100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts hat sich in Deutschland in Sachen Gleichberechtigung viel getan. Doch es werden weitere Anstrengungen gefordert, u. a. ein Paritätsgesetz für die Wahlen zum Deutschen Bundestag.
"Meine Herren und Damen, es ist das erste Mal in Deutschland, dass die Frau als Freie und Gleiche zum Volke sprechen darf", sprach die SPD-Politikerin Marie Juchacz vor 100 Jahren vor der Weimarer Nationalversammlung. "Heiterkeit" vermerkte das Protokoll zur Reaktion im Hohen Haus. Am 19. Januar 1919 wurden Juchacz und 36 weitere Frauen ins deutsche Parlament gewählt - in der ersten bundesweiten, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl, bei der Frauen ihre Stimme abgeben durften.
Mehr als 80 Prozent der Bürgerinnen nutzten damals ihr neues Recht, erstritten und erkämpft von Frauen wie Clara Zetkin und Hedwig Dohm mit der Forderung "Frauen in die Parlamente". Sie reihten sich ein in lange Schlangen vor den Wahllokalen. Auswertungen in einzelnen Stimmbezirken zeigen, dass die Frauen anders abstimmten als ihre Ehemänner, Väter und Söhne: überraschenderweise konservativer und seltener für die SPD. Ohne sie hätten die SPD und das linke Lager wohl die absolute Mehrheit erzielt, wird heute spekuliert.
300 Frauen kandidierten im Januar 1919 selbst. 37 von ihnen, meist SPD-Mitglieder, schafften es in die Nationalversammlung - ein Anteil von etwa 9 Prozent. Erst mit den Frauen im Parlament sei die Weimarer Republik zur ersten deutschen Republik geworden, die auf den Prinzipien der Demokratie gründete, schreibt Elke Büdenbender, Ehefrau von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel. "Denn ohne Freiheit gibt es keine Demokratie, und echte Freiheit gibt es erst mit der Freiheit von Männern und Frauen."
Frauenanteil im Bundestag 2017 geschrumpft
Ein Jahrhundert nach dieser denkwürdigen Wahl stehen in so gut wie jeder Bundestagsdebatte Frauen am Rednerpult. Doch das einmal erstrittene Recht sei noch lange nicht automatisch und für immer garantiert, warnen Politikerinnen. "Wir müssen aufpassen, dass der Zug nicht rückwärts rollt", sagte die frühere SPD-Frauenministerin Christine Bergmann am Donnerstag im Bundestag. Es werde wieder salonfähig, Frauenrechte und Chancengleichheit infrage zu stellen. Bei Männern, aber auch bei einigen Frauen, lebe eine Sehnsucht nach alten Rollenbildern wieder auf.
Nach der Bundestagswahl 2017 schrumpfte der Frauenanteil im Bundestag von mehr als 36 auf nicht einmal 31 Prozent - das Niveau von 1998. Es sei "wünschenswert", dass sich das wieder umkehre, sagt Bundespräsident Steinmeier. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) ist nicht zufrieden: In allen Parteien seien Frauen unterrepräsentiert, es gebe viel zu wenige Bürgermeisterinnen und Landrätinnen. Im November schon warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aus der Tatsache, dass es mich gibt, darf kein Alibi werden."
Wahlrechtsänderung unter Juristen umstritten
Über Parteigrenzen hinweg rufen Frauen nach einer Quote, nach Parität im Parlament. "Frauen sind die Hälfte des Volkes und müssen auch entsprechend vertreten sein", sagte Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) gerade der Rheinischen Post. Für echte Gleichstellung müsse noch immer viel gestritten werden. "Da geht es um gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit, um Wertschätzung und Anerkennung der sozialen Berufe und um spürbar mehr Frauen in Führungspositionen - sei es in der Wirtschaft oder in der Politik." Justizministerin Katarina Barley will das Wahlrecht so ändern, dass mehr Frauen in die Parlamente gewählt werden.
Ob dies verfassungsrechtlich zulässig ist, ist aber umstritten. Auch auf LTO gehen die Meinungen dazu auseinander: Die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Maria Wersig, sprach sich für den Vorschlag von Barley aus, Staatsrechtslehrer Klaus F. Gärditz von der Uni Bonn hält ein solches Vorgehen dagegen für unzulässig.
Rechtlich gleichgestellt, aber auch faktisch?
De jure, nach dem Gesetz, stünden Frauen heute gleichauf mit Männern, bilanziert Büdenbender. "De facto tun sie es oft nach wie vor nicht." Immer noch machten Frauen häufig die Erfahrung, dass Beruf und gesellschaftliches Leben, Karrierewege und Lebensgestaltung nach Spielregeln liefen, die Frauen nicht mitgestaltet hätten. "Und die, sicher auch deshalb, oft nicht mit ihren Lebensentwürfen, -vorstellungen und -träumen zu verbinden sind."
Große Schritte hat Deutschland trotzdem getan, seit 1919 die erste Frau ihr Kreuz auf einen Wahlzettel setzte. Doch es dauerte. Bis 1977 schrieb das Bürgerliche Gesetzbuch noch vor, dass Frauen nicht ohne die Zustimmung ihres Mannes arbeiten dürfen. Bis 1958 konnte der Mann den Arbeitsvertrag seiner Frau sogar einfach fristlos kündigen. Noch 1970 war es eine Sensation, als die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer im Hosenanzug im Bundestag erschien.
Der nächste Schritt müsse sein, dass sich Frauen noch aktiver politisch beteiligten, auch auf kommunaler und regionaler Ebene, sagt die frühere Bundestagspräsidentin und Frauenministerin Rita Süssmuth (CDU). "Wir können und wollen das, dann wird es uns auch gelingen." Wie es noch weiter gehen könnte, zeigte Anfang der Woche Bundespräsident Steinmeier. Sein eigenes Amt sei das einzige, das bisher noch nicht von einer Frau ausgefüllt wurde, sagte er. "Die Betonung liegt auf bisher."
dpa/mam/LTO-Redaktion
100 Jahre Frauenwahlrecht: . In: Legal Tribune Online, 17.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33285 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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