Justizminister Buschmann verzichtet darauf, die Videoaufzeichnung durchzusetzen. Eine gute Idee – so kann er die progressiven Kräfte in der Justiz auf seine Seite bringen, meint LTO-Redakteurin Annelie Kaufmann.
Wenige Reformen hat die deutsche Justiz so vehement, so lange und so geschlossen bekämpft, wie die Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafverfahren - die in vielen anderen europäischen Ländern längst üblich ist. Ausgerechnet die Tradition, dass sich ein OLG-Richter mit Kugelschreiber und Collegeblock bewaffnet, um in einer umfangreichen Hauptverhandlung zu schweren Straftaten mitzuschreiben, was in der Verhandlung gesagt wird, wollte man offenbar um jeden Preis verteidigen.
Eine andere Gedächtnisstütze gibt es bisher in der Regel nicht, für erstinstanzliche Strafverfahren an Landgerichten und Oberlandesgerichten ist bisher nur ein Protokoll vorgesehen, in dem lediglich Ort und Tag der Verhandlung, Angaben zum Gericht und zu den Beteiligten, die Straftat und wenige andere Angaben festgehalten werden.
Als Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) Ende vergangenen Jahres einen entsprechenden Referentenentwurf vorstellte, bekam er prompt scharfe Stellungnahmen vom Deutschem Richterbund, von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte und von den Generalstaatsanwaltschaften zurück. Und auf dem Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar genügte schon, dass Buschmann nur das Wort "Video" aussprach, damit das Publikum in laute Buhrufe ausbrach.
Nun verzichtet Buschmann darauf, die Videoaufzeichnung durchzusetzen. Stattdessen müssen die Länder bis 2030 nur eine Tonaufzeichnung und eine automatisierte Transkription einführen, sodass den Beteiligten ein Textdokument mit dem Wortlaut der Verhandlung zur Verfügung steht. Also bloß ein halber Schritt, mit dem Deutschland im europäischen Vergleich weiter hinterherhinkt?
Videoaufzeichnung ausprobieren
Nein, der neue Gesetzentwurf ist besser als der alte und er bietet die Möglichkeit, auf eine diplomatische Art und Weise doch noch zur audio-visuellen Aufzeichnung zu kommen. Entscheidend ist: Die Verhandlung wird aufgezeichnet, aber handschriftliche Notizen sind nicht mehr die alleinige Grundlage der Entscheidung. Die Videoaufzeichnung bleibt eine Option. Die Tonaufzeichnung ist unauffälliger, sie kann von allen Beteiligten besser akzeptiert werden. Sie lässt sich auch in den Gerichtssälen schneller, einfacher und kostengünstiger einführen. Die Gerichte bekommen etwas mehr Zeit.
Das ist aber kein Sieg für die Spitzenlobbyisten der Justiz, die eine Videoaufzeichnung unbedingt verhindern wollten, sondern vor allem eine Chance für diejenigen in der Justiz, die grundsätzlich für eine Dokumentation sind, aber speziell bei der Videoaufzeichnung auch Bedenken haben. Die Neue Richtervereinigung etwa, der kleinere der beiden Berufsverbände, hat eine Tonaufzeichnung ausdrücklich begrüßt. Der BGH-Richter Andreas Mosbacher wirbt schon lange für die Tonaufzeichnung. Für viele junge Richter ist es ohnehin ziemlich abwegig, dass es so weitergehen soll wie bisher. Dass zumindest die Tonaufzeichnung künftig ein Muss ist, kommt ihnen entgegen.
Jetzt wäre es gut, wenn sich ein paar progressive Oberlandesgerichte oder Landgerichte finden, die bereit sind, auch die Videoaufzeichnung auszuprobieren. Dann wird man sehen, welches System in der Praxis tatsächlich am besten funktioniert. Zettel und Stift bleiben ja trotzdem jedem Richter unbenommen.
Tonaufzeichnung muss, Videoaufzeichnung kann: . In: Legal Tribune Online, 06.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51509 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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