Die Ära Trump, der Ukraine-Krieg oder auch der Taiwan-Konflikt zeigen: Die Zeiten der Annäherung zwischen China und den USA sind vorbei. Wie sich Unternehmen auf die neue Ausgangslage einstellen können, erklärt Boris Schilmar.
Die großen Volkswirtschaften China und USA – und in deren Gefolge auch die Länder der Europäischen Union - haben in den letzten Jahrzehnten ihre Wirtschaftsbeziehungen immer enger miteinander verflochten. Seit einigen Jahren legen sie jedoch den Rückwärtsgang ein. Es kommt zur gegenseitigen Verwehrung von Marktzugängen, steigenden Zöllen und Sanktionen. Regional begrenzte technologische und industrielle Standards, die Trennung von Forschung und Entwicklung, Ausfuhrstopps für Rohstoffe und Zulieferprodukte und nicht zuletzt einander ausschließende Rechtsvorschriften haben einen Decoupling-Prozess angestoßen, der sich für viele Unternehmen als unerwartet komplex erweist.
Die anstehenden Herausforderungen bedürfen einer individuellen Lösung unter Beteiligung der Rechts- bzw. Compliance-Abteilung, denen Organisation und Überwachung der in aller Regel dynamisch ablaufenden Decoupling-Prozesse obliegen. Zu klären ist unter anderem, welche Fachabteilungen in den Prozess zu involvieren sind und in welcher Form sich die Ergebnisse eines Geopolitical Impact Scan rechtlich be- und verwerten lassen. Darüber hinaus gilt es, konkrete juristische Fragestellungen zu beantworten - beispielsweise wie Unternehmen und Vorstand vor Rechtsrisiken geschützt werden können.
Ansätze für eine rechtliche Analyse des Decoupling-Prozesses
Je nachdem wie die politische Konfrontationsstellung zwischen den USA und China eskalieren und wie sich die europäische Politik in dieser Auseinandersetzung positionieren wird, werden rechtliche Aspekte stärker in den Vordergrund rücken.
Sorgfaltspflichten des Vorstandes/Geschäftsführers
Bei den im Zusammenhang mit einer geostrategischen Neuorientierung, vielleicht sogar grundlegenden Änderungen der eigenen globalen Wertschöpfungskette zu treffenden Entscheidungen wird das Handeln des Vorstandes am Sorgfaltsmaßstab "eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters" (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG; ähnlich § 43 Abs. 1 GmbHG) gemessen. Sorgfaltspflichtverstöße können im Fall eines dem Unternehmen entstandenen Schadens bekanntermaßen eine persönliche und grundsätzlich unbeschränkte Binnenhaftung des Vorstandes bzw. Geschäftsführers gegenüber der Gesellschaft begründen (§ 93 Abs. 2 S. 1 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG).
Eine zentrale Sorgfaltspflicht des Vorstandes besteht dabei im Bestandserhalt des Unternehmens und dessen dauerhafter Rentabilität (Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rz. 7 sowie § 76 Rz. 34). Je nach Einzelfall kann der (Teil-)Rückzug aus einem Land durchaus das Potenzial haben, die dauerhafte Rentabilität eines Unternehmens zu gefährden, wenn nicht Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Aus dem Grundgedanken heraus, dass unternehmerische Entscheidungen selten risikolos sind und dem Vorstand die Möglichkeit erhalten bleiben muss, unter Abwägung von Risiken Entscheidungen zu treffen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls als fehlerhaft und kostenträchtig erweisen könnten, gesteht die in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG normierte business judgment rule dem Vorstand im Rahmen der Sorgfaltspflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einen relativ weiten Ermessensspielraum zu.
Die Parameter einer nach der business judgment rule ermessensfehlerfreien Vorstandsentscheidung müssen bei jeder Änderung der Geostrategie eines Unternehmens berücksichtigt und eingehalten werden. Insbesondere sollten diesbezügliche unternehmerische Entscheidungen strikt am Interesse der Gesellschaft ausgerichtet, die Abwägungsprozesse auf hinreichender Informationsgrundlage und unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte geführt und nachvollziehbar dokumentiert werden.
Sanktionsrechtliche Pflichten
Naheliegend ist sodann das Erfordernis, die US-Sanktionen sowie die chinesischen Sanktionen im Blick zu behalten und das Sanctions Monitoring in den bestehenden Compliance-Strukturen und dem möglicherweise ohnehin bereits geforderten sanktionsrechtlichen Compliance-Organisation abzubilden: So drohen deutschen Unternehmen mit Interessen in China vor Ort konkrete rechtliche Risiken und die zivilrechtliche sowie strafrechtliche Ahndung von Compliance-Verstößen. Für die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben in allen einschlägigen Jurisdiktionen entlang der Wertschöpfungskette des individuellen Unternehmens trägt der Vorstand bzw. die Geschäftsführung die Letztverantwortung.
Dabei wird es vor allem darauf ankommen, die laufende Überwachung des dynamischen Sanktionsumfeldes in die bestehenden Compliance-Strukturen zu integrieren und so das Management in die Lage zu versetzen, auf Änderungen der politischen und weltwirtschaftlichen Situation schnell, zielsicher und nachhaltig zu reagieren.
Konkretisierte Sorgfaltspflichten nach dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz
Bei der juristischen Analyse und Vorbereitung von Vorstandsentscheidungen bietet das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) Orientierung in der systematischen Vorgehensweise und der Interpretation der gebotenen Sorgfaltspflichten des Unternehmens sowie der Mitglieder des Vorstands. Strukturell gibt das LkSG Unternehmen (auch Tochtergesellschaften ausländischer Unternehmen) mit Sitz in Deutschland und mehr als 3.000 Arbeitnehmer:innen mit Wirkung ab 1.1.2023 einen rechtsverbindlichen Pflichtenkatalog vor, der als ultima ratio schon aus sich heraus die Notwendigkeit eines Rückzug aus China oder zumindest bestimmten chinesischen Regionen begründen kann (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, zit. nach Nasse, RAW 1/22, S. 3-12 (S. 4 Fn 11)). Ab dem 1.1.2024 wird der Anwendungsbereich auf alle Unternehmen mit mehr als 1.000 Arbeitnehmer:innen erweitert.
Mit dem Ziel, Menschenrechtsverletzungen entlang der eigenen Lieferkette des Unternehmens aufzuspüren und nach Möglichkeit zu vermeiden, konkretisiert das LkSG die Sorgfaltspflichten des Unternehmens und (damit auch die Sorgfaltspflichten der Mitglieder des Leitungsorgans) hinsichtlich der Definition und Implementierung systemischer Prozesse zur Prüfung und aktiven Gegensteuerung gegen Menschenrechtsverletzungen. Der strukturelle Ansatz und zugleich Pflichtenkanon im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen ist den §§ 4-10 LkSG entnehmen: Basierend auf einer jährlich vorzunehmenden Risikoanalyse (§ 5 Abs. 1 LkSG) menschenrechtlicher und umweltbezogener Risiken im eigenen Geschäftsbereich sowie bei den unmittelbaren Zulieferern hat jedes Unternehmen ein wirksames Risikomanagement einzurichten (§ 4 Abs. 1 LkSG).
Nach der Legaldefinition des § 4 Abs. 2 LkSG sind solche Maßnahmen als wirksam anzusehen, die es ermöglichen, menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken zu erkennen und zu minimieren sowie Verletzungen menschenrechtsbezogener oder umweltbezogener Pflichten zu verhindern, zu beenden oder deren Ausmaß zu minimieren, wenn das Unternehmen diese Risiken oder Verletzungen innerhalb der Lieferkette verursacht oder dazu beigetragen hat.
Auf der Basis der verpflichtend vorzunehmenden Risikoanalyse statuieren die §§ 6 und 7 LkSG sodann konkrete Präventions- und Abhilfemaßnahmen, die das Unternehmen zu ergreifen hat. Dies umfasst unter anderem die Pflicht, sich von den Vertragspartnern in der Lieferkette die Einhaltung bestimmter menschenrechtlicher Standards zusichern zu lassen und dies regelmäßig zu kontrollieren.
Rückzug aus China als ultima ratio?
Im Einzelfall kann bereits die nach § 5 Abs. 1 LkSG vorgeschriebene Risikoanalyse aus menschenrechtsbezogenen Risikoerwägungen das mögliche Ergebnis eines Geopolitical Impact Scan vorwegnehmen und als ultima ratio den Rückzug aus dem chinesischen Markt nahelegen. Dieses aus der gesetzgeberischen Motivation des LkSG resultierende Szenario könnte in der Gesamtabwägung des Vorstandes flankiert werden von einer einzelfallbezogenen Erkenntnis, dass die gegenläufigen Compliance-Anforderungen der USA und der EU einerseits sowie Chinas andererseits nicht miteinander vereinbar sind. Insoweit wird die nach dem LkSG vorgegebene Risikoanalyse ein wichtiges Tool beim Decoupling-bezogenen Risikomapping sein.
Für deutsche Investoren in China besonders relevant ist die Tendenz Chinas, im Rahmen der Dual Circulation Policy seine eigenen (Staats-) Unternehmen gezielt zu stärken und ihnen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, sowohl auf dem Heimatmarkt als auch international. Ziele sind ein fortwährendes Wohlstandswachstum der chinesischen Bevölkerung sowie eine Stärkung des außenpolitischen Einflusses Pekings auf starke chinesische Unternehmen.
Die bisherige Entwicklung lässt einerseits vermuten, dass deutsche Investoren mit Produktionsstandorten in China nach und nach aus dem chinesischen Markt gedrängt werden sollen, während chinesische Anbieter ihren Platz einnehmen. Andererseits könnte das bereits im Juni 2021 in Kraft getretene Anti-Foreign-Sanctions-Law der chinesischen Staatsregierung im Einzelfall einen (Teil-)Rückzug aus China erschweren.
Der Ukraine-Krieg als Decoupling-Katalysator
Vor dem Hintergrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich China politisch zwischen Russland einerseits und den westlichen Staaten andererseits positioniert, was den Decoupling-Prozess noch zusätzlich beschleunigen könnte. Sollte China Russland stärker als bisher unterstützen, so würden die westlichen Staaten ihre Sanktionen möglicherweise auch auf China ausdehnen. Eine solche Eskalation könnte die geopolitische Blockbildung vorantreiben und die aktuelle Infrastruktur der Weltwirtschaft in Frage stellen.
Deutsche Unternehmen mit Interessen in China – von Lieferketten über Kooperationen und Joint Ventures bis hin zum Absatzmarkt – müssen sich in dieser Situation nicht nur strategisch neu aufstellen, sondern auch rechtlich die nötigen Weichen stellen und Exitstrategien erarbeiten.
Enthalten die bestehenden Verträge rechtswirksame force majeure-Klauseln, auf die sich das Unternehmen berufen kann? Können Verträge aus anderem Grund außerordentlich gekündigt werden? Drohen Schadensersatzforderungen? Welche Alternativen kommen in Betracht? Welcher Umgang mit den Mitarbeiter:innen vor Ort ist arbeitsrechtlich möglich und unter den Gesichtspunkten einer konzernweiten Personalverantwortung und der Unternehmensreputation geboten?
Fazit
Der Decoupling-Prozess birgt Herausforderungen und Risiken in einer sich grundlegend neu strukturierenden Welt. Bei den zu treffenden Entscheidungen gesteht die business judgment rule dem Vorstand im Rahmen der Sorgfaltspflichten eines ordentlichen Kaufmanns einen relativ weiten Ermessensspielraum zu. Doch sollten diesbezügliche Abwägungsprozesse strikt am Interesse der Gesellschaft ausgerichtet, auf hinreichender Informationsgrundlage und unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte geführt und nachvollziehbar dokumentiert werden.
Eine wichtige Orientierung für eine juristisch belastbare Herangehensweise bietet das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das in sich bereits als erster Meilenstein des deutschen Gesetzgebers in der Umsetzung der Decoupling-Politik anzusehen ist und sich gerade deshalb in vielerlei Hinsicht als (derzeit noch rare) Interpretationshilfe erweist. Insbesondere werden – bei aller Detailkritik an dem Gesetz - die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von Unternehmen und Vorständen im Zusammenhang mit dem Decoupling-Prozess konkretisiert.
Im Einzelfall kann sich ein Rückzug aus China (oder einzelner chinesischer Provinzen) als ultima ratio erweisen. Die im Zuge einer solchen Entscheidung zu klärenden rechtlichen Fragen ähneln den Herausforderungen, die viele deutsche Unternehmen derzeit im Zusammenhang mit ihrem rechtlich erforderlichen oder aus Reputationsgründen gebotenen Rückzug aus Russland zu lösen haben.
Dr. Dr. Boris Schilmar ist Partner und Head of International Business Legal bei KPMG Law. Er leitet zudem die Legal China Country Practice.
Entfremdung birgt rechtliche Risiken für Unternehmen: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49300 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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