Endlich ist sie da, die Verkleinerung des Bundestags. Doch die inkonsistente Schwächung der Wahlkreiswahl geht zu weit und trübt die demokratische Freude, meint LTO-Chefredakteur Felix W. Zimmermann.
Zunächst meinen Respekt an die Abgeordneten, die aus Staatsräson für eine Reform gestimmt haben, die zum Verlust des eigenen Jobs führen kann. Nach jahrelanger Diskussion hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Ampel die Verkleinerung des Bundestags endlich durchgesetzt. Nun sollen es 630 Sitze sein, immerhin dicht dran an der bislang gesetzlich vorgesehenen Größe von 598. Die Verkleinerung ist dringend notwendig: Warum der Bundestag das größte Parlament eines demokratischen Staates sein muss und mit deutlich über 700 viel mehr Abgeordnete hat als das amerikanische Repräsentantenhaus (435), das indische Parlament (534) oder die Abgeordnetenkammer in Brasilien (513) und dadurch dem Steuerzahler Millionen Mehrkosten verursacht, ist niemanden zu vermitteln.
Und: Die Reform betrifft alle Parteien. Denn der Wegfall der Überhangmandate führt zugleich zum Wegfall von Ausgleichsmandaten, die bislang sicherstellen, dass die Verhältnisse im Bundestags stimmen.
Auch der prinzipielle Ansatz, wie die Schrumpfung erreicht werden soll, nämlich durch eine Schwächung der Bedeutung von Wahlkreisen, geht im Grundsatz demokratietheoretisch in Ordnung. Von nun an können "schlechte" Wahlkreis-Gewinner leer ausgehen, wenn ihr Einzug ins Parlament von der Zweitstimme nicht gedeckt ist (Beispiel: Nach Zweitstimme stehen Partei A zehn Sitze zu, Sie hat in elf Wahlkreisen die meisten Stimmen, die Person mit dem schlechtesten Wahlkreisresultat geht dann leer aus).
Zu Recht wies der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Stephan Thomae heute daraufhin, dass das Gesetz definiert, wer ein Wahlkreisgewinner ist. Bislang konnten sich Abgeordnete schon mit 18,6 Prozent der Erststimmen als Sieger fühlen, wenn kein Gegenkandidat mehr erreicht hatte. Dass das Gesetz nun sagt: "So sehen keine Sieger aus", ist nicht unplausibel.
So sehen Sieger aus
Nur: Nach dem neuen Wahlrecht wäre es auch möglich, dass ein Wahlkreiskandidat 51 oder auch 70 Prozent der Stimmen erreicht und trotzdem nicht ins Parlament einzieht, wenn seine Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Denn dann steht ihr überhaupt kein Sitz im Parlament zu, sodass der jeweilige Kandidat – wegen des Deckungserfordernisses – auch nicht in den Bundestag einziehen darf. Für einen solchen Fall hätte es daher auf der Hand gelegen, die Fünf-Prozent-Hürde außer Kraft zu setzen. Aber die Ampel machte sogar das Gegenteil: Für das Gesamtkonzept völlig unnötig strich sie überraschend im letzten Entwurf die sogenannte Grundmandatsklausel, die bislang sicherstellte, dass bei drei erzielten Direktmandanten die Partei trotz Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde in den Bundestag einziehen kann.
"Die nicht unrealistische Möglichkeit, dass die Wahlkreisabgeordneten für fast ein ganzes Bundesland wegfallen, könnte die Integrationsfunktion der Wahl wesentlich beeinträchtigen und den Gesetzentwurf verfassungswidrig machen", führte der Wahlrechtsexperte Sebastian Roßner auf LTO aus. Das bayerische Szenario einer CSU, die zwar über vierzig Wahlkreise gewinnt, aber nicht im Bundestag vertreten ist, weil sie womöglich in Zukunft einmal unter die Fünf-Prozent-Hürde fällt, zeige das Problem der neuen Regelung.
Das findet nicht nur die Bürgerrechtsorganisation "Mehr Demokratie" "demokratiepolitisch bedenklich". Die Streichung sei unnötig, um das Ziel einer Bundestags-Verkleinerung zu erreichen, heißt es in dem in einem Brief an alle 736 Bundestagsabgeordneten.
Auch die sachverständigen Mitglieder der Wahlrechtskommission des Bundestags waren über die Streichung der Grundmandatsklausel offenbar überrascht. Wie die tageszeitung berichtete, lehnten fast alle der Sachverständigen die Reform in ihrer jetzigen Form ab. Selbst die von der Ampel benannten Professorinnen und Professoren Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers hatten die Beibehaltung der Klausel für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs als "unabdingbar" angesehen.
Starke Wahlkreissieger – demokratisch besonders legitimiert
Man kann ja über die Grundmandatsklausel an sich diskutieren. Dass eine Partei unter fünf Prozent der Zweitstimmen erzielt, aber trotzdem in den Bundestag einzieht, weil es mindestens drei siegreiche Direktkandidaten gibt, müsste nicht sein. Aber die Klausel zu streichen und gleichzeitig siegreiche Direktkandidaten leer ausgehen zu lassen, obwohl das Zweitstimmenergebnis den Einzug in den Bundestag rechtfertigt, geht zu weit. Das zeigt das obige CSU-Beispiel eindrücklich.
Kürzung der Direktmandate ja, aber vollständiger Wegfall ist unter Demokratieaspekten mehr als unschön, womöglich verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hatte in einer Entscheidung von 1997 grundsätzlich die Bedeutung von Direktmandaten betont. Gerade bei Direktmandaten könne der Gesetzgeber in diesem Erfolg ein Indiz dafür sehen, "dass diese Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen", hieß es.
Für notwendig erklärte das BVerfG die Direktmandate zwar nicht, aber das Gericht legt bekanntlich Wert auf Konsistenz des Wahlrechts. Die liegt bei dieser Reform nicht vor. Auch deswegen, weil Wahlkreiskandidaten Parteifreunde, die nur auf der Liste stehen, weiter ausstechen. Auch nach der Reform wird also für die Frage, wer ins Parlament einzieht, entscheidend auf die Willensbildung des Volkes durch die Wahlkreisstimme abgestellt. Da ist es schlicht inkonsistent, wenn die Mechanik des Gesetzes zu einem Ergebnis führen kann, in der ein klarer Wahlkreissieger nicht Mitglied des Bundestages wird.
Ampel geht ins Risiko – völlig unnötig
Dabei liegen Alternativen auf der Hand: So hatte der Wahlrechtsexperte Professor Bernd Grzeszick etwa eine Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde oder deren Regionalisierung zur Stärkung des Föderalismus (es käme nicht auf Fünf-Prozent bundesweit, sondern nur innerhalb eines Bundeslandes an) vorgeschlagen. Damit könnte dann sicher auch die CSU in Bayern leben. Außerdem könnte die Fünf-Prozent-Hürde bei der Frage, ob Direktmandate von der Zweitstimme gedeckt sind, außen vorgelassen werden.
Zu hoffen ist, dass die Ampel nochmal flankierende Regelungen zum Gesetz angeht, etwa um regionale Komponenten besser zu berücksichtigen. Hierfür erklärte sich FDP-Mann Thomae im Bundestag offen. Doch Stand jetzt geht die mit der Änderung erzielte, durchaus lobenswerte Verkleinerung des Parlaments mit einer völlig unnötigen Schrumpfung von Demokratie einher.
Die Hau-Ruck-Aktion mit der Grundmandatsklausel ist nach all den Jahren der Diskussion ein unwürdiger Gesetzgebungsakt, der vom Bundesverfassungsgericht möglicherweise wieder gekippt wird.
Ergänzende Überarbeitung am Tag der Veröffentlichung, 19:25 Uhr
Bundestag stimmt für eigene Verkleinerung: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51344 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag