstmals im Plenum diskutiert wurden.
* Um eine Passage ergänzte Version vom 20.08.22
BGH spricht Frau vom Vorwurf der strafbaren Tötung frei: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49294 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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