In anderen Geschäftsbereichen ist sie längst Realität, jetzt soll "Predictive Analysis" auch die Welt des Rechts erobern. Mit Hilfe digitaler Tools könnte dann frühzeitig abgeklärt werden, ob ein Rechtsstreit zum Erfolg führt.
Auf der Konferenz "Berliner Legal Tech 2018" wird die Vision am Freitag konkret: Große digitale Datenbanken, in die tausende Gerichtsurteile eingespeist werden, sollen künftig das Leben erleichtern und die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits voraussagen. Nutznießer könnten Rechtsuchende, aber auch Rechtsschutzversicherer oder Prozessfinanzierer sein. Doch noch fehlt es in Deutschland an den entsprechenden Voraussetzungen.
Was für andere Wirtschaftsbereiche nicht neu ist, klingt für den Rechtsbereich noch ein Stück weit utopisch: Der Rechtsuchende gibt Eckdaten eines Sachverhalts in ein digitales Tool ein und erhält nach Auswertung eine belastbare Aussage darüber, ob der Gang zum Rechtsanwalt sinnvoll ist oder er lieber darauf verzichten sollte, weil die Erfolgsaussichten später vor Gericht gering erscheinen.
Derartige "Predictive Analysis" ist in anderen Wirtschaftsbereichen längst Realität. So ist im Bankenwesen das Kredit-Scoring per Schufa-Verfahren nichts anderes als eine prädiktive, also vorhersagbare Analyse darüber, ob ein möglicher Kredit vom potentiellen Kunden zuverlässig zurückgezahlt werden wird. "Für Juristen ist das allerdings noch ziemliches Neuland", erläutert Thomas Kohlmeier. Der gelernte Rechtsanwalt ist Mitgründer sowie Co-Geschäftsleiter des Prozessfinanzierers Nivalion AG, der im sogenannten Highend-Bereich ab einem Streitwert von 10. Millionen Euro tätig wird. Für ihn liegen die Vorteile derartiger Analysen auf der Hand: Wenn sich der Ausgang eines Rechtsstreits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt, lassen sich die geschäftlichen Risiken für den Prozessfinanzierer deutlich minimieren.
Unzureichende Daten in Deutschland
Ob die Entwicklung in Deutschland allerdings, wie es sich manche wünschen, zeitnah an Fahrt aufnehmen wird, bleibt abzuwarten. Denn noch fehlt es an der wichtigsten Voraussetzung für zuverlässige Aussagen zum Ausgang eines Rechtsstreits: Eine belastbare Rechtsprechungsdatenbank, in der nicht nur obergerichtliche, sondern auch die große Masse an Amts- und Landgerichts-Entscheidungen dokumentiert sind.
Dass eine solche umfassende Datenbank nicht existiert, wird von Legal Tech-Juristen wie dem Hamburger Rechtsanwalt Jan Stemplewski bemängelt. Der Gründer des Start-Ups Holiday Hero hat sich die Mühe gemacht, die aktuell vorhandenen Datenbanken – etwa bei Verlagen – zu überprüfen. Bei den Zivilsachen ist sein Ergebnis ernüchternd: Von tatsächlich 536.000 ergangen AG-Entscheidungen im Jahr 2015 fänden sich nur 3.300 dokumentiert, gerade einmal 0,6 Prozent. Zu wenig, um als Datengrundlage für zuverlässige Prognosen zu taugen. "Hier muss sich etwas ändern", fordert der Jurist.
Ein Grund, warum sich manche Richter schwer tun, ihre Entscheidungen in Datenbanken einzuspeisen, sind auch datenschutzrechtliche Bedenken, etwa im Hinblick auf die notwendige Anonymisierung der Prozessbeteiligten. Aus Sicht von Stemplewski sollte das aber kein Problem sein: "Mit entsprechenden Programmen lassen sich die Word-Dateien der Richter unproblematisch automatisch anonymisieren". Der Anwalt sieht in diesem Punkt den Staat in der Pflicht: Dieser sollte den rechtlichen Rahmen für eine solche Rechtsprechungsdatenbank schaffen, fordert er im Gespräch mit LTO. Ähnlich sieht es auch Jan Klostermann, Head of Innovation beim Wissens- und Informationsdienstleister Wolters Kluwer, zu dem auch LTO gehört: Der Staat sollte die statistischen Daten der Justiz, die er ja ohnehin erhebe, als Open Data zur Verfügung stellen. Klostermann verweist auf Spanien, wo der Staat dies längst praktiziere.
"Für Anwälte wird’s dramatisch"
Rechtsanwalt Thomas Kohlmeier appelliert darüber hinaus auch an die juristischen Verlage, ihre Datenbanken für die Predictive Analysis nutzbar zu machen. Wenn er von den Entwicklungen berichtet, die das Thema in den USA schon genommen habe, gerät er fast ins Schwärmen: "Dort existieren Programme, die auf belastbarer Datengrundlage Schriftsätze scannen und auf ihren juristischen Bedeutungsgehalt überprüfen. Die Maschine erkennt also den Sinnzusammenhang des Textes und kann so auf juristische Knackpunkte hinweisen," begeistert er sich im Gespräch mit LTO.
Sollte sich die Predictive Analysis auch in Deutschland ähnlich entwickeln, werden sich nach Meinung der Experten insbesondere im alltäglichen, juristischen Massengeschäft die Rechtsanwälte warm anziehen müssen. "Wenn der Rechtssuchende zu Hause für sich per digitalem Tool abklären kann, ob der Gang zum Anwalt für ihn überhaupt Sinn macht, wird’s für Anwälte dramatisch", so Kohlmeier. "Im Consumer-Bereich, insbesondere bei der Erstberatung, wird Legal-Tech dann die anwaltliche Tätigkeit ersetzen", prophezeit er. Und auch die Rechtsschutzversicherer könnte es hart treffen: "Wieso soll ich noch eine Versicherung kaufen, wenn Legal Tech die Erfolgsaussichten prüft und gegebenenfalls dann selbst die Kosten für den Rechtsstreit übernimmt", so Kohlmeier gegenüber LTO.
Bei der Anwaltschaft ist man sich der möglichen Konsequenzen offenbar bewusst. "Wir haben eine Task-Force gegründet, das Thema steht unter Beobachtung", so der Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Ulrich Schellenberg, am Freitag in Berlin. Legal Tech wird laut Schellenberg zwar niemals dazu führen, dass "die anwaltliche Tätigkeit durch Maschinen ersetzbar" werde. Allerdings werde schon jetzt ein Mythos des Anwaltsberufs durchaus in Frage gestellt: "Unser Wissensmonopol", so Schellenberg. Legal Tech werde zu tiefgreifenden Veränderungen für die Anwaltschaft führen. "Und zwar nicht nur bei standardisierten Verfahren."
Hasso Suliak, Predictive Analysis: . In: Legal Tribune Online, 24.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27193 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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