Mobbing und sexuelle Belästigungen sind im Anwaltsberuf an der Tagesordnung – das zeigt eine Studie der International Bar Association auf. Für die Täter bleiben die Übergriffe in den meisten Fällen ohne Folgen.
Es dürfte der schwerste sexuelle Übergriff im deutschen Anwaltsmarkt der letzten Jahre gewesen sein: Auf einer Oktoberfestfeier im Jahr 2014 vergewaltigte ein Partner der Großkanzlei Linklaters eine studentische Mitarbeiterin im Wirtsgarten eines Szene-Restaurants. Er wurde inzwischen zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Die Straftat des Großkanzleipartners ist sicherlich ein Extrembeispiel für Fehlverhalten im Anwaltsberuf – aber zugleich einer der ganz wenigen Vorfälle, die überhaupt öffentlich bekannt werden. Wie weit verbreitet sexuelle Belästigungen und Mobbing im Alltag von Juristinnen und Juristen tatsächlich sind, deckt die am Mittwoch veröffentlichte Studie "Us Too?" der International Bar Association (IBA) auf. Das ernüchternde Fazit der Organisation: "Die Anwaltschaft hat ein Problem."
Ein Drittel der Juristinnen ist am Arbeitsplatz schon einmal sexuell belästigt worden, ebenso einer von 14 Männern. Jede zweite Frau und jeder dritte Mann wurden außerdem im Zusammenhang mit ihrem Beruf gemobbt. Noch bedrückender als die schiere Menge der Vorfälle: Die Mehrheit davon wird gar nicht erst bekannt gemacht. 57 Prozent der Mobbingfälle und drei Viertel der Fälle sexueller Belästigung werden nicht gemeldet - aus Angst vor dem Täter und weil die Betroffenen negative Folgen für sich selbst befürchten. Auch im Linklaters-Fall haben weder das Opfer noch die Kanzlei Anzeige erstattet, sondern ein Dritter.
Ein typisches Juristen-Problem?
Es sei nicht verwunderlich, dass Mobbing und sexuelle Belästigung in der Branche so weit verbreitet seien, schreiben die Studienautoren. Tatsächlich scheinen gewisse Strukturmerkmale die Wahrscheinlichkeit für ein solch negatives Arbeitsplatzverhaltens zu erhöhen: eine männerdominierte Führung, hierarchische Machstrukturen und die Tatsache, dass die Karriere der Mitarbeitenden weitgehend von ihren Vorgesetzten abhängt. "Diese Faktoren beschreiben viele, wenn nicht die meisten juristischen Arbeitsplätze", heißt es in der Studie.
IBA-Präsident Horacio Bernardes Neto will dies aber als Entschuldigung nicht gelten lassen: Sexuelle Belästigung sei in jedem Bereich unangemessen, aber sie sei besonders widerwärtig in der Anwaltschaft, sagt er. "Das Recht ist einer der wenigen Bereiche, der als Zugangsvoraussetzung und ständige Verpflichtung die höchsten ethischen Standards von seinen Praktikern verlangt."
Neto verweist darauf, dass es nicht zuletzt negative wirtschaftliche Folgen für die Arbeitgeber haben könnte, wenn sie nicht vehement gegen Mobbing und sexuelle Belästigung einschritten. Denn die Umfrage ergab auch, dass Betroffene ihren Arbeitsplatz und in einigen Fällen auch die Branche "in alarmierender Geschwindigkeit" verließen. Die Nachhaltigkeit des Berufsstandes hänge davon ab, dass sichere Arbeitsplätze für die nächste Generation von Anwälten geschaffen werden, so der IBA-Präsident.
Sexuelle Belästigung: Kaum Folgen für die Täter
Sexuelle Belästigung in den juristischen Berufen betrifft der IBA-Studie zufolge unverhältnismäßig oft - aber nicht ausschließlich - Frauen: 37 Prozent der weiblichen Umfrageteilnehmer sind schon einmal belästigt worden gegenüber rund sieben Prozent der Männer. Besonders oft sind junge Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren betroffen, die Täter sind meist ältere Kollegen und Vorgesetzte. Ausgesetzt sind die Betroffenen der Belästigung am Arbeitsplatz, aber auch bei Konferenzen oder auf Dienstreisen.
Die häufigsten Formen der Belästigung waren der Befragung zufolge sexistische Kommentare (68 Prozent) oder sexuelle Anspielungen (67 Prozent). Oft kam es auch zu unangemessenem Körperkontakt und sexuellen Angeboten. 22 Prozent der sexuell belästigten Umfrageteilnehmer waren gestreichelt, geküsst oder begrabscht worden, drei Prozent wurden sexuell missbraucht.
Meist ziehen die Betroffenen es vor, über die Vorfälle zu schweigen: Drei Viertel der Fälle wurden nicht gemeldet. Als Gründe nennen die Opfer den Status des Täters und dass sie negative Folgen für sich befürchten. Die Angst vor dem Täter nimmt dabei mit zunehmendem Alter ab, stellten die Studienautoren fest. Unter denjenigen, die einen Vorfall gemeldet hatten, hielten zwei Drittel die Reaktion ihres Arbeitgebers für unzureichend oder vernachlässigbar. In drei Vierteln der Fälle wurde der Täter nicht bestraft. Eine Intervention des Arbeitgebers hilft kaum, zeigt die Umfrage: In mehr als der Hälfte der Fälle berichteten die Betroffenen davon, dass die Situation entweder unverändert oder sogar schlechter als zuvor geworden war. Bei 21 Prozent jedoch stoppte oder milderte das Eingreifen die sexuelle Belästigung.
"Chronisches Mobbing-Problem"
Die Anwaltschaft hat ebenso ein chronisches Mobbing-Problem, so ein weiteres Fazit der Studie. Fast die Hälfte der Befragten ist im Laufe ihres Berufslebens schon einmal gemobbt worden. Dabei trifft es besonders häufig Frauen: Mehr als die Hälfte der befragten Juristinnen gab an, dass sie während ihrer Karriere mindestens einmal schikaniert wurden. Von den Männern hatte etwa ein Drittel Mobbing erlebt.
Junge Menschen werden deutlich öfter gemobbt als ihre älteren Kollegen. Die Täter sind in der Regel Vorgesetzte oder Kollegen mit Führungsverantwortung - Mobbing durch Mandanten oder Supportmitarbeiter kam dagegen äußerst selten vor. Am häufigsten wurden die Betroffenen verspottet oder auf eine andere Weise sprachlich erniedrigt. Ebenfalls üblich waren eine als zu stark wahrgenommene Kontrolle der Arbeitsleistung oder ständige, destruktive Kritik. Dass sie absichtlich zu viel, zu wenig oder ihrer Position nicht angemessene Aufgaben übertragen bekamen, berichteten 47 Prozent der Betroffenen.
So häufig Mobbing vorkommt – es wird nur selten publik gemacht. Und wenn, dann bleibt es für die Täter meist ohne Folgen: Nur elf Prozent der Betroffenen sagten, dass sie Mobbing immer dem Arbeitgeber, teils auch Aufsichtsbehörden oder der Polizei gemeldet hätten. Die Mehrheit jedoch sprach lieber nicht darüber. Nicht einmal zehn Prozent sagten, dass ihr Arbeitgeber gut oder ausgezeichnet mit einem gemeldeten Vorfall umgegangen ist. Sanktionen bleiben zudem meist aus: In drei Vierteln der Fälle wurde der Täter nicht bestraft. Zwei Drittel der Befragten sagten auch, dass die Situation nach dem Eingriff unverändert war oder sich sogar verschärft hatte.
Von Einzelfällen kann nicht die Rede sein
Anekdoten von Mobbing und sexueller Belästigung seien in den juristischen Berufen an der Tagesordnung, doch man habe sie stets als Einzelfälle abgetan, stellen die Autoren der Studie fest. Die Erhebung zeige nun, dass dem nicht so ist. Mobbing und sexuelle Belästigungen sind weit verbreitet, es wird nur kaum ernsthaft darüber gesprochen.
Nicht nur die schiere Zahl der Fälle von Mobbing und sexueller Belästigung ist bedrückend – Besorgnis müsste bei den Verantwortlichen in Kanzleien und Rechtsabteilungen vielmehr die Tatsache erregen, dass ihnen die allermeisten Vorfälle gar nicht erst bekannt werden.
IBA-Präsident Neto sieht bedeutende ethische und rechtliche Faktoren, die zum Handeln zwingen. Im Zuge der globalen #MeToo-Bewegung sei die Anwaltschaft regelmäßig aufgefordert worden, andere Sektoren in diesen Fragen zu beraten. Neto sagt, die Juristen seien hier nun dem "Risiko der Heuchelei" ausgesetzt, wenn sie nicht gegen die Missstände in ihrem eigenen Arbeitsumfeld vorgehen. Das Bekämpfen von Mobbing und sexueller Belästigung sei ein wichtiger Schritt zur langfristigen Sicherung des Berufsstandes.
Die Umfrage wurde im Jahr 2018 von der IBA gemeinsam mit dem Marktforschungsunternehmen Acritas durchgeführt. Nach Angaben der IBA handelt es sich um die bisher größte weltweite Umfrage über Mobbing und sexuelle Belästigung in der Branche: Fast 7.000 Personen aus 135 Ländern haben teilgenommen, darunter auch 155 aus Deutschland. Die Umfrageteilnehmer arbeiten in Anwaltskanzleien, Rechtsabteilungen, in Anwaltskammern, Behörden und in der Justiz.
IBA-Studie zu sexueller Belästigung und Mobbing: . In: Legal Tribune Online, 16.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35409 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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