Steht der Herbst der Corona-Gerichtsentscheidungen an? Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einem ersten Hauptsacheverfahren eine Ausgangssperre nachträglich für unwirksam erklärt.
Es dürfte der Herbst der Hauptsacheentscheidungen zu den Corona-Maßnahmen werden. Nachdem unzählige Verwaltungsgerichte in Eilverfahren über Kontaktbeschränkungen, geschlossene Restaurants oder Friseurläden entschieden haben, stehen dazu nun Entscheidungen in der Hauptsache an. Dabei legen die Richterinnen und Richter einen anderen, tiefgreifenderen Prüfungsmaßstab an.
In den Eilverfahren hatten die Gerichte dagegen nur die Folgen abzuwägen: Welche Nachteile hätte es für den Antragsteller, wenn seine Klage am Ende Erfolg haben sollte, die Maßnahmen bis dahin aber weiter gelten würde, und was würde passieren, setzte man die angegriffene Corona-Maßnahme vorerst außer Kraft?
Eine erste Entscheidung in der Hauptsache kommt nun vom höchsten bayerischen Verwaltungsgericht, dem Verwaltungsgerichtshof in München. Die Verhängung einer "vorläufigen Ausgangssperre" in Bayern im März und April 2020 war nicht rechtmäßig und damit unwirksam, entschieden die Richterinnen und Richter am Montag (Beschl. v. 04.10.2021, Az. 20 N 20.767).
Besonders strenge Regelung in Bayern
Die damalige Regelung in § 4 Abs. 2 und 3 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ist aus formellen und materiellen Gründen unwirksam. Das geht aus dem 31-seitigen Beschluss hervor, der LTO vorliegt.
Am 24. März 2020 hatte die Bayerische Landesregierung, als erstes Bundesland, per Verordnung strenge Ausgangsbeschränkungen erlassen, sie galt rückwirkend ab dem 21. März 2020. Danach durfte die eigene Wohnung nur verlassen, wer einen triftigen Grund hatte. Das konnte etwa der Weg zur Arbeit oder ein Arztbesuch sein. Die Beschränkungen galten bis zum 19. April 2020. Bayern war mit seiner Regelung noch über den damaligen Bund-Länder-Beschluss hinausgegangen. Der hatte empfohlen, dass im Freien nur noch ein Treffen von maximal zwei Personen möglich sein soll. Die zweite Person konnte auch eine Person sein, die nicht zum eigenen Hausstand gehört.
Gegen die bayerische Ausgangssperre richteten sich mehrere Bürgerinnen und Bürger mit Eilanträgen. Nach dem Verfassungsgerichtshof Bayerns bestätigte aber auch der VGH die Maßnahmen – damals noch in einem Eilverfahren. Der VGH entschied damals im Sinne eines überwiegenden öffentlichen Interesses am Gesundheitsschutz und befand sich damit auf einer Linie mit den deutschlandweit an Verwaltungsgerichten getroffenen Entscheidungen. Auch beim Bundesverfassungsgericht blieben die Anträge gegen die bayerische Ausgangssperre im April 2020 ohne Erfolg.
Nun hat der VGH sich aber im Hauptsacheverfahren noch einmal mit der Maßnahme befasst. Zwar habe das Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine ausreichende gesetzliche Grundlage geboten, die in der Verordnung bestimmte Maßnahme sei aber unverhältnismäßig gewesen, entschied der Senat.
Dass die Rechtsgrundlage im IfSG "recht offen" formuliert sei, sorge noch nicht für Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Befugnisnorm. Denn: "Gerade im Hinblick auf 'bedrohliche übertragbare Krankheiten', also übertragbare Krankheiten, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen können (§ 2 Nr. 3a IfSG), bedarf es – zumal vor dem Hintergrund neu auftretender, noch nicht hinreichend erforschter Krankheiten – einer relativ offenen Rechtsgrundlage", heißt es im Beschluss. Ein Korrektiv gegenüber dieser Offenheit sei die Beschränkung auf "notwendige Schutzmaßnahmen". Die Verwaltung wird bei der Auswahl ihrer Maßnahmen also in ihrem Ermessen besonders begrenzt.
Einschätzungsspielraum, aber auch strenge gerichtliche Überprüfbarkeit
Bei der Corona-Pandemie habe es sich um eine neuartige Bedrohung gehandelt, die auch nicht mit den Grippepandemien 1957 bis 1959, 1968 und 1977 vergleichbar gewesen sei, da zu diesen Zeiten sowohl klinische und epidemiologische Erkenntnisse über Grippe-Erkrankungen als auch entsprechende Impfstoffe vorhanden waren, führt der Gerichtshof aus. "Dabei kam im maßgeblichen Zeitraum der Geltungsdauer der Norm der Einschätzung des RKI besondere Bedeutung zu, denn nach § 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist das Robert Koch-Institut die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen."
Bei der Einschätzung durch die Landesregierung stehe ihr aufgrund der unsicheren Lage ein Einschätzungsspielraum zu. Der VGH kann in der Hauptsacheentscheidung auch keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass Bayern bei der Einordnung von Covid-19 als bedrohliche übertragbare Krankheit seinen Einschätzungsspielraum überschritten habe. Sodann kommt es für den Senat aber auf die genaue Überprüfung der einzelnen getroffenen Maßnahmen an – und dort hat er nun eine Menge auszusetzen.
Zur Ausgangssperre hätte es mildere, gleich geeignete Alternativen gegeben
Zwar sei generell die Ausgangssperre ein taugliches Mittel zur Kontaktreduzierung, es hätten allerdings, so der VGH, gleich geeignete weniger belastende Mittel zur Verfügung gestanden. So hätten Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum den gleichen Effekt erzielen können, hätten aber den Aufenthalt im Freien für die Bürgerinnen und Bürger weiter zugelassen. So hatte es auch der Bund-Länder-Beschluss im März 2020 empfohlen.
Wie die bayerische Landesregierung in dem Verfahren vor dem VGH noch einmal bekräftigte, habe man diese Bund-Länder-Empfehlung für nicht ausreichend gehalten. Durch die Beschränkung in Bayern auf Kontakt im Freien mit Angehörigen des eigenen Hausstandes sei gewährleistet worden, dass Kontakt in der Öffentlichkeit nur mit den Personen bestand, mit denen sich auch ein Kontakt zu Hause "nicht vermeiden ließ". Damit sei die Gefahr, dass das Coronavirus in den Hausstand hineingezogen werde, bereits reduziert worden, so die Landesregierung. Die Bundesempfehlung habe dagegen dazu geführt, dass man sich über den Tag verteilt mit einer Vielzahl von Personen habe treffen können.
Der VGH zeigt sich von dieser Argumentation nicht überzeugt. Offen bleibe, warum ein Verhalten, welches für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, nämlich das Verweilen alleine oder mit den Personen seines Haushalts im Freien außerhalb der eigenen Wohnung, ebenso der Ausgangsbeschränkung unterworfen worden sei. Dass eine solche Beschränkung notwendig gewesen sei, um Ansammlungen zu vermeiden, wollen die Richterinnen und Richter nicht erkennen. Zudem haben sie Zweifel, ob die bayerische Ausgangssperre hinsichtlich ihrer Durchsetzung praktikabel und damit wirkungsvoll gewesen ist.
Dass zwischen Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und einer Ausgangsbeschränkung im Hinblick auf die Eingriffsintensität und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein gradueller Unterschied bestehe, bestätigt aus Sicht des Gerichts auch die mittlerweile erfolgte Einschätzung des Bundesgesetzgebers. Der hat in § 28a Abs. 2 IfSG festgelegt, dass Ausgangsbeschränkungen nur angeordnet werden können, wenn Kontaktbeschränkungen im öffentlichen und privaten Raum wirksame Eindämmung nicht mehr möglich erscheinen lassen.
Dass der VGH die damals geltende Regel nun nachträglich als unwirksam erklärt, hat nur noch feststellenden Charakter. Es dürfte aber der Auftakt sein zu einer ganzen Reihe von gerichtlichen Überprüfungen der getroffenen Corona-Maßnahmen. Die Verwaltungsgerichte kommen nun mit ihren Hauptsacheprüfungen zum Zug.
Im Verfahren gegen die bayerische Ausgangssperre hat der VGH die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen - wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache.
BayVGH hat in der Hauptsache entschieden: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46217 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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